Die Gesellschaft im Neoliberalismus

Der Niedergang der Würdetraditionen

Die durch die entfesselten Märkte entstandene Konkurrenz um die Arbeit – die bisweilen ebenso rüde ist wie diejenige der Unternehmen untereinander – führt „zu einem regelrechten Kampf aller gegen alle, der sämtliche Werte der Solidarität und Menschlichkeit zunichte macht (…).“[1] Die rationalen Unterwerfungstechniken, wie Bourdieu sie beschreibt, führen zu einer „Schwächung oder Beseitigung des kollektiven Zusammenhalts und kollektiver Solidaritäten (…).“[2]

Der schleichende Zersetzungsprozess solidarischer bzw. gesellschaftlicher Werte lässt sich auch aus einer anderen Perspektive beobachten. Franz Segbers spricht – wenn auch sicher überspitzt und plakativ – ganz unverhohlen von dem Niedergang zweier Bedeutender humanistischer Traditionen: der humanistischen Würdetradition des Christentums und der des Sozialismus.[3]

Seit dem Zerfall des „real existierenden Sozialismus“ 1989/90 konnte man in den Medien von dem Ende des „utopischen Zeitalters“[4] hören, vom Ende der Ideologien. Der neokonservative Politikwissenschaftler Francis Fukuyama trieb diese Einschätzung mit seinem viel beachteten Buch „Das Ende der Geschichte“ auf die Spitze.[5]

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat das westliche kapitalistische System seine Konkurrenz verloren. Damit scheint auch endgültig das Hemmnis gefallen zu sein, die Marktwirtschaft zu entsozialdemokratisieren. Die letzte Hürde für die neoliberale Globalisierung und ihrer Deutungshoheit war genommen. In Folge dessen brechen die Würdetraditionen, wie Segbers sie nennt, nicht nur zusammen, sie werden indirekt bekämpft. „Der Traum von Gerechtigkeit wird als mangelndes Realitätsbewusstsein diskreditiert.“[6]

Bereits 1985 konstatierte Habermas die „Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung der utopischen Energien.“[7] In einem Leitartikel von Robert Leicht, der 10 Jahre später in „Die Zeit“ erschienen war, konnte man anerkennend lesen, dass „sich die normative Kraft des Faktischen mit Macht in den Vordegrund drängt … Gegen die harte Wirklichkeit läßt sich keine Politik betreiben – es sei denn um den Preis geplatzter Illusionen.“[8] Hier trifft man wieder auf den bereits erwähnten ökonomischen Fatalismus. Dabei wird völlig übersehen, dass die alten Utopien lediglich durch eine Neue abgelöst wurde – der neoliberalen Utopie des Marktes. Diese teilt nicht minder die fatalsten Momente utopischen Denkens, die Enzensberger als „der projektive Größenwahn, der Anspruch auf Totalität, Endgültigkeit und Neuheit“[9] ausmacht.

Gemäß seiner Totalität macht die Utopie des Marktes soziale Gerechtigkeit in der Gestalt von sozialen Standarts oder eines Sozialstaats als Standortnachteil aus. Sie diffamiert seine Errungenschaften als Privilegien, kaschiert aber nur, „daß auf diesem Weg Gerechtigkeit als Orientierung wirtschaftlichen Handelns überhaupt beseitigt werden soll.“[10]

Durch die Verklärung des Individualismus, in der der Einzelne eine Vielzahl von Zielen verfolgen kann, ohne auf die Gruppe Rücksicht nehmen zu müssen, durch den Übergang von kollektiver zu individualistischer Moralität also, findet ein Prozess der Ausdifferenzierung Selbiger statt.[11] In der Diskussion um diese individualistische Marktgesellschaft aber, die sich durch staatliches Handeln nicht behindert, sondern bestärkt sehen möchte, „stehen die Traditionslinien, die auf Jerusalem und Athen zurückgehen, zur Disposition.“[12] Denn christlicher Glaube lebt aus einer Parteinahme für die Schwachen, sowie „Athen“ für eine republikanisch-demokratische Ordnung steht.

