Die Gesellschaft im Neoliberalismus

Der Markt als spontane Ordnung

Mit dem oben beschriebenen Ziel der marktförmigen Durchdringung der Gesellschaft macht der Neoliberalismus auch nicht vor den sozialen und rechtlichen Institutionen (u.a. der Krankenhäuser, des Gesundheitsystems, der Sozialsysteme, des Bildungssystems, des Nahverkehrs, der Energieversorgung, des öffentlichen Wohnungsbaus) halt, – vielmehr sind gerade diese das Ziel des ökonomischen Ansatzes.[1]

Auf der Basis des ökonomischen Ansatzes hat sich im Kontext der bereits angesprochenen institutionalistischen Revolution eine eigenständige Forschung und Theoriebildung entwickelt. Man untersucht, welche rechtlichen Institutionen oder Regelungen unter der Voraussetzung rationaler Nutzenmaximierung aller Beteiligten vorteilhaft und nützlich sind.[2] Die neue Grundfrage des ökonomischen Wissenschaftsprogrammes lautet zudem: „Wie können die Institutionen sozialer Ordnung auf die individuellen Handlungen nutzenmaximierender Akteure zurückgeführt werden?“[3]

Zur Beantwortung dieser Frage wird ein Marktmodell evolutionärer und spontaner Ordnungsentstehung verwendet.[4] Dieses Marktmodell geht auf Hayek zurück [5], der zunächst unter zwei Arten von Ordnungen unterscheidet: „zum einem „konstruierte“, d.h. bewusst gestaltete Ordnungen mit konkreten Zwecken und Zielen, (…) und dafür eine übergeordnete Autorität benötigen; zum anderen „spontane“ Ordnungen, die nicht zielgerichtet entstehen, sondern sich aus einer Summe individueller Handlungen heraus bilden(…).“[6] Konstruierte Ordnungen hält Hayek für ein Merkmal einfacher und deshalb übersichtlicher Lebensformen, spontane Ordnungen dagegen für das Gestaltungsprinzip komplexer entwickelter Gesellschaften. Auf der Basis dieser Unterscheidung hat er eine erkenntnistheoretisch geleitete Evolutionslehre zur Verteidigung freier Märkte entworfen.

Hayeks Ausgangspunkt bildet die These – und damit positioniert er sich in frontaler Gegnerschaft zur Theorie der Aufklärung – „dass die Befähigung des Menschen zu intellektueller Einsicht in die ihn umgebende natürliche und soziale Umwelt und einem darauf abgeleiteten vernunftgeleiteten Handeln begrenzt ist.“[7] Kurzum: Hayeks auch von den Nachfahren der Freiburger Schule geteilte Kernthese lautet, dass die „konkrete Utopie“ einer besseren oder anderen Welt weder wünschenswert noch aufgrund anthropologischer Bedingtheiten machbar sei.[8]

Die Begrenzung des menschlichen Wissens und seiner Vernunft hat für Hayek zwei Ursachen: Zum Einem sei der Mensch nicht in der Lage, eine komplexe soziale Ordnung zu entwerfen und zu gestalten. „Die ganze Vorstellung, daß der Mensch bereits mit einem Verstand ausgestattet ist, der fähig ist, sich eine Zivilisation auszudenken, und sich daran gemacht hat, diese zu schaffen, ist grundlegend falsch.“[9] Zum Anderem sieht Hayek eine wesentliche Begrenzung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit darin begründet, dass das innerhalb einer Gesellschaft vorhandene Wissen auf eine Vielzahl von Menschen verstreut ist. Für ihn gibt es kein gesellschaftliches Wissen, keine Form der gemeinschaftlichen Wissensproduktion, sondern Wissen existiert nur als das Wissen von einzelnen.

Dass die Wissenschaft in der Lage sei, für eine Verallgemeinerung des Wissens zu sorgen, damit alle Mitglieder der Gesellschaft von diesem Wissen der Einzelnen profitieren können, bestreitet er.[10] Die Lösung dieses Problems liegt für Hayek – und damit sind wir wieder zum ökonomischen Ansatz der Institutionenanalyse zurückgekehrt – in der Institution des Marktes. „Indem der Markt über den Wettbewerb einen Such- und Experementierprozess anstößt, führt er die auf die einzelnen Subjekte verteilten Wissensfragmente zusammen und produziert so eine „spontane Ordnung“(…).“[11]

Aus Hayeks Perspektive hat sich die moderne Gesellschaft nicht bewusst für die Marktwirtschaft entschieden, sondern hat sie einer geschichtlichen Eigendynamik zu verdanken. Die Marktwirtschaft ist das Ergebnis eines Prozesses der kulturellen Evolution. Hiermit hat das Argument des ökonomischen Sachzwanges seine theoretisch-wissenschaftliche Unterstützung bekommen. Es ist das theoretische Fundament der TINA-Formel („There is no Alternative“).[12]

Literatur

[1] Als kleinster gemeinsamer Nenner kann gelten, dass eine Institution ein Regelsystem ist, das eine bestimmte soziale Ordnung hervorruft. Die Tendenz, diese Regelsysteme nun verstärkt aus ökonomischer Perspektive zu sehen und zu definieren, lässt die Privatisierung sozialer Infrastrukturen, bzw. der öffentlichen Daseinsvorsorge auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive erfassen.
[2]Siehe Baurmann: Der Markt der Tugend, S. 133.
[3]Baurmann: Der Markt der Tugend, S. 135. 4Baurmann: Der Markt der Tugend, S. 135.
[5] Für Hayek ist der Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren, ein nicht im voraus bestimmbarer Prozess, dessen Ergebnisse zwangsläufig offen sein müssen, wenn er seine Dynamik entfalten soll. Hayek sieht im Wettbewerb selbst ein Ordnungsprinzip der Gesellschaft. Siehe Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 43.
[6] Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 43.
[7] Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 43.
[8] Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 44.
[9] Hayek, Friedrich August von: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, S.31, zitiert aus: Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 44.
[10] Siehe Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 45.
[11] Ebd., S. 45.
[12] Der Ausspruch „There is no Alternative“ stammt von Margaret Thatcher, die als britische Premierministerin seit Ende der 1970er-Jahre die „neoliberale Gegenrevolution“ (Milton Friedman) in die Praxis überführte.

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16 Kommentare zu "Die Gesellschaft im Neoliberalismus"

  1. “… schon von einem allmählichen Bruch des Gesellschaftsvertrages reden muss.” Aha – ein Rousseau- / Kant-Anhänger!

  2. Eric B. sagt:

    In Frankreich spricht man auch vom Übergang von der Marktwirtschaft in die Marktgesellschaft. Dies wird derzeit von Kanzlerin Merkel massiv vorangetrieben, wenn sie “marktkonforme Demokratie” fordert und die Märkte als Kettenhunde des deutschen Stabilitätspakts einsetzt. Aber es gibt Alternativen, wie Habermas und andere jüngst in einem europapolitischen Appell aufgezeigt haben. Sie wären sogar umsetzbar – wenn man nur wollte… http://lostineurope.posterous.com/alternativen-sind-machbar

  3. Karin Dorr sagt:

    Einfacher! Viel einfacher muss man die Menschen mitnehmen.
    Es muss einfach wieder mal jemand aufstehen und die Massen polarisieren. Den Frust und die daraus resultierende Gewalt kanalisieren und gegen die und das richten was den Menschen im Namen dieses Scheissmarktes kaputt macht.
    Frei nach dem Motto tötet was euch tötet

  4. Pistepirkko sagt:

    Fangen wir doch endlich einmal an zu verstehen das soziale System drauf beruhen das man an sie glaubt.
    Solange wir Wirtschaft wie eine Ersatzreligion betrachten die nur liberal läuft, solange hält das an.
    Und mein Prof. sagte immer: “BWL und VWL sind eigentlich soziale Wissenschaften”

    Fangen wir doch mal wieder mit dem Glauben an, dass aller Mehrwert die Summe UNSERES Handelns ist.
    Das Mehrwert von UNSEREN Händen und Köpfen gemacht wird und WIR daher am Mehrwert 100% beteiligt werden müssen. Der Kapitalgeber hat nur Geld gegeben, aber keine Hand eingesetzt. WIR haben unsere Hände und unsere Köpfe benutzt und UNS die Dinge und Leistungen erschaffen! Dafür UNSERE Zeit geopfert!
    Daher gehört UNS, der MEHRHEIT, auch der, sagen wir es wirtschaftlich, FRUCHTGENUSS!!!

    Fangen wir doch wieder an zu glauben das Wirtschaft nur deswegen erfunden wurde, damit ALLE MENSCHEN ein besseres Leben haben.

    ALLE müssen Zugang zu allem bekommen, wie es einmal war.
    Wir fingen nur deshalb mit der Wirtschaft an, damit alle von Landwirtschaft, Fischerei, Viehzucht und Handwerk profitierten. Daher wuchsen die ersten Städte der Steinzeit. Weil Menschen Zugang bekamen zu Reichtum und in diesen aufgenommen wurden und was dazu beitragen konnten.

    Heute werden Leute von den Grundlagen der Existenz ausgeschlossen anstatt diese daran patizipieren zu lassen.
    Und ja!!!! Auch den Lebensentwurf der Sozialhilfekarriere muss eine Gesellschaft die reich ist ertragen können. Schon gar wenn wir diese Leute nicht mehr, z.B. mit Bandarbeit in der Fabrik, beschäftigen können.
    Denn auch diese Realität haben WIR geschaffen mit “Geiz ist geil”, indem man UNS daran glauben lies.

    Wo sind die philosophischen Ansätze wie wir leben wollen?
    Wir reden nur über Wirtschaft und wie wir dieser eine Chance geben können.
    Wo ist eine Diskussion darüber wie WIR leben wollen. Was WIR erleben wollen und vor allem wie.

    Wir müssen wieder Lebensmöglichkeiten schaffen und nicht nur wirtschaftliche Möglichkeiten. WIR Menschen müssen auch leben und nicht nur malochen damit eine andere reicher werden.

    Nur, damit WIR darüber nicht mehr nachdenken hat man aus Proletariat das Prekariat erschaffen und spielt es gegen die Mittelschicht aus.
    Denn diese Leute werden sich nicht mehr organisieren weil sie zu dumm gehalten wurden. Man hat das Bildungsniveau runtergeschraubt damit die nicht auf Ideen des 19ten und 20ten Jahrhunderts kommen und am Ende noch eine wirkliche Linke, SPD oder Grüne gründen und für UNS wirklich kämpfen.
    Ein Schelm wer an den alten Mann aus Trier denkt?

    Ein Mann in einer Kneipe sagte mir mal: “Warum sollte ich mir den Arsch aufreissen, damit ein anderer Arsch nur noch mehr in den Arsch geblasen bekommt?”

    Nur zur Klarstellung: Das sind nicht meine Worte.

    Wettbewerb ist schlecht, denn er erzeugt Verlierer. Besser wir fangen wieder an daran zu glauben das ein miteinander nur Gewinner erzeugt!
Wir müssen leben und nicht kämpfen! Fangt mal an nachzudenken wem es nutzt wenn IHR nicht zusammensteht sonder euch gegenseitig in einem Wettbewerb zerfleischt!!!!!!
    Wir sind alle eins und nur durch die Gemeinschaft kann man sich als Individuum erst selbst erkennen.
    Schon wieder fällt mir der Alte aus Trier ein.

    • Neuro sagt:

      Moment mal, den Kommentar hab ich hier eben schon mal gelesen…
      war das nicht bei dem Artikel zu Ungarn unter Orban?

      ist so allgemein, dass er überall passt, was?

  5. Neuro sagt:

    Man sollte nicht vergessen, dass Foucault zuerst die westliche Vernunft selbst einer Kritik unterzog -Wahnsinn und Gesellschaft
    http://www.springerlink.com/content/m8402wgm6488206w/

    und dann die Justiz -Überwachen und Strafen
    http://www.freiereferate.de/erdkunde/michel-foucault-uberwachen-und-strafen-die-geburt-des-gefangnisses-zusammenfassung-und-interpretation

    Marx hat er m.Wissens auch abgelehnt -wo liegt also die Basis seiner Kritik?

    • hangoerdt sagt:

      Ich bin kein Experte, aber ich weiß, dass er zu einem gewissen grad Strukturalist war. Wenn ich das richig verstanden habe heißt das, dass dass er die Welt als Struktur betrachtet, deren Elemente durch extrem komplizierte und verwirrende Abhängigkeiten, Mechanismen und Wechselwirkungen in Verbindung stehen. Als Mensch da durchblicken zu wollen ist praktisch unmöglich, und von freiem Willen kann sowieso nicht die Rede sein. Focault hat sich selbst als Antihumanisten bezeichnet.

  6. ernte23 sagt:

    @Neuro: Bin kein Foucault-Experte und kann daher darauf nicht ausreichend antworten. Jedoch braucht man in meinen Augen nicht unbedingt auf Marx zurückzugreifen, um das bestehende neoliberale und damit wirtschaftsdominierte Gesellschaftsmodell zu kritisieren. Vor allem der apokalyptische bzw. prophetische Teil der marxschen Lehre ist zu optimistisch und hilft augenblicklich nicht viel.

    @Karin Dorr: Leider sind manche Zusammenhänge zu komplex, um sie mit Hilfe einiger einfacher Parolen niederschreiben zu können. Die Leute ohne die Unterstützung der Medien, die sie tagtäglich beschallen, „mitzunehmen”, halte ich ohnehin für äußerst schwierig. Besser ist es wohl, kleine Brötchen zu backen und sich zu fragen, was man tun kann, das über den Kauf von Fair-Trade-Produkten, ethischen Konsum, hinausgeht

  7. Don M. Tingly sagt:

    @ Karin Dorr, ernte 23:

    intellektuell ist der neoliberalismus ja inzwischen von vielen seiten decouvriert worden. seine grundannahmen sind im besten fall nur einfach falsch. im wahrscheinlicheren fall sind sie die pseudo-wissenschaftliche unterfütterung rein machtpolitischer interessen, denen die wirtschaftskrisen in den 1970ern willkommener anlass waren, den ungeliebten Keynesianismus endlich zu beerdigen.
    spätestens die derzeitige staatsschuldenkrise zeigt ja auch praktisch, in welch falsche richtung die marktliberale politik führt.

    trotzdem stellt sich doch mehr denn je die frage: was tun?

    “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.”

    selten lag der alte rauschebart richtiger.

    es gelingt einfach nicht, eine kritische masse von der falschheit neoliberaler dogmen zu überzeugen. die trümpfe liegen leider in der hand der mächtigen aus politik und wirtschaft, die vom geltenden system profitieren.
    dank unkritischer privater und politisch kontrollierter öffentlicher medien, liegt die wesentliche meinungsbildung in der hand marktradikaler kräfte.

    die staatshaushalte werden unter dem massiven einfluss der lobbygruppen in einer weise gestaltet, die eine schleichende umverteilung von unten nach oben erlaubt. gleichzeitig werden gezielt ressentiments der mittelschicht gegen die abgehängten der gesellschaft geschürt, um die eigentliche schuld der eliten zu verschleiern.

    realitätsflucht der mehrheit – aufgrund von überforderung – in sinnentleerten konsum bzw. debile unterhaltung tun ein übriges.

    mir ist leider nicht klar, wie man aus diesem kreis ausbrechen können soll. die menschen tanzen auf der Titanic und sie wollen nichts von eisbergen hören.

  8. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    Der Link: “Die Ökonomisierung des Denkens”
    in: “Gesellschaft im Neoliberalismus”
    ist “tot”.

    Bedauerlich – bzw. Abhilfe tut not.
    M.f.G.

  9. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    … wie auch alle anderen Links im genannten Beitrag.

    Tja.

  10. Klaus Stegemann sagt:

    An den geneigten Leser:

    Sorry, Korrektur:
    Über die Seitenauswahl (im Gegensatz den Links bzw. der Suchfunktion) ist der Text erreichbar.

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