Die Gesellschaft im Neoliberalismus

Die Ökonomisierung des Denkens

Die Entwicklungen hin zu einer postdemokratischen, vor allem durch ökonomische Eliten dominierten Gesellschaftsordnung werden verstärkt durch einen Prozess, den die neoliberalen Apologeten forcieren wollen: die Ökonomisierung des Denkens.

Wenn das ordoliberale, neoklassische Wirtschaftsprinzip funktionieren soll, dann reicht es nicht, lediglich eine liberale Wirtschaftsordnung zu gewährleisten, die innerhalb des Staates begrenzt ist. Vielmehr muss die Wirtschaft den maßgebenden Rahmen für den Staat und die Gesellschaft darstellen. Wenn der freie Markt funktionieren soll, bedarf es zum einem dem Staat als Gewährleister der wirtschaftlichen Ordnung, und zum anderen einer Gesellschaft, die die Prinzipien des Marktes verinnerlicht hat und gemäß dieser Prinzipien funktioniert. Nur dann kann der Markt seine selbstregulierenden Kräfte, seine „unsichtbare Hand“ entfalten.

Gemäß dieser Theorie bedient sich der Neoliberalismus auf sozialwissenschaftlicher Ebene dem Typ des Homo oeconomicus[1], den rein wirtschaftlich denkenden Menschen. Das Individuum ist demnach bei all seinen Entscheidungen und Handlungen auf den größten Kosten-Nutzen-Faktor fixiert, gemäß eines ökonomischen Utilitarismus. Mit anderen Worten: Grundlage für die ethische Bewertung einer Handlung ist das Nützlichkeitsprinzip. Gestrebt wird nach dem größten ökonomischen Nutzen, dem größten wirtschaftlichen Erfolg.

Das ganze soziale Denken wird auf den ökonomischen Faktor reduziert; Freiheit, Sozialverhalten und Verantwortung wird auf eine reine wirtschaftliche Perspektive zurückgeführt. Oder wie es Bourdieu formuliert: „man lässt ein größtmögliches Wachstum von Produktivität und Wettbewerb als letztes und einziges Ziel menschlichen Handelns gelten; oder glaubt, daß man sich den Kräften der Ökonomie nicht entziehen könne.“[2]

Franz Segbers betont, dass Gerechtigkeit in diesem Kontext zu einer Kostenfrage wird. „Rechnen sich Humanität und Gerechtigkeit? Das ist die Frage, die der Neoliberalismus stellt.“[3] Da man sich den Kräften der Ökonomie nicht entziehen kann, muss man sich ihnen unterwerfen. Der Homo oeconomicus „ist flexibel und anpassungsfähig und stellt sich auf jede neue Lage mit ihren besonderen Restriktionen ein.“[4] Er ist ein Opportunist.

Für Bourdieu hat die amerikanische Gesellschaft diese Entwicklung und Verallgemeinerung des kapitalistischen Geistes an ihre Grenzen getrieben, nämlich die zur Pflicht gewordene Mehrung des Besitzes. „Die kalkulierende Mentalität durchdringt das ganze Leben und ausnahmslos alle Bereiche; sie findet sich in allen Institutionen und im täglichen Geschäft.“[5]

Die politikwissenschaftliche Entsprechung dessen wäre die Rational-Choice-Theorie [6], die ebenfalls von der Grundlage des Homo Oeconomicus ausgeht und vom Neoliberalismus aufgegriffen wurde. Dieses ökonomisierte Denken – und das erinnert hier an die Kybernetik – soll nach den Neoliberalen dem Menschen indoktriniert werden. Das Modell des Homo Oeconomicus wird mittlerweile als grundlegendes Verhaltensmodell für die Sozialwissenschaften insgesamt propagiert. Die Tatsache, dass am ökonomischen Denken orientierte Wissenschaftler die Grenzen der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen überschritten haben und sich zunehmend mit Gegenständen befassen, die teilweise weit ausserhalb der traditionellen ökonomischen Theorie liegen, wird in diesem Kontext als institutionalistische Revolution bezeichnet.[7]

Die sozialtheoretische Tradition, die der Vision des Liberalismus zugrunde liegt, sieht die Institutionen sozialer Ordnung als Ergebnis der Handlungen rationaler und selbstinteressierter Individuen. Diese Theorietradion reicht zurück zu Thomas Hobbes, Bernard Mandeville und den Klassikern der „Schottischen Moralphilosophie“ David Hume, Adam Smith und Adam Ferguson. Diese Theorie wurde im vergangenen Jahrhundert weiterentwickelt und mündet in dem Versuch, ein Fundament für die gesamte sozialwissenschaftliche Theoriebildung zu begründen. Besonders Friedrich Hayek nimmt hier eine zentrale Rolle ein.