In einer 1993 erschienen Gegenwartsdiagnose bemerkte Habermas, dass diese „historisch prägenden Traditionen des Abendlandes“[13] nun dem Vergessen preisgegeben werden. Eine rein ökonomische, sozialdarwinistische Utopie, die sich keinem humanistischen Ziel verpflichtet weiß, beerbt eine Utopie, die die kulturelle Entwicklung Europas seit ihren Ursprüngen geprägt hat, wie Segbers konstatiert.

[1]Bourdieu: Prekarität ist überall, S.110.
[2]Bourdieu: Der Neoliberalismus, S.123.
[3]Segbers: Wider den Götzen Markt. Athen und Jerusalem im Erbe, S. 70.
[4] Fest, Joachim C.: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991.
[5]In seinem berühmt gewordenen Buch „Das Ende der Geschichte“ (1992) beschreibt Fukuyama den Verlauf der geschichtlichen Evolution als gesetzmäßige und teleologische Verkettung von Ereignissen. Die Geschichte ist keine zufällige Anhäufung von Umständen. Unter Bezugnahme auf eine moderne Variante der Hegel’schen Dialektik versucht Fukuyama zu erklären, dass das Ende des zweiten Weltkrieges und der Fall der Berliner Mauer (1989) zu einer Schlussphase der politischen Systementwicklung geführt haben. Totalitäre Systeme, wie z. B. der Kommunismus und der Faschismus, stellen keine politischen Alternativen mehr dar. Vielmehr ist der Weg frei für eine liberale Demokratie. Totalitäre Systeme sind zum Scheitern verurteilt, weil sie dem Grundgedanken des Liberalismus widersprechen.
[6]Segbers: Wider den Götzen Markt. Athen und Jerusalem im Erbe, S. 72.
[7]Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, S. 141.
[8]Leicht, Robert: Unter dem Diktat der Wirklichkeit, in: Die Zeit, Nr. 1, 29.12.1995.
[9]Siehe Enzensberger: Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie, S.69.
[10]Segbers: Wider den Götzen Markt. Athen und Jerusalem im Erbe, S. 73.
[11]Siehe Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 56.
[12]Ebd., S. 73.
[13]Habermas: Israel und Athen, S. 244.

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16 Kommentare zu "Die Gesellschaft im Neoliberalismus"

  1. “… schon von einem allmählichen Bruch des Gesellschaftsvertrages reden muss.” Aha – ein Rousseau- / Kant-Anhänger!

  2. Eric B. sagt:

    In Frankreich spricht man auch vom Übergang von der Marktwirtschaft in die Marktgesellschaft. Dies wird derzeit von Kanzlerin Merkel massiv vorangetrieben, wenn sie “marktkonforme Demokratie” fordert und die Märkte als Kettenhunde des deutschen Stabilitätspakts einsetzt. Aber es gibt Alternativen, wie Habermas und andere jüngst in einem europapolitischen Appell aufgezeigt haben. Sie wären sogar umsetzbar – wenn man nur wollte… http://lostineurope.posterous.com/alternativen-sind-machbar

  3. Karin Dorr sagt:

    Einfacher! Viel einfacher muss man die Menschen mitnehmen.
    Es muss einfach wieder mal jemand aufstehen und die Massen polarisieren. Den Frust und die daraus resultierende Gewalt kanalisieren und gegen die und das richten was den Menschen im Namen dieses Scheissmarktes kaputt macht.
    Frei nach dem Motto tötet was euch tötet

  4. Pistepirkko sagt:

    Fangen wir doch endlich einmal an zu verstehen das soziale System drauf beruhen das man an sie glaubt.
    Solange wir Wirtschaft wie eine Ersatzreligion betrachten die nur liberal läuft, solange hält das an.
    Und mein Prof. sagte immer: “BWL und VWL sind eigentlich soziale Wissenschaften”

    Fangen wir doch mal wieder mit dem Glauben an, dass aller Mehrwert die Summe UNSERES Handelns ist.
    Das Mehrwert von UNSEREN Händen und Köpfen gemacht wird und WIR daher am Mehrwert 100% beteiligt werden müssen. Der Kapitalgeber hat nur Geld gegeben, aber keine Hand eingesetzt. WIR haben unsere Hände und unsere Köpfe benutzt und UNS die Dinge und Leistungen erschaffen! Dafür UNSERE Zeit geopfert!
    Daher gehört UNS, der MEHRHEIT, auch der, sagen wir es wirtschaftlich, FRUCHTGENUSS!!!

