Die Gesellschaft im Neoliberalismus

Der Rückzug des Staates und die Entpolitisierung der Gesellschaft

Der Staat hat seit Beginn der 1970er Jahre allmählich an politischen Gestaltungsspielräumen verloren. Was in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war, ist der systematische Abbau seiner Befugnisse, die Vermengung hoheitlicher Gestaltungs- und Gesetzgebungsprozesse durch privatwirtschaftliche Akteure und damit die allmähliche Entdemokratisierung seiner Institutionen, zuletzt die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und des Staatseigentums [1]. Dieser Prozess wurde durch eine Europäisierung hinter dem Rücken der Bürger verstärkt. Hayek bezeichnet dieses Kernanliegen des Neoliberalismus als „Enthronung der Politik“.[2]

Diese Entwicklung war keineswegs eine unabwendbare Zwangsläufigkeit, sondern politsch gewollt. Durch die Deutungshoheit des neoliberalen Mainstreams[3] wird der Staat verteufelt, eine Entfremdung der Menschen zu ihrer politischen Ordnung bewusst forciert und das Vertrauen derselben in die staatlichen Institutionen und ihrer Gestaltungsmöglichkeiten zerstört. Mit dem Abbau des Nationalstaates, „jenes Treuhänders aller mit der Idee einer Öffentlichkeit verbundenen universellen Werte“[4], wird den Bürgern aber das Instrument genommen mit dem sie, beginnend mit der Französischen Revolution, ihre Interessen wahrnehmen konnten.

Die Entfremdung des Freiheitsbegriffes und seine Reduzierung auf das Primat des Marktes ist die theoretische Grundlage für die gegenwärtigen Tendenz der Demokratieentleerung, globalen Privatisierung und Deregulierung, sprich – der Marktradikalisierung. Die damit in letzter Konsequenz stattfindende Entpolitisierung und Entmündigung der Gesellschaft, die der neoliberalen Parole der “Eigenverantwortung” letztendlich diametral entgegensteht, beschleunigt den demokratischen Zerfall im Willensbildungsprozess und die Erodierung des demokratischen Wohlfahrtsstaates weiter. „Nach 1989 ist eine dramatische Veränderung in dem Grad festzustellen, in dem sich der Staat für die sozialen Probleme der kapitalistischen Ökonomie in die Pflicht nehmen lässt. Die stark angestiegene Interdependenz zwischen den Volkswirtschaften der westlichen Welt ebenso wie das neoliberale Credo, den Staat so weit wie möglich aus der Verantwortung für die gesellschaftlichen Folgen der kapitalistischen Produktionsweise zu nehmen, haben eine verhängnisvolle Dynamik in Gang gebracht.“[5]

Eine Folge dessen ist “das Verschwinden einer gemeinsamen politischen Vision, eines politischen Willens”, einhergehend mit dem Verschwinden einer kollektiven und auch politischen Identität.“Öffentlichkeit bedeutete ursprünglich die Fähigkeit, den gemeinsamen Willen der Civitas herzustellen und durchzusetzen. Das Verschwinden dieses Politischen, der Idee eines Staates als politischem Gemeinwesen (Polis), ist die eigentliche Krise der Öffentlichkeit.” (Rüdiger Suchsland).

Der durch den neoliberalen Akkumulationsprozess entstandene sozioökonomische Strukturwandel führt zu einem Prozess der gesellschaftlichen Fragmentierung. Desweiteren hat mit dem Niedergang des Fordismus bzw. Keynesianismus und der Massenproduktion die Masse der Bevölkerung an ökonomischer Bedeutung eingebüßt.[6] Mit dem Verlust ökonomischer Bedeutung geht zwangsläufig auch ein Verlust politischer Bedeutung einher.

Bourdieu konstatiert als Folge der neoliberalen Utopie auch einen beschleunigten Niedergang der unabhängigen Kulturarbeit, im Film, im Verlagswesen, und auf lange Sicht der kulturellen Errungenschaften selbst. Also einen Niedergang und eine Gleichschaltung der Instanzen, die neben den bereits erwähnten kollektiven Instanzen (siehe die Gewerkschaften) den Auswirkungen des Neoliberalismus entgegentreten könnten.

Foucault stellte 1979 die rhetorische Frage, ob der Markt wirklich die Kraft der Formalisierung sowohl für den Staat als auch für die Gesellschaft haben könne.[7] Gut 20 Jahre später lässt sich diese Frage nur negativ beantworten: Nein, wenn man grundlegende abendländische, humanistische Traditionen bewahren will. Politische Gleichheit, Sozialstaatlichkeit, christliche Ethik, ja die gesamte Philosophie der Aufklärung wird durch die Ideologie des Neoliberalismus zur Disposition gestellt. Wenn man, wie es die Neoliberalen fordern, für den Markt regieren soll, sagt allein das schon alles über die Zukunftsaussichten einer repräsentativen Demokratie aus. Eine Politik alleine für den Markt, oder besser formuliert, durch den Markt gestalten zu lassen (Marktkonforme Demokratie), ist ein Widerspruch zu den Prinzipien der Demokratie.

Artikelbild: Michael Daddino, “The New York Stock Exchange”.
Some rights reserved.
Quelle: www.piqs.de

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Literatur

[1] Der Rückzug des Staates lässt sich statistisch am Rückgang der Staatsquote, definiert als das Verhältnis der Summe der Haushaltsausgaben von Bund, Ländern und Kommunen sowie der gesetzlichen Sozialsysteme zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), nachweisen. Die Staatsquote ist von 1995 (49,4%) über 2000 (48,3%) und 2005 (46,7%) auf einen Tiefstand von 43,9% im Jahre 2007 gesunken (Quelle: Bundesministerium für Finanzen). Auch wenn Deutschland im europäischen Vergleich eine recht niedrige Staatsquote hat, ist dieser rückläufige Trend ebenso international zu beobachten.
Dagegen existierte nach 1945 bis in die 70er Jahre hinein der Konsens, das Unternehmen und Einrichtungen der Infrastrukturen in kommunaler oder staatlicher Hand Garanten für die Wahrung des Allgemeinwohls waren.
[2] Siehe Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 67.
[3] Bourdieu spricht hier vom ökonomischen common sense, der sich als solcher mit den sozialen und kognitiven Strukturen einer bestimmten sozialen Ordnung verbindet.
[4] Bourdieu: Der Neoliberalismus, S. 127.
[5] Scharenberg/ Schmidtke: Wider die Eindimensionalität, in: Das Ende der Politik, S. 16.
[6] Siehe Crouch: Postdemokratie, S. 43. Vgl. auch Scharenberg, die Entwicklung der Einkommensverhältnisse in den USA von 1977-1999: Unteres Fünftel: – 12,0%, Zweitunterstes Fünftel: – 9,5%, Mittleres Fünftel: – 3,1%, Zweitoberstes Fünftel: + 5,9%, Oberstes Fünftel: + 38,2%, Oberste 1%: + 119,7%. Quelle: The New York Times (5.9.1999). Eine ähnliche Tendenz auch in Westdeutschland – Die Entwicklung der Verteilung des Gesamtnettoäquivalenzeinkommens (GNÄE) 1973-1998: Unteres Fünftel: -1.1%, Zweitunterstes Fünftel: -0,5%, Mittleres Fünftel: – 0,1%, Oberstes Fünftel: + 1,1%. Quelle: berechnet nach Bundesregierung (2001).
[7]Foucault: Die Geburt der Biopolitik, S. 169.

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16 Kommentare zu "Die Gesellschaft im Neoliberalismus"

  1. “… schon von einem allmählichen Bruch des Gesellschaftsvertrages reden muss.” Aha – ein Rousseau- / Kant-Anhänger!

  2. Eric B. sagt:

    In Frankreich spricht man auch vom Übergang von der Marktwirtschaft in die Marktgesellschaft. Dies wird derzeit von Kanzlerin Merkel massiv vorangetrieben, wenn sie “marktkonforme Demokratie” fordert und die Märkte als Kettenhunde des deutschen Stabilitätspakts einsetzt. Aber es gibt Alternativen, wie Habermas und andere jüngst in einem europapolitischen Appell aufgezeigt haben. Sie wären sogar umsetzbar – wenn man nur wollte… http://lostineurope.posterous.com/alternativen-sind-machbar

  3. Karin Dorr sagt:

    Einfacher! Viel einfacher muss man die Menschen mitnehmen.
    Es muss einfach wieder mal jemand aufstehen und die Massen polarisieren. Den Frust und die daraus resultierende Gewalt kanalisieren und gegen die und das richten was den Menschen im Namen dieses Scheissmarktes kaputt macht.
    Frei nach dem Motto tötet was euch tötet

  4. Pistepirkko sagt:

    Fangen wir doch endlich einmal an zu verstehen das soziale System drauf beruhen das man an sie glaubt.
    Solange wir Wirtschaft wie eine Ersatzreligion betrachten die nur liberal läuft, solange hält das an.
    Und mein Prof. sagte immer: “BWL und VWL sind eigentlich soziale Wissenschaften”

    Fangen wir doch mal wieder mit dem Glauben an, dass aller Mehrwert die Summe UNSERES Handelns ist.
    Das Mehrwert von UNSEREN Händen und Köpfen gemacht wird und WIR daher am Mehrwert 100% beteiligt werden müssen. Der Kapitalgeber hat nur Geld gegeben, aber keine Hand eingesetzt. WIR haben unsere Hände und unsere Köpfe benutzt und UNS die Dinge und Leistungen erschaffen! Dafür UNSERE Zeit geopfert!
    Daher gehört UNS, der MEHRHEIT, auch der, sagen wir es wirtschaftlich, FRUCHTGENUSS!!!

    Fangen wir doch wieder an zu glauben das Wirtschaft nur deswegen erfunden wurde, damit ALLE MENSCHEN ein besseres Leben haben.

    ALLE müssen Zugang zu allem bekommen, wie es einmal war.
    Wir fingen nur deshalb mit der Wirtschaft an, damit alle von Landwirtschaft, Fischerei, Viehzucht und Handwerk profitierten. Daher wuchsen die ersten Städte der Steinzeit. Weil Menschen Zugang bekamen zu Reichtum und in diesen aufgenommen wurden und was dazu beitragen konnten.

    Heute werden Leute von den Grundlagen der Existenz ausgeschlossen anstatt diese daran patizipieren zu lassen.
    Und ja!!!! Auch den Lebensentwurf der Sozialhilfekarriere muss eine Gesellschaft die reich ist ertragen können. Schon gar wenn wir diese Leute nicht mehr, z.B. mit Bandarbeit in der Fabrik, beschäftigen können.
    Denn auch diese Realität haben WIR geschaffen mit “Geiz ist geil”, indem man UNS daran glauben lies.

    Wo sind die philosophischen Ansätze wie wir leben wollen?
    Wir reden nur über Wirtschaft und wie wir dieser eine Chance geben können.
    Wo ist eine Diskussion darüber wie WIR leben wollen. Was WIR erleben wollen und vor allem wie.

    Wir müssen wieder Lebensmöglichkeiten schaffen und nicht nur wirtschaftliche Möglichkeiten. WIR Menschen müssen auch leben und nicht nur malochen damit eine andere reicher werden.

    Nur, damit WIR darüber nicht mehr nachdenken hat man aus Proletariat das Prekariat erschaffen und spielt es gegen die Mittelschicht aus.
    Denn diese Leute werden sich nicht mehr organisieren weil sie zu dumm gehalten wurden. Man hat das Bildungsniveau runtergeschraubt damit die nicht auf Ideen des 19ten und 20ten Jahrhunderts kommen und am Ende noch eine wirkliche Linke, SPD oder Grüne gründen und für UNS wirklich kämpfen.
    Ein Schelm wer an den alten Mann aus Trier denkt?

    Ein Mann in einer Kneipe sagte mir mal: “Warum sollte ich mir den Arsch aufreissen, damit ein anderer Arsch nur noch mehr in den Arsch geblasen bekommt?”

    Nur zur Klarstellung: Das sind nicht meine Worte.

    Wettbewerb ist schlecht, denn er erzeugt Verlierer. Besser wir fangen wieder an daran zu glauben das ein miteinander nur Gewinner erzeugt!
Wir müssen leben und nicht kämpfen! Fangt mal an nachzudenken wem es nutzt wenn IHR nicht zusammensteht sonder euch gegenseitig in einem Wettbewerb zerfleischt!!!!!!
    Wir sind alle eins und nur durch die Gemeinschaft kann man sich als Individuum erst selbst erkennen.
    Schon wieder fällt mir der Alte aus Trier ein.

    • Neuro sagt:

      Moment mal, den Kommentar hab ich hier eben schon mal gelesen…
      war das nicht bei dem Artikel zu Ungarn unter Orban?

      ist so allgemein, dass er überall passt, was?

  5. Neuro sagt:

    Man sollte nicht vergessen, dass Foucault zuerst die westliche Vernunft selbst einer Kritik unterzog -Wahnsinn und Gesellschaft
    http://www.springerlink.com/content/m8402wgm6488206w/

    und dann die Justiz -Überwachen und Strafen
    http://www.freiereferate.de/erdkunde/michel-foucault-uberwachen-und-strafen-die-geburt-des-gefangnisses-zusammenfassung-und-interpretation

    Marx hat er m.Wissens auch abgelehnt -wo liegt also die Basis seiner Kritik?

    • hangoerdt sagt:

      Ich bin kein Experte, aber ich weiß, dass er zu einem gewissen grad Strukturalist war. Wenn ich das richig verstanden habe heißt das, dass dass er die Welt als Struktur betrachtet, deren Elemente durch extrem komplizierte und verwirrende Abhängigkeiten, Mechanismen und Wechselwirkungen in Verbindung stehen. Als Mensch da durchblicken zu wollen ist praktisch unmöglich, und von freiem Willen kann sowieso nicht die Rede sein. Focault hat sich selbst als Antihumanisten bezeichnet.

  6. ernte23 sagt:

    @Neuro: Bin kein Foucault-Experte und kann daher darauf nicht ausreichend antworten. Jedoch braucht man in meinen Augen nicht unbedingt auf Marx zurückzugreifen, um das bestehende neoliberale und damit wirtschaftsdominierte Gesellschaftsmodell zu kritisieren. Vor allem der apokalyptische bzw. prophetische Teil der marxschen Lehre ist zu optimistisch und hilft augenblicklich nicht viel.

    @Karin Dorr: Leider sind manche Zusammenhänge zu komplex, um sie mit Hilfe einiger einfacher Parolen niederschreiben zu können. Die Leute ohne die Unterstützung der Medien, die sie tagtäglich beschallen, „mitzunehmen”, halte ich ohnehin für äußerst schwierig. Besser ist es wohl, kleine Brötchen zu backen und sich zu fragen, was man tun kann, das über den Kauf von Fair-Trade-Produkten, ethischen Konsum, hinausgeht

  7. Don M. Tingly sagt:

    @ Karin Dorr, ernte 23:

    intellektuell ist der neoliberalismus ja inzwischen von vielen seiten decouvriert worden. seine grundannahmen sind im besten fall nur einfach falsch. im wahrscheinlicheren fall sind sie die pseudo-wissenschaftliche unterfütterung rein machtpolitischer interessen, denen die wirtschaftskrisen in den 1970ern willkommener anlass waren, den ungeliebten Keynesianismus endlich zu beerdigen.
    spätestens die derzeitige staatsschuldenkrise zeigt ja auch praktisch, in welch falsche richtung die marktliberale politik führt.

    trotzdem stellt sich doch mehr denn je die frage: was tun?

    “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.”

    selten lag der alte rauschebart richtiger.

    es gelingt einfach nicht, eine kritische masse von der falschheit neoliberaler dogmen zu überzeugen. die trümpfe liegen leider in der hand der mächtigen aus politik und wirtschaft, die vom geltenden system profitieren.
    dank unkritischer privater und politisch kontrollierter öffentlicher medien, liegt die wesentliche meinungsbildung in der hand marktradikaler kräfte.

    die staatshaushalte werden unter dem massiven einfluss der lobbygruppen in einer weise gestaltet, die eine schleichende umverteilung von unten nach oben erlaubt. gleichzeitig werden gezielt ressentiments der mittelschicht gegen die abgehängten der gesellschaft geschürt, um die eigentliche schuld der eliten zu verschleiern.

    realitätsflucht der mehrheit – aufgrund von überforderung – in sinnentleerten konsum bzw. debile unterhaltung tun ein übriges.

    mir ist leider nicht klar, wie man aus diesem kreis ausbrechen können soll. die menschen tanzen auf der Titanic und sie wollen nichts von eisbergen hören.

  8. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    Der Link: “Die Ökonomisierung des Denkens”
    in: “Gesellschaft im Neoliberalismus”
    ist “tot”.

    Bedauerlich – bzw. Abhilfe tut not.
    M.f.G.

  9. Klaus Stegemann sagt:

    An die Redaktion

    … wie auch alle anderen Links im genannten Beitrag.

    Tja.

  10. Klaus Stegemann sagt:

    An den geneigten Leser:

    Sorry, Korrektur:
    Über die Seitenauswahl (im Gegensatz den Links bzw. der Suchfunktion) ist der Text erreichbar.

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