Was mit der ersten Ölpreiskrise 1973 begann, war nicht nur die Neuausrichtung wirtschaftspolitischer Richtlinien, sondern die ersten Schritte einer Transformation des Kapitalismus.
Es war das System fester Wechselkurse, das den organisierten Kapitalismus der Nachkriegszeit garantierte. Eine Formation, die danach strebte, die Potenziale von Nationalstaaten zu mobilisieren und die nationalökonomische Entwicklung im Namen der Bürger des jeweiligen Staates zu fördern. Ermöglicht durch das Regelwerk von Bretton Woods beruhte diese Formation auf der Aufteilung des politischen Raumes in territorial abgegrenzte Gemeinwesen. Die Nachkriegszeit stand zunächst also im Zeichen der wechselseitigen Abschottung nationaler Finanzmärkte.
Doch im Verlauf der 1970er-Jahre begannen sich diese institutionellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der bestehenden keynesianischen Wirtschaftspolitik aufzulösen1: Maßgeblich waren hier der vor allem durch die Finanzierung des Vietnamkrieges bedingte währungspolitische Übergang zu einem System freier Wechselkurse und die Herausbildung einer “Stagflation”.
Doch diese Entwicklung war keineswegs ein unvermeidlicher Veränderungsprozess. Hinter ihr stand auch ein handfester politischer Wille, nämlich eine von der neoliberalen Schule entwickelte Doppelstrategie: Mit ‘wissenschaftlichen’ Empfehlungen, Gutachten und Streitschriften wurden Probleme herbeigeschrieben, die dann für die nächste Phase neoliberaler Propaganda instrumentalisiert wurden.2
Die Strategie lässt sich am Beispiel von Bretton-Woods illustrieren: Gemäß der neoklassischen Theorie, dass die Produktivität des Kapitals von der Grundausstattung einer Volkswirtschaft mit Kapital abhinge, wurde die Aufgabe des Systems fester Wechselkurse schon lange zuvor von Milton Friedman (“The Case for Flexible Exchange Rates”, 1950) und Friedrich August von Hayek gefordert.3 Als Friedman im September 1970 der Bundesbank flexible Kurse (und damit die Aufwertung der Mark) empfahl, argumentierte Bundesbank-Vizepräsident Ottmar Emminger zwar noch energisch dagegen4, doch mit dem Ende von Bretton Woods etablierte sich Friedmans Position im Mainstream der Währungslehre.
Für die deutsche Wirtschaft hatte dies nach einer jahrzehntelang gewährleisteten Unterbewertung der D-Mark den Verlust ihrer Wettbewerbsvorteile auf dem Weltmarkt zur Folge. Damit waren eine Reihe deutscher Unternehmen nicht mehr konkurrenzfähig. Durch die Verlagerung der Produktion in Niedriglohnländer gingen der Bundesrepublik nun Arbeitsplätze verloren. Zwar vermochte es die Bundesregierung durch eine nach wie vor fabrizierte keynesianische Nachfragepolitik neue Arbeitsplätze zu schaffen, allerdings nicht in dem Maße, wie sie durch den Strukturwandel und eine zunehmende Technisierung der Produktion abgebaut wurden. Die externen und strukturellen Probleme wurden jetzt von den gleichen Agitatoren, die das Ende fester Wechselkurse gefordert hatten, der keynesianischen Wirtschaftspolitik angelastet.5
Der Damm bricht
Der Übergang zu flexiblen Wechselkursen im Jahr 1973 war schließlich auch aus einer anderen, ideologischen Sicht bedeutsam. Er dokumentierte die Aufkündigung des keynesianischen Nachkriegskonsenses darüber, “dass der nationale Wohlfahrtsstaat davor geschützt werden müsse, sein Geld ans Ausland zu verlieren”, zugunsten des Übergangs “zu einer neoklassischen, liberalen Wirtschaftsphilosophie.”6 Zinssätze und Wechselkursrelationen festzulegen und somit den grenzüberschreitenden Kapitalfluss zu kontrollieren, sollte aus Sicht der neuen Doktrin nicht mehr Aufgabe und Kompetenzbereich der Nationalstaaten sein. Mit dem bis heute gültigen Mantra, dass eine expansive nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik, aktive Fiskalpolitik oder Industriepolitik, die nur geringe Kapitalrenditen versprechen, mit Abwanderung des jetzt mobilen Kapitals bestraft wird, wurde der Rückzug des Staates legitimiert.7
Sogar der ausgewiesene Keynesianer Karl Schiller befürwortete nun als Wirtschaftsminister der sozialliberalen Koalition das Floating und damit das Ende von Bretton Woods, um sich mit einer monetaristischen Geldpolitik vom “internationalen Geleitzug der Inflation abhängen” zu können.8Als die Bundesregierung gegen den Widerstand von Schiller dennoch versuchte, den Zustrom spekulativen Kapitals insbesondere durch zusätzliche Kapitalverkehrskontrollen einzuschränken, trat dieser daraufhin zurück.9
Kaum überraschend ist es indes, dass ähnlich wie Schiller auch die Monetaristen in der Bundesbank argumentierten und das Ende von Bretton Woods als Befreiung empfanden10. Die “schleichende” Inflation in der Größenordnung von etwa 3 Prozent wurde von ihnen als das entscheidende wirtschaftspolitische Problem angesehen. Freilich wurde die darin liegende Gefahr der Währungsspekulationen, die das Bretton- Woods-System im Zaum halten sollte, völlig ignoriert.11 Stattdessen verließ man sich offensichtlich auf Friedmans bereits damals widerlegte12 Behauptung, dass Spekulanten automatisch aus dem Markt mit Verlusten ausscheiden würden, wenn die Spekulation nicht stabilisierend sei.
Scheinbar vergessen war plötzlich, dass die umfassende Einschränkung der Finanzmärkte gerade aus den Erfahrungen mit der ersten Weltwirtschaftskrise und ihrer Bankzusammenbrüche resultierte. Schon damals offenbarte die Krise Defizite wie eine unzureichende Eigenkapitalausstattung der Banken.13 Auch in der Zwischenkriegszeit zeitigte der flexible, marktbestimmte Wechselkurs, den einige Länder getestet hatten, derart desaströse Ergebnisse, dass man bereits während des Zweiten Weltkrieges beschloss, ein neues Währungssystem zu gründen.14 Um so bemerkenswerter war in diesem historischen Kontext der politische Beschluss etwa 30 Jahre später, Bretton Woods aufzugeben. Er war kaum eine sachlich begründete, sondern vor allem eine ideologisch und interessenspolitisch motivierte Entscheidung.
Die Rückkehr des globalen Finanzmarktes
Mit dem politisch forcierten Zusammenbruch von Bretton Woods konnten die Chicago Boys unter Milton Friedman mit den Plänen zu Liberalisierung und Internationalisierung des Bankensystems sowie der Finanzmärkte endgültig an Boden gewinnen. Diese Pläne deckten sich mit den Interessen diverser Marktteilnehmer wie Wertpapierhändlern, institutionellen Anlegern (Pensionsfonds, Investmentfonds und Versicherungen) und Banken. Die bereits in den 1960er-Jahren einsetzende kontinuierliche Internationalisierung des Finanzgeschäftes, die das System national weitgehend abgeschlossener Finanzmärkte schrittweise erodieren ließ, wurde seit den 1970er-Jahren durch die politische Deregulierungsmaßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene vorangetrieben. So erfolgte 1974 auch der Abbau nationaler Kapitalverkehrskontrollen in den USA.
Schon zuvor war die Herausbildung der Euromärkte, die weder der Aufsicht einer nationalen Bankenaufsicht noch den Eingriffen einer Zentralbank unterlagen, der erste große Schritt hin zu einem territorial entgrenzten Finanzmarkt. Vor