    Fangen wir doch wieder an zu glauben das Wirtschaft nur deswegen erfunden wurde, damit ALLE MENSCHEN ein besseres Leben haben.

    ALLE müssen Zugang zu allem bekommen, wie es einmal war.
    Wir fingen nur deshalb mit der Wirtschaft an, damit alle von Landwirtschaft, Fischerei, Viehzucht und Handwerk profitierten. Daher wuchsen die ersten Städte der Steinzeit. Weil Menschen Zugang bekamen zu Reichtum und in diesen aufgenommen wurden und was dazu beitragen konnten.

    Heute werden Leute von den Grundlagen der Existenz ausgeschlossen anstatt diese daran patizipieren zu lassen.
    Und ja!!!! Auch den Lebensentwurf der Sozialhilfekarriere muss eine Gesellschaft die reich ist ertragen können. Schon gar wenn wir diese Leute nicht mehr, z.B. mit Bandarbeit in der Fabrik, beschäftigen können.
    Denn auch diese Realität haben WIR geschaffen mit “Geiz ist geil”, indem man UNS daran glauben lies.

    Wo sind die philosophischen Ansätze wie wir leben wollen?
    Wir reden nur über Wirtschaft und wie wir dieser eine Chance geben können.
    Wo ist eine Diskussion darüber wie WIR leben wollen. Was WIR erleben wollen und vor allem wie.

    Wir müssen wieder Lebensmöglichkeiten schaffen und nicht nur wirtschaftliche Möglichkeiten. WIR Menschen müssen auch leben und nicht nur malochen damit eine andere reicher werden.

    Nur, damit WIR darüber nicht mehr nachdenken hat man aus Proletariat das Prekariat erschaffen und spielt es gegen die Mittelschicht aus.
    Denn diese Leute werden sich nicht mehr organisieren weil sie zu dumm gehalten wurden. Man hat das Bildungsniveau runtergeschraubt damit die nicht auf Ideen des 19ten und 20ten Jahrhunderts kommen und am Ende noch eine wirkliche Linke, SPD oder Grüne gründen und für UNS wirklich kämpfen.
    Ein Schelm wer an den alten Mann aus Trier denkt?

    Ein Mann in einer Kneipe sagte mir mal: “Warum sollte ich mir den Arsch aufreissen, damit ein anderer Arsch nur noch mehr in den Arsch geblasen bekommt?”

    Nur zur Klarstellung: Das sind nicht meine Worte.

    Wettbewerb ist schlecht, denn er erzeugt Verlierer. Besser wir fangen wieder an daran zu glauben das ein miteinander nur Gewinner erzeugt!
Wir müssen leben und nicht kämpfen! Fangt mal an nachzudenken wem es nutzt wenn IHR nicht zusammensteht sonder euch gegenseitig in einem Wettbewerb zerfleischt!!!!!!
    Wir sind alle eins und nur durch die Gemeinschaft kann man sich als Individuum erst selbst erkennen.
    Schon wieder fällt mir der Alte aus Trier ein.

    • Neuro sagt:

      Moment mal, den Kommentar hab ich hier eben schon mal gelesen…
      war das nicht bei dem Artikel zu Ungarn unter Orban?

      ist so allgemein, dass er überall passt, was?

  5. Neuro sagt:

    Man sollte nicht vergessen, dass Foucault zuerst die westliche Vernunft selbst einer Kritik unterzog -Wahnsinn und Gesellschaft
    http://www.springerlink.com/content/m8402wgm6488206w/

    und dann die Justiz -Überwachen und Strafen
    http://www.freiereferate.de/erdkunde/michel-foucault-uberwachen-und-strafen-die-geburt-des-gefangnisses-zusammenfassung-und-interpretation

    Marx hat er m.Wissens auch abgelehnt -wo liegt also die Basis seiner Kritik?

