Die Gesellschaft im Neoliberalismus

Die Diskreditierung des Egalitarismus

Wer Freiheit will, so das neoliberale Credo, muss auch soziale Ungleichheit wollen. Denn umgekehrt sind alle, die in irgendeinem Sinne soziale Gerechtigkeit anstreben, schon auf dem „Weg zur Knechtschaft“. Von sozialer Gerechtigkeit zu reden, ist daher nicht nur ein Irrtum, sondern einfach Unsinn. Somit ist die Akzeptanz, ja die Voraussetzung sozialer Ungerechtigkeit in der neoliberalen Lehre institutionalisiert.

In der neoliberalen Theorie kann eine Sozialpolitk der Wirtschaftspolitik nicht als Gegengewicht dienen, wenn sie gegenüber dieser nicht zerstörerisch sein will. Die Egalisierung, – die relative Egalisierung -, der Ausgleich im Zugang eines jeden Menschen zu den Konsumgütern kann somit in keinem Fall ein Ziel darstellen. Sie muss im Gegenteil die Ungleichheit spielen lassen.[1] Es ist unübersehbar, dass dieses Dogma längst begonnen hat, seine Wirkungsmächtigkeit auf die reale Wirtschafts- und Sozialpolitik auszustrahlen.

Colin Crouch spricht im Angesicht der Herrschaft des ökonomischen Sachzwanges, bzw. der wirtschaftlichen Akteure von einer Krise des egalitären, an politischer und ökonomischer Gleichheit ausgerichteten “Projektes”.[2] Der Siegesruf vom Ende der Geschichte fand nicht zufällig Anfang der 90er Jahre einen solchen Widerhall, „als das marxistisch inspirierte Aufbegehren der Studentenrevolte gegen die kapitalistische Moderne ihre sozialisierende Wirkung auf die nachfolgende Generation endgültig verloren hatte und mit dem Kollaps des Staatssozialismus (…) die real existierende Alternative zum westlichen Kapitalismus verschwunden war.“[3]

Dies führte bei weiten Teilen einer desillusionierten Linken zu einer zumeist als unausweichlich empfundenen Aussöhnung mit dem Status quo einer privatwirtschaftlich organisierten und den globalen Marktgesetzen gehorchenden Gesellschaft. Viele Protagonisten der 68er-Bewegung wechselten in das Lager der Neoliberalen. Auch vor der Sozialdemokratie machte dieser Wandel nicht halt und hat ihren offenkundigsten Ausdruck in der unter dem Schlagwort New Labour firmierenden Sehnsucht nach der „Neuen Mitte“ gefunden.[4]

Und gerade von der Sozialdemokratie ging ironischer Weise ein verschärfter Rückbau des Wohlfahrtstaates aus. „Selbst der moralische Zeigefinger, der früher auf die Armut zeigte, weist heute auf die Armen selbst. Die dem Martliberalismus erklärtermaßen funktional untergeordnete, nur dem Label nach noch sozialdemokratische Politik der “Neuen Mitte” ist zum bloßen Verschiebebahnhof einer millionenstarken, dauerhaften industriellen Reservearmee degeneriert.“[5]
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Diskursverschiebung zu beobachten. Die gesellschaftlichen, sozioökonomischen Defizite, die im wirtschafts- bzw. neoliberalen Konsens nicht mehr lösbar sind, werden den Betroffenen selbst zur Last gelegt. „Die Skandalisierung der Armut ist zur Skandalisierung der Armen mutiert.“[6]

In Bezug auf die soziale Ungleichheit verweist der Übergang zum Neoliberalismus analog eine weitere Neuerung auf. „Im Unterschied zum Fordismus, der (…) in den Metropolen Prozesse der (territorialen, sozialen usw.) Homogenisierung beinhaltete, scheint sich der Postfordismus durch die Selektivität der Inklusion – und damit auch zunehmend legitim(iert)e Prozesse der Exklusion (von Erwerbslosigkeit bis Staatsbürgerschaft) – auszuzeichnen. Dies beinhaltet (…) neue Formen sozialer Ausgrenzung, einschließlich eines auf mehreren Ebenen territorial definierten (bzw. abgestuften) Zugangs zu Wohlstand.“[7]

Die mal schleichende, mal beschleunigte Aushöhlung sozialstaatlicher Regulation bedeutet, dass die wachsenden sozio-ökonomischen Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen mit einer inneren sozialen Ausdifferenzierung der Gesellschaft korrespondiert. Die statistisch erfassbare, zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft wird also durch eine Polemik, die die sozial Schwachen diskreditiert, flankiert.