[1] Die sozialtheoretische Tradition, die der Vision des Liberalismus zugrunde liegt, sieht die Institutionen sozialer Ordnung als Ergebnis der Handlungen rationaler und selbstinteressierter Individuen. Diese Theorietradion reicht zurück zu Thomas Hobbes, Bernard Mandeville und den Klassikern der „Schottischen Moralphilosophie“ David Hume, Adam Smith und Adam Ferguson. Diese Theorie wurde im vergangenen Jahrhundert weiterentwickelt und mündet in dem Versuch, ein Fundament für die gesamte sozialwissenschaftliche Theoriebildung zu begründen. Besonders Friedrich Hayek nimmt hier eine zentrale Rolle ein. Siehe auch: Baurmann: Der Markt der Tugend, S. 129.
[2] Bourdieu: Der Mythos „Globalisierung“ und der europäische Sozialstaat, S. 51.
[3] Segbers: Wider den Götzen Markt. Athen und Jerusalem im Erbe, S. 73.
[4] Baurmann: Der Markt der Tugend, S. 130.
[5] Bourdieu: Die Durchsetzung des amerikanischen Modells und ihre Folgen, S. 150.
[6] Theorie der rationalen Entscheidung (engl. Rational choice theory) ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Ansätze einer Handlungstheorie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Generell schreiben diese Ansätze handelnden Subjekten (Akteuren) rationales Verhalten zu, wobei diese Subjekte aufgrund gewisser Präferenzen ein nutzenmaximierendes (z.B. kostenminimierendes) Verhalten zeigen.
[7] Siehe auch Baurmann: Der Markt der Tugend, S. 130: „Diese Expansion begründete u.a. eine „Neue Politische Ökonomie“, eine „Ökonomische Analyse des Rechts“, eine „Theorie der Eigentumsrechte“(…).“

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16 Kommentare zu "Die Gesellschaft im Neoliberalismus"

  1. “… schon von einem allmählichen Bruch des Gesellschaftsvertrages reden muss.” Aha – ein Rousseau- / Kant-Anhänger!

  2. Eric B. sagt:

    In Frankreich spricht man auch vom Übergang von der Marktwirtschaft in die Marktgesellschaft. Dies wird derzeit von Kanzlerin Merkel massiv vorangetrieben, wenn sie “marktkonforme Demokratie” fordert und die Märkte als Kettenhunde des deutschen Stabilitätspakts einsetzt. Aber es gibt Alternativen, wie Habermas und andere jüngst in einem europapolitischen Appell aufgezeigt haben. Sie wären sogar umsetzbar – wenn man nur wollte… http://lostineurope.posterous.com/alternativen-sind-machbar

  3. Karin Dorr sagt:

    Einfacher! Viel einfacher muss man die Menschen mitnehmen.
    Es muss einfach wieder mal jemand aufstehen und die Massen polarisieren. Den Frust und die daraus resultierende Gewalt kanalisieren und gegen die und das richten was den Menschen im Namen dieses Scheissmarktes kaputt macht.
    Frei nach dem Motto tötet was euch tötet

  4. Pistepirkko sagt:

    Fangen wir doch endlich einmal an zu verstehen das soziale System drauf beruhen das man an sie glaubt.
    Solange wir Wirtschaft wie eine Ersatzreligion betrachten die nur liberal läuft, solange hält das an.
    Und mein Prof. sagte immer: “BWL und VWL sind eigentlich soziale Wissenschaften”

    Fangen wir doch mal wieder mit dem Glauben an, dass aller Mehrwert die Summe UNSERES Handelns ist.
    Das Mehrwert von UNSEREN Händen und Köpfen gemacht wird und WIR daher am Mehrwert 100% beteiligt werden müssen. Der Kapitalgeber hat nur Geld gegeben, aber keine Hand eingesetzt. WIR haben unsere Hände und unsere Köpfe benutzt und UNS die Dinge und Leistungen erschaffen! Dafür UNSERE Zeit geopfert!
    Daher gehört UNS, der MEHRHEIT, auch der, sagen wir es wirtschaftlich, FRUCHTGENUSS!!!