    • hangoerdt sagt:

      Ich bin kein Experte, aber ich weiß, dass er zu einem gewissen grad Strukturalist war. Wenn ich das richig verstanden habe heißt das, dass dass er die Welt als Struktur betrachtet, deren Elemente durch extrem komplizierte und verwirrende Abhängigkeiten, Mechanismen und Wechselwirkungen in Verbindung stehen. Als Mensch da durchblicken zu wollen ist praktisch unmöglich, und von freiem Willen kann sowieso nicht die Rede sein. Focault hat sich selbst als Antihumanisten bezeichnet.

  6. ernte23 sagt:

    @Neuro: Bin kein Foucault-Experte und kann daher darauf nicht ausreichend antworten. Jedoch braucht man in meinen Augen nicht unbedingt auf Marx zurückzugreifen, um das bestehende neoliberale und damit wirtschaftsdominierte Gesellschaftsmodell zu kritisieren. Vor allem der apokalyptische bzw. prophetische Teil der marxschen Lehre ist zu optimistisch und hilft augenblicklich nicht viel.

    @Karin Dorr: Leider sind manche Zusammenhänge zu komplex, um sie mit Hilfe einiger einfacher Parolen niederschreiben zu können. Die Leute ohne die Unterstützung der Medien, die sie tagtäglich beschallen, „mitzunehmen”, halte ich ohnehin für äußerst schwierig. Besser ist es wohl, kleine Brötchen zu backen und sich zu fragen, was man tun kann, das über den Kauf von Fair-Trade-Produkten, ethischen Konsum, hinausgeht

  7. Don M. Tingly sagt:

    @ Karin Dorr, ernte 23:

    intellektuell ist der neoliberalismus ja inzwischen von vielen seiten decouvriert worden. seine grundannahmen sind im besten fall nur einfach falsch. im wahrscheinlicheren fall sind sie die pseudo-wissenschaftliche unterfütterung rein machtpolitischer interessen, denen die wirtschaftskrisen in den 1970ern willkommener anlass waren, den ungeliebten Keynesianismus endlich zu beerdigen.
    spätestens die derzeitige staatsschuldenkrise zeigt ja auch praktisch, in welch falsche richtung die marktliberale politik führt.

    trotzdem stellt sich doch mehr denn je die frage: was tun?

    “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.”

    selten lag der alte rauschebart richtiger.

    es gelingt einfach nicht, eine kritische masse von der falschheit neoliberaler dogmen zu überzeugen. die trümpfe liegen leider in der hand der mächtigen aus politik und wirtschaft, die vom geltenden system profitieren.
    dank unkritischer privater und politisch kontrollierter öffentlicher medien, liegt die wesentliche meinungsbildung in der hand marktradikaler kräfte.

    die staatshaushalte werden unter dem massiven einfluss der lobbygruppen in einer weise gestaltet, die eine schleichende umverteilung von unten nach oben erlaubt. gleichzeitig werden gezielt ressentiments der mittelschicht gegen die abgehängten der gesellschaft geschürt, um die eigentliche schuld der eliten zu verschleiern.

    realitätsflucht der mehrheit – aufgrund von überforderung – in sinnentleerten konsum bzw. debile unterhaltung tun ein übriges.

    mir ist leider nicht klar, wie man aus diesem kreis ausbrechen können soll. die menschen tanzen auf der Titanic und sie wollen nichts von eisbergen hören.

  8. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    Der Link: “Die Ökonomisierung des Denkens”
    in: “Gesellschaft im Neoliberalismus”
    ist “tot”.

    Bedauerlich – bzw. Abhilfe tut not.
    M.f.G.

  9. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    … wie auch alle anderen Links im genannten Beitrag.

    Tja.

  10. Klaus Stegemann sagt:

    An den geneigten Leser:

    Sorry, Korrektur:
    Über die Seitenauswahl (im Gegensatz den Links bzw. der Suchfunktion) ist der Text erreichbar.

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