Im Vergleich zur fordistisch-keynesianistischen Gesellschaft hat sich „der (…) Diskurs des Mainstreams, den veränderten Bedingungen entsprechend, weiter entwickelt.“[8] Die Neoliberalisierung der europäischen Sozialdemokratie dient als Indiz für diese qualitative Veränderung: „Nunmehr sind selbst die systemimmanent ‘legitimen’ KritikerInnen kapitalseitig absorbiert und auf eine Verteidigung sozialer Ungleicheit eingeschwenkt. Selbst in Verteilungsfragen ist also der Platz der Kritik verwaist.“[9]

Für die Neoliberalen geht es gerade darum, ein Existenzminimum für jene zu sichern, die ihre Existenz nicht selber sichern können. „Es geht um die Grenzübertragung eines Maximums auf ein Minimum und keineswegs um die Erzielung eines Mittelwerts.“[10]

[1]Siehe Foucault: Die Geburt der Biopolitk, S. 202, 203.
[2]Crouch: Postdemokratie, S. 13.
[3]Scharenberg/Schmidke: Das Ende der Politk?, S. 13.
[4]Seit dem Godesberger Programm – in dem sich die SPD von seiner marxistischen Weltanschauung lossagte – war es das erklärte Ziel der Sozialdemokratie, innerhalb einer Martwirtschaft die bestehende sozioökonomische Ungleichheit der Gesellschaft zu nivellieren. Erst gegen Ende der 90er Jahre und mit dem Beginn der Ära Schröder und der Politik des „Dritten Weges“ wurde diese traditionelle Programmatik deutlich in Frage gestellt. Bei der Politk des „Dritten Weges“ geht es für die Sozialdemokratie um die Abkehr von früheren eigenen Positionen (in der Wirtschaftspolitik plakativ der Keynesianismus) und um die Aneignung neuer (früher konservativer) Positionen.
Tatsächlich war das Phänomen des Wandels der Sozialdemokratie hin zu einer neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht auf Deutschland beschränkt, sondern vollzog sich auch in anderen westeuropäischen Ländern.
In Großbritannien hatte Tony Blair schon 1997 dafür gesorgt, dass die Macht der Gewerkschaften nachhaltig begrenzt und der noch aus dem Jahre 1911 stammende Art. IV des Parteienstatuts (gemeinsamer Besitz der Produktionsmittel, Verstaatlichung der Schlüsselindustrien) getilgt wurde. Vgl.: Mayer/Meier-Walser: Der Kampf um die politische Mitte.
[5]Scharenberg/Schmidke: Das Ende der Politk?, S. 27.
[6]Ebd., S. 26.
[7]Ebd., S. 50.
[8]Ebd., S. 49.
[9]Ebd., S. 49.
[10]Foucault: Die Geburt der Biopolitik, S. 204.

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16 Kommentare zu "Die Gesellschaft im Neoliberalismus"

  1. “… schon von einem allmählichen Bruch des Gesellschaftsvertrages reden muss.” Aha – ein Rousseau- / Kant-Anhänger!

  2. Eric B. sagt:

    In Frankreich spricht man auch vom Übergang von der Marktwirtschaft in die Marktgesellschaft. Dies wird derzeit von Kanzlerin Merkel massiv vorangetrieben, wenn sie “marktkonforme Demokratie” fordert und die Märkte als Kettenhunde des deutschen Stabilitätspakts einsetzt. Aber es gibt Alternativen, wie Habermas und andere jüngst in einem europapolitischen Appell aufgezeigt haben. Sie wären sogar umsetzbar – wenn man nur wollte… http://lostineurope.posterous.com/alternativen-sind-machbar

  3. Karin Dorr sagt:

    Einfacher! Viel einfacher muss man die Menschen mitnehmen.
    Es muss einfach wieder mal jemand aufstehen und die Massen polarisieren. Den Frust und die daraus resultierende Gewalt kanalisieren und gegen die und das richten was den Menschen im Namen dieses Scheissmarktes kaputt macht.
    Frei nach dem Motto tötet was euch tötet

  4. Pistepirkko sagt:

    Fangen wir doch endlich einmal an zu verstehen das soziale System drauf beruhen das man an sie glaubt.
    Solange wir Wirtschaft wie eine Ersatzreligion betrachten die nur liberal läuft, solange hält das an.
    Und mein Prof. sagte immer: “BWL und VWL sind eigentlich soziale Wissenschaften”

    Fangen wir doch mal wieder mit dem Glauben an, dass aller Mehrwert die Summe UNSERES Handelns ist.
    Das Mehrwert von UNSEREN Händen und Köpfen gemacht wird und WIR daher am Mehrwert 100% beteiligt werden müssen. Der Kapitalgeber hat nur Geld gegeben, aber keine Hand eingesetzt. WIR haben unsere Hände und unsere Köpfe benutzt und UNS die Dinge und Leistungen erschaffen! Dafür UNSERE Zeit geopfert!
    Daher gehört UNS, der MEHRHEIT, auch der, sagen wir es wirtschaftlich, FRUCHTGENUSS!!!

    Fangen wir doch wieder an zu glauben das Wirtschaft nur deswegen erfunden wurde, damit ALLE MENSCHEN ein besseres Leben haben.

    ALLE müssen Zugang zu allem bekommen, wie es einmal war.
    Wir fingen nur deshalb mit der Wirtschaft an, damit alle von Landwirtschaft, Fischerei, Viehzucht und Handwerk profitierten. Daher wuchsen die ersten Städte der Steinzeit. Weil Menschen Zugang bekamen zu Reichtum und in diesen aufgenommen wurden und was dazu beitragen konnten.

    Heute werden Leute von den Grundlagen der Existenz ausgeschlossen anstatt diese daran patizipieren zu lassen.
    Und ja!!!! Auch den Lebensentwurf der Sozialhilfekarriere muss eine Gesellschaft die reich ist ertragen können. Schon gar wenn wir diese Leute nicht mehr, z.B. mit Bandarbeit in der Fabrik, beschäftigen können.
    Denn auch diese Realität haben WIR geschaffen mit “Geiz ist geil”, indem man UNS daran glauben lies.

    Wo sind die philosophischen Ansätze wie wir leben wollen?
    Wir reden nur über Wirtschaft und wie wir dieser eine Chance geben können.
    Wo ist eine Diskussion darüber wie WIR leben wollen. Was WIR erleben wollen und vor allem wie.

    Wir müssen wieder Lebensmöglichkeiten schaffen und nicht nur wirtschaftliche Möglichkeiten. WIR Menschen müssen auch leben und nicht nur malochen damit eine andere reicher werden.

    Nur, damit WIR darüber nicht mehr nachdenken hat man aus Proletariat das Prekariat erschaffen und spielt es gegen die Mittelschicht aus.
    Denn diese Leute werden sich nicht mehr organisieren weil sie zu dumm gehalten wurden. Man hat das Bildungsniveau runtergeschraubt damit die nicht auf Ideen des 19ten und 20ten Jahrhunderts kommen und am Ende noch eine wirkliche Linke, SPD oder Grüne gründen und für UNS wirklich kämpfen.
    Ein Schelm wer an den alten Mann aus Trier denkt?

    Ein Mann in einer Kneipe sagte mir mal: “Warum sollte ich mir den Arsch aufreissen, damit ein anderer Arsch nur noch mehr in den Arsch geblasen bekommt?”

    Nur zur Klarstellung: Das sind nicht meine Worte.

    Wettbewerb ist schlecht, denn er erzeugt Verlierer. Besser wir fangen wieder an daran zu glauben das ein miteinander nur Gewinner erzeugt!
Wir müssen leben und nicht kämpfen! Fangt mal an nachzudenken wem es nutzt wenn IHR nicht zusammensteht sonder euch gegenseitig in einem Wettbewerb zerfleischt!!!!!!
    Wir sind alle eins und nur durch die Gemeinschaft kann man sich als Individuum erst selbst erkennen.
    Schon wieder fällt mir der Alte aus Trier ein.

    • Neuro sagt:

      Moment mal, den Kommentar hab ich hier eben schon mal gelesen…
      war das nicht bei dem Artikel zu Ungarn unter Orban?

      ist so allgemein, dass er überall passt, was?

  5. Neuro sagt:

    Man sollte nicht vergessen, dass Foucault zuerst die westliche Vernunft selbst einer Kritik unterzog -Wahnsinn und Gesellschaft
    http://www.springerlink.com/content/m8402wgm6488206w/

    und dann die Justiz -Überwachen und Strafen
    http://www.freiereferate.de/erdkunde/michel-foucault-uberwachen-und-strafen-die-geburt-des-gefangnisses-zusammenfassung-und-interpretation

    Marx hat er m.Wissens auch abgelehnt -wo liegt also die Basis seiner Kritik?

    • hangoerdt sagt:

      Ich bin kein Experte, aber ich weiß, dass er zu einem gewissen grad Strukturalist war. Wenn ich das richig verstanden habe heißt das, dass dass er die Welt als Struktur betrachtet, deren Elemente durch extrem komplizierte und verwirrende Abhängigkeiten, Mechanismen und Wechselwirkungen in Verbindung stehen. Als Mensch da durchblicken zu wollen ist praktisch unmöglich, und von freiem Willen kann sowieso nicht die Rede sein. Focault hat sich selbst als Antihumanisten bezeichnet.

  6. ernte23 sagt:

    @Neuro: Bin kein Foucault-Experte und kann daher darauf nicht ausreichend antworten. Jedoch braucht man in meinen Augen nicht unbedingt auf Marx zurückzugreifen, um das bestehende neoliberale und damit wirtschaftsdominierte Gesellschaftsmodell zu kritisieren. Vor allem der apokalyptische bzw. prophetische Teil der marxschen Lehre ist zu optimistisch und hilft augenblicklich nicht viel.

    @Karin Dorr: Leider sind manche Zusammenhänge zu komplex, um sie mit Hilfe einiger einfacher Parolen niederschreiben zu können. Die Leute ohne die Unterstützung der Medien, die sie tagtäglich beschallen, „mitzunehmen”, halte ich ohnehin für äußerst schwierig. Besser ist es wohl, kleine Brötchen zu backen und sich zu fragen, was man tun kann, das über den Kauf von Fair-Trade-Produkten, ethischen Konsum, hinausgeht

  7. Don M. Tingly sagt:

    @ Karin Dorr, ernte 23:

    intellektuell ist der neoliberalismus ja inzwischen von vielen seiten decouvriert worden. seine grundannahmen sind im besten fall nur einfach falsch. im wahrscheinlicheren fall sind sie die pseudo-wissenschaftliche unterfütterung rein machtpolitischer interessen, denen die wirtschaftskrisen in den 1970ern willkommener anlass waren, den ungeliebten Keynesianismus endlich zu beerdigen.
    spätestens die derzeitige staatsschuldenkrise zeigt ja auch praktisch, in welch falsche richtung die marktliberale politik führt.

    trotzdem stellt sich doch mehr denn je die frage: was tun?

    “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.”

    selten lag der alte rauschebart richtiger.

    es gelingt einfach nicht, eine kritische masse von der falschheit neoliberaler dogmen zu überzeugen. die trümpfe liegen leider in der hand der mächtigen aus politik und wirtschaft, die vom geltenden system profitieren.
    dank unkritischer privater und politisch kontrollierter öffentlicher medien, liegt die wesentliche meinungsbildung in der hand marktradikaler kräfte.

    die staatshaushalte werden unter dem massiven einfluss der lobbygruppen in einer weise gestaltet, die eine schleichende umverteilung von unten nach oben erlaubt. gleichzeitig werden gezielt ressentiments der mittelschicht gegen die abgehängten der gesellschaft geschürt, um die eigentliche schuld der eliten zu verschleiern.

    realitätsflucht der mehrheit – aufgrund von überforderung – in sinnentleerten konsum bzw. debile unterhaltung tun ein übriges.

    mir ist leider nicht klar, wie man aus diesem kreis ausbrechen können soll. die menschen tanzen auf der Titanic und sie wollen nichts von eisbergen hören.

  8. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    Der Link: “Die Ökonomisierung des Denkens”
    in: “Gesellschaft im Neoliberalismus”
    ist “tot”.

    Bedauerlich – bzw. Abhilfe tut not.
    M.f.G.

  9. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    … wie auch alle anderen Links im genannten Beitrag.

    Tja.

  10. Klaus Stegemann sagt:

    An den geneigten Leser:

    Sorry, Korrektur:
    Über die Seitenauswahl (im Gegensatz den Links bzw. der Suchfunktion) ist der Text erreichbar.

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