    Fangen wir doch wieder an zu glauben das Wirtschaft nur deswegen erfunden wurde, damit ALLE MENSCHEN ein besseres Leben haben.

    ALLE müssen Zugang zu allem bekommen, wie es einmal war.
    Wir fingen nur deshalb mit der Wirtschaft an, damit alle von Landwirtschaft, Fischerei, Viehzucht und Handwerk profitierten. Daher wuchsen die ersten Städte der Steinzeit. Weil Menschen Zugang bekamen zu Reichtum und in diesen aufgenommen wurden und was dazu beitragen konnten.

    Heute werden Leute von den Grundlagen der Existenz ausgeschlossen anstatt diese daran patizipieren zu lassen.
    Und ja!!!! Auch den Lebensentwurf der Sozialhilfekarriere muss eine Gesellschaft die reich ist ertragen können. Schon gar wenn wir diese Leute nicht mehr, z.B. mit Bandarbeit in der Fabrik, beschäftigen können.
    Denn auch diese Realität haben WIR geschaffen mit “Geiz ist geil”, indem man UNS daran glauben lies.

    Wo sind die philosophischen Ansätze wie wir leben wollen?
    Wir reden nur über Wirtschaft und wie wir dieser eine Chance geben können.
    Wo ist eine Diskussion darüber wie WIR leben wollen. Was WIR erleben wollen und vor allem wie.

    Wir müssen wieder Lebensmöglichkeiten schaffen und nicht nur wirtschaftliche Möglichkeiten. WIR Menschen müssen auch leben und nicht nur malochen damit eine andere reicher werden.

    Nur, damit WIR darüber nicht mehr nachdenken hat man aus Proletariat das Prekariat erschaffen und spielt es gegen die Mittelschicht aus.
    Denn diese Leute werden sich nicht mehr organisieren weil sie zu dumm gehalten wurden. Man hat das Bildungsniveau runtergeschraubt damit die nicht auf Ideen des 19ten und 20ten Jahrhunderts kommen und am Ende noch eine wirkliche Linke, SPD oder Grüne gründen und für UNS wirklich kämpfen.
    Ein Schelm wer an den alten Mann aus Trier denkt?

    Ein Mann in einer Kneipe sagte mir mal: “Warum sollte ich mir den Arsch aufreissen, damit ein anderer Arsch nur noch mehr in den Arsch geblasen bekommt?”

    Nur zur Klarstellung: Das sind nicht meine Worte.

    Wettbewerb ist schlecht, denn er erzeugt Verlierer. Besser wir fangen wieder an daran zu glauben das ein miteinander nur Gewinner erzeugt!
Wir müssen leben und nicht kämpfen! Fangt mal an nachzudenken wem es nutzt wenn IHR nicht zusammensteht sonder euch gegenseitig in einem Wettbewerb zerfleischt!!!!!!
    Wir sind alle eins und nur durch die Gemeinschaft kann man sich als Individuum erst selbst erkennen.
    Schon wieder fällt mir der Alte aus Trier ein.

    • Neuro sagt:

      Moment mal, den Kommentar hab ich hier eben schon mal gelesen…
      war das nicht bei dem Artikel zu Ungarn unter Orban?

      ist so allgemein, dass er überall passt, was?

  5. Neuro sagt:

    Man sollte nicht vergessen, dass Foucault zuerst die westliche Vernunft selbst einer Kritik unterzog -Wahnsinn und Gesellschaft
    http://www.springerlink.com/content/m8402wgm6488206w/

    und dann die Justiz -Überwachen und Strafen
    http://www.freiereferate.de/erdkunde/michel-foucault-uberwachen-und-strafen-die-geburt-des-gefangnisses-zusammenfassung-und-interpretation

    Marx hat er m.Wissens auch abgelehnt -wo liegt also die Basis seiner Kritik?

    • hangoerdt sagt:

      Ich bin kein Experte, aber ich weiß, dass er zu einem gewissen grad Strukturalist war. Wenn ich das richig verstanden habe heißt das, dass dass er die Welt als Struktur betrachtet, deren Elemente durch extrem komplizierte und verwirrende Abhängigkeiten, Mechanismen und Wechselwirkungen in Verbindung stehen. Als Mensch da durchblicken zu wollen ist praktisch unmöglich, und von freiem Willen kann sowieso nicht die Rede sein. Focault hat sich selbst als Antihumanisten bezeichnet.

  6. ernte23 sagt:

    @Neuro: Bin kein Foucault-Experte und kann daher darauf nicht ausreichend antworten. Jedoch braucht man in meinen Augen nicht unbedingt auf Marx zurückzugreifen, um das bestehende neoliberale und damit wirtschaftsdominierte Gesellschaftsmodell zu kritisieren. Vor allem der apokalyptische bzw. prophetische Teil der marxschen Lehre ist zu optimistisch und hilft augenblicklich nicht viel.

    @Karin Dorr: Leider sind manche Zusammenhänge zu komplex, um sie mit Hilfe einiger einfacher Parolen niederschreiben zu können. Die Leute ohne die Unterstützung der Medien, die sie tagtäglich beschallen, „mitzunehmen”, halte ich ohnehin für äußerst schwierig. Besser ist es wohl, kleine Brötchen zu backen und sich zu fragen, was man tun kann, das über den Kauf von Fair-Trade-Produkten, ethischen Konsum, hinausgeht

  7. Don M. Tingly sagt:

    @ Karin Dorr, ernte 23:

    intellektuell ist der neoliberalismus ja inzwischen von vielen seiten decouvriert worden. seine grundannahmen sind im besten fall nur einfach falsch. im wahrscheinlicheren fall sind sie die pseudo-wissenschaftliche unterfütterung rein machtpolitischer interessen, denen die wirtschaftskrisen in den 1970ern willkommener anlass waren, den ungeliebten Keynesianismus endlich zu beerdigen.
    spätestens die derzeitige staatsschuldenkrise zeigt ja auch praktisch, in welch falsche richtung die marktliberale politik führt.

    trotzdem stellt sich doch mehr denn je die frage: was tun?

    “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.”

    selten lag der alte rauschebart richtiger.

    es gelingt einfach nicht, eine kritische masse von der falschheit neoliberaler dogmen zu überzeugen. die trümpfe liegen leider in der hand der mächtigen aus politik und wirtschaft, die vom geltenden system profitieren.
    dank unkritischer privater und politisch kontrollierter öffentlicher medien, liegt die wesentliche meinungsbildung in der hand marktradikaler kräfte.

    die staatshaushalte werden unter dem massiven einfluss der lobbygruppen in einer weise gestaltet, die eine schleichende umverteilung von unten nach oben erlaubt. gleichzeitig werden gezielt ressentiments der mittelschicht gegen die abgehängten der gesellschaft geschürt, um die eigentliche schuld der eliten zu verschleiern.

    realitätsflucht der mehrheit – aufgrund von überforderung – in sinnentleerten konsum bzw. debile unterhaltung tun ein übriges.

    mir ist leider nicht klar, wie man aus diesem kreis ausbrechen können soll. die menschen tanzen auf der Titanic und sie wollen nichts von eisbergen hören.

  8. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    Der Link: “Die Ökonomisierung des Denkens”
    in: “Gesellschaft im Neoliberalismus”
    ist “tot”.

    Bedauerlich – bzw. Abhilfe tut not.
    M.f.G.

  9. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    … wie auch alle anderen Links im genannten Beitrag.

    Tja.

  10. Klaus Stegemann sagt:

    An den geneigten Leser:

    Sorry, Korrektur:
    Über die Seitenauswahl (im Gegensatz den Links bzw. der Suchfunktion) ist der Text erreichbar.

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