Aufstieg des Neoliberalismus
Blaupause für die Agenda 2010

Die seit der Ölpreiskrise stattfindende konservative „Tendenzwende“ im Meinungsklima und in den Wirtschaftswissenschaften hatte auch Auswirkungen auf die deutsche Parteienlandschaft. Am deutlichsten sollte der neue „Zeitgeist“ in der FDP zum Ausdruck kommen.

Bundesarchiv / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA

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Von Sebastian Müller

Der renommierte Politologe und Publizist Kurt Sontheimer beschrieb einst den Klimawechsel  der 1970er-Jahre äußerst anschaulich in vier miteinander zusammenhängenden Etappen. Die erste Etappe habe durch die Studentenrevolte den Prozess “der Erschütterung gewohnter Normalitäten” eingeleitet, die wiederum einen “Prozeß der Ernüchterung und des Rückzugs von utopischen Erwartungen” in Gang setzte. Die zweite Etappe sei durch den Versuch der sozialliberalen Koalition gekennzeichnet, die Bundesrepublik durch die inneren Reformen “für die sozialen und politischen Aufgaben der Zukunft tüchtig zu machen.” Dieser Abschnitt, der in die Jahre von 1969 bis etwa 1973 fällt, sei von einer dritten Etappe überlagert, in der die Zukunft der Industriegesellschaft durch den ersten Bericht des Club of Rome und die Ölpreiskrise von 1973 bedroht schien, die zu einer neuen Bürgerbewegung im “Gewande der Kassandra” führte.

Die vierte, aus politökonomischer Perspektive wichtigste Etappe, sei etwa von 1975 bis 1980 anzusetzen. Für Sontheimer war diese “durch zwei einander entgegengesetzte geistig-politische Tendenzen geprägt.” Als Antwort auf die “ideologischen und politischen (…) Übersteigerungen der Studentenrevolte und auf gewisse Auswüchse der Reformpolitik (…) formierte sich eine intellektuelle Gegenbewegung aus Konservativen und Liberalen, die eine geistige und letztendlich auch politische Tendenzwende in Gang setzen wollten.”[1]

Die Globalsteuerung ist “out”

Auch die sozialliberale, keynesianische geprägte Konjunkturpolitik wurde im Zuge dieser “vierten Etappe” ins Kreuzfeuer der Kritik genommen. Aus der Debatte um die zukünftige wirtschaftspolitische Ausrichtung der Bundesregierung kristallisierten sich drei mögliche Grundpositionen heraus: Die Beibehaltung, die Erweiterung oder die Reduzierung des mit der Globalsteuerung gesetzten staatlichen Steuerungsanspruchs.[2]

Deutlich lässt sich diese Auseinandersetzung an den sozial- und wirtschaftspolitischen Ausrichtungen in den Parteien, und im Speziellen innerhalb der FDP skizzieren. Denn sie machte seit 1973 den vielleicht konsequentesten Schritt hin zu einer “neoliberalen”, sprich angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und wandte sich damit eindeutig der Letztgenannten der drei Grundpositionen zu: Politikversagen wurde von den Liberalen plötzlich als zentraler Krisenherd ausgemacht. Als Konsequenz sollte eine Entstaatlichung im Sinne einer Reduzierung der staatlichen Maßnahmen und eine Gewichtsverlagerung von einer keynesianischen Fiskal- zur einer Geldpolitik Friedmans angestrebt werden.[3]

Dabei hatte sich die FDP noch während der Ära Brandt mit den sogenannten “Freiburger Thesen” weit von den klassisch liberalen Prinzipien der Begrenzung staatlicher Aufgaben entfernt und sich voll und ganz zum sozialliberalen Kurs bekannt.[4] Damit brach sie mit der langen und vorherrschenden nationalliberalen Geschichte und ihrer ausschließlich ökonomischen Orientierung. Die Vordenker der “Freiburger Thesen”, benannt nach dem 22. Bundesparteitag 1971 in Freiburg, waren Querdenker wie Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer. In seiner bemerkenswerten Streitschrift “Noch eine Chance für die Liberalen” schrieb Flach:

“Die Auffassung, daß Liberalismus und Privateigentum an den Produktionsmitteln in jedem Fall identisch seien, gehört zu den Grundirrtümern der jüngsten Geschichte.”[5]

Der sozialliberale Kurs der FDP sollte sich aber bereits mit der Bundestagswahl 1972 relativieren. Als Gegengewicht zu Helmut Schmidt, der zu dieser Zeit noch Finanzminister war, konnten die Liberalen als Wirtschaftsminister Hans Friderichs etablieren. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des neuen Wirtschaftsministers, der dem rechten Parteiflügel angehörte, hatten freilich mit denen des Freiburger Parteitages wenig zu tun. Mit ihm begann nicht nur die allmähliche Wende vom Keyensianismus zur Angebotspolitik im Wirtschaftsministerium, sondern auch eine Auseinandersetzung zwischen Friderichs und der Parteiführung auf der einen Seite, und “dem sozialliberalen Flügel, der den Geist von Freiburg wiederbeleben wollte, auf der anderen Seite.”[6]

Dass die Zeichen auf eine konservative Wende deuteten, offenbarte spätestens die Aussage von Otto Graf von Lambsdorff, dass eine Koalition mit der CDU “auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik nicht ausgeschlossen [wäre].”[7]
Nach der Bundestagswahl 1976 brach der Streit zwischen Friderichs und dem linken Flügel der FDP offen aus. Friderichs neuer Entwurf für das Wirtschaftsprogramm der FDP, das er 1977 vorstellte, konkurrierte mit einem Programm, das eine durch Parteilinke dominierte Parteikommission unter dem Vorsitz von Gerhard Baum ausgearbeitet hatte.

“Zutiefst autoritär”

Noch stieß Friderichs Entwurf auch parteiintern auch erheblichen Widerstand. Die sozialliberal eingestellte Ingrid Matthäus-Meier, die die FDP aufgrund des endgültigen Kurswechsels 1982 wie viele andere Parteilinke verlassen sollte, kritisierte den Entwurf scharf:

“Von den Nöten der Menschen ist im ganzen Papier nicht die Rede, nur von Marktwirtschaft. Das Festhalten an überholten Argumenten wird zum Dogma erhoben.”[8]

Um was für elementare Richtungsentscheidungen es damals tatsächlich ging, dokumentierte der Kampf um die Wörter. Im Gegensatz zu Friderichs, dem vorgeworfen wurde, im Sinne angebotsorientierter Schwerpunkte die Beschäftigungspolitik nicht behandelt zu haben, forderte die Kommission in Anlehnung an das “Freiburger Programm” Formulierungen wie “Vollbeschäftigung” sowie “Reform des Kapitalismus” und vertrat weiterhin eine positive Sicht auf das Konzept der Globalsteuerung.[9]

Ohne Frage war Friderichs‘ Entwurf von klassisch neoliberalen Positionen durchsetzt. So lehnte er beispielsweise die Forderung nach staatlichen Eingriffen in Angebot und Nachfrage als “zutiefst autoritär” ab11, und ging auf Konfrontationskurs mit der wirtschaftspolitischen Ausrichtung des Koalitionspartners. Somit stellte der Streit eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft dar. Das Friderichs Manifest für den Markt rückte die FDP in eine deutliche Nähe zur Union, wohingegen das Papier der Kommission auf die Stärkung der Gemeinsamkeiten mit der SPD auch in der Wirtschaftspolitik setzte.[10]

Abgesang auf die öffentliche Hand

Lambsdorff, zu diesem Zeitpunkt noch wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, kritisierte genauso wie der angeschlagene Friderichs das “Staatsvertrauen” der Perspektiv-Kommission und sprach sich für den Grundsatz “Im Zweifel für den Markt” aus.[11] Der Parteilinken war der Prozess über die Programmausgestaltung aus den Händen geglitten. Seit 1974 sollten die neuen Töne der wissenschaftlichen Berater aufgegriffen werden:

“Dies machte insbesondere die Arbeit des ‘Bundesfachausschusses für Wirtschaft’ deutlich, der sich traditionell den Unternehmen verbunden fühlte (…). Die Beschlüsse des Ausschusses hoben ganz klar die Bedeutung von privaten Investitionen hervor (…) und wandten sich besonders intensiv den öffentlichen Unternehmen zu. Langfristig strebten sie (…) die Privatisierungen nicht nur von Bundesbeteiligungen, sondern auch von kommunalen Unternehmen an.”[12]

Die Ergebnisse waren auch einer Antwort auf die von der SPD-Linken propagierte staatliche Investitionslenkung. Eine wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand wurde nun “aus dem Gesichtspunkt der Effizienz und des Kostennutzeffektes” abgelehnt. “Verwaltungsdenken” bzw. “politische Zielvorgaben” seien im Sinne der Rentabilität nicht mehr wünschenswert, zudem würde das “Leistungsprinzip” vernachlässigt, hieß es intern. Im Ergebnis aller dieser Nachteile arbeite die öffentliche Hand zu teuer. Daher seien für öffentliche Unternehmen grundsätzlich kostendeckende Gebühren und Tarife anzustreben. Für eine Privatisierung kämen insbesondere Verkehrsunternehmen wie die Bundesbahn oder Energieversorgungsunternehmen, Müllabfuhr und Straßenreinigung in Betracht. Auch bei der Bundespost sei “zu überprüfen, ob die hoheitlichen Funktionen, welche zu der derzeitigen Verfassung geführt haben (…) unersetzbar sind.”[13]

Mit dieser Beurteilung stimmte der Bundesfachausschuss nicht nur in den Abgesang auf die öffentliche Hand ein (Staatsversagen statt Marktversagen). Es dokumentierte auch den sich bereits manifestierten Glauben an rein ökonomische Effizienzkriterien und marktwirtschaftliche Selbststeuerung sowie eine Neudefinierung der Aufgaben von Infrastruktur und Daseinsfürsorge. Gerade die Reformulierung der Ökonomie aus mikroökonomischer (Unternehmens-) Perspektive und eine entsprechend angestrebte Reorganisation staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik ist ein Kernmerkmal neoliberaler Hegemonie bis heute.

Blaupause der Agenda 2010

Derweil trat inmitten des Höhepunkts der Debatte um die Konjunkturpolitik Friderichs als Wirtschaftsminister zurück und gab seinen Wechsel von der Politik in den Vorstand der Dresdner Bank bekannt. Daraufhin wurde Lambsdorff sein Nachfolger, was für die Zukunft der sozialliberalen Koalition noch von Bedeutung sein sollte. Inhaltlich setzte er den wirtschaftspolitischen Kurs seines Vorgängers fort und konnte ihn auch trotz erheblicher Widerstände seitens des linken Parteiflügels langfristig durchsetzen. Dies führte nicht nur zu einem “Einigungsnotstand der Koalition in zentralen Fragen der Wirtschaftsverfassung”[14], – die SPD kritisierte ihren Koalitionspartner bereits für den “zur Ideologie erstarrten Glauben an die ‘Selbstheilungskräfte des Marktes'”[15] – ein “Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit” sollte auch als “Scheidungsbrief” in die Geschichte eingehen. Die Veröffentlichung des sogenannten “Lambsdorff-Papiers” am 9. September 1982 markierte den Bruch der Regierungskoalition zwischen SPD und FDP.

Sein Inhalt ist stellvertretend für die wirtschaftspolitische Umorientierung von der keynesianischen Nachfragesteuerung zur liberalen und unternehmerfreundlichen Angebotspolitik, die unter Friderichs und Lambsdorff eingesetzt hatte und unter der schwarz-gelben Koalition fortgesetzt wurde. Bei dem Papier wurde nicht nur auf (neo)liberales Gedankengut zurückgegriffen, “sondern auch auf die Diskussionen und Erfahrungen im angelsächsischen Raum, wo Magaret Thatcher und Ronald Reagan als Regierungschefs bereits einen neuen wirtschaftspolitischen Kurs eingeleitet hatten.”[16] Es beinhaltete vier “Aktionsfelder”, die neben der Haushaltskonsolidierung insbesondere die Eindämmung der Sozialstaatskosten und das Umschwenken auf eine Deregulierungspolitik betrafen.

Selbst mit der FDP verbandelt, spricht der liberale Historiker Gérard Bökenkamp – nicht ohne wohlwollenden Unterton – von der historischen Bedeutung des Lambsdorff-Papieres:

“Denn mit ihm verbindet sich eine tiefgreifende Wende nicht nur in der deutschen Wirtschaftspolitik, sondern in den Leitvorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt überhaupt. (…) Es ist bis heute die Blaupause für jedes echte Reformprojekt in Deutschland geblieben.”[17]

Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über die Ursachen für das Ende des keynesianischen Wohlfahrtstaates und des bis heute andauernden Aufstiegs des Neoliberalismus. Sie ist die gekürzte und überarbeitete Fassung einer wissenschaftlichen Arbeit des Autors mit dem Titel “Die 70er Jahre als Zeit des ökonomischen Umbruchs: Vom Keynesianismus zur ‘neoliberalen’ Transformation”.

Teil 1, Geschichte einer Konterrevolution; Teil 2, Als der Markt Naturgesetz wurde; Teil 3, “No cooperate with Ordo”; Teil 4, Die Saat geht auf; Teil 5, Ein Schock: Das Ende von Bretton Woods; Teil 6, Blaupause für die Agenda 2010; Teil 7, SPD der 70er: Zwischen den Fronten; Teil 8: Schocktherapie für die Union

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[1] Sontheimer, Kurt: Zeitenwende? Die Bundesrepublik Deutschland zwischen alter und alternativer Politik, Hamburg 1983, S. 125 f.

[2] Vgl. Andersen, Uwe/ Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2003.

[3] Ebd., S. 484.

[4] Siehe Bökenkamp, Gérard: Das Ende des Wirtschaftswunders: Geschichte der Sozial- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 – 1998, Stuttgart 2010, S. 192.

[5] Flach, Karl-Hermann: Noch eine Chance für die Liberalen oder Die Zukunft der Freiheit. Eine Streitschrift, Frankfurt 1971.

[6] Bökenkamp, Gérard: Das Ende des Wirtschaftswunders: Geschichte der Sozial- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 – 1998, Stuttgart 2010, S. 193.

[7] Wirtschaftswoche, Nr. 25/30, 18.6.1976, S. 29.

[8] Der Spiegel, Nr. 29/1977, S. 27, zitiert aus: Bökenkamp, Gérard: Das Ende des Wirtschaftswunders: Geschichte der Sozial- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 – 1998, Stuttgart 2010, S. 193.

[9] Der Spiegel, Nr. 29/1977, S. 27 f.

[10] Bökenkamp, Gérard: Das Ende des Wirtschaftswunders: Geschichte der Sozial- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969 – 1998, Stuttgart 2010, S. 194.

[11] Ebd., S. 194.

[12] Schanetzky, Tim: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der
Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007, S. 224.

[13] Unternehmer Staat: zu teuer, in: Der Spiegel, 40/1975, S. 22.

[14] Schildt, Axel: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen
Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44, 2004, S. 16.

[15] Ebd., S. 24.

[16] Bernstein, Leopold G.: Staranwalt in Bonn. Hans Friderichs – ein politisches Porträt, in: Vorwärts, 18.8.1977.

[17] Bökenkamp, Gérard/ Frölich, Jürgen: Das „Lambsdorff-Papier“ – entscheidende Wendemarke in der bundesdeutschen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, in: Bökenkamp, Gérard/ Doering, Detmar/ Frölich, Jürgen/ Grothe, Ewald (Hg.): 30 Jahre „Lambsdorff-Papier“. Texte und Dokumente zum „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ (9. September 1982), Berlin 2012, S. 11.

Artikelbild: Bundesarchiv / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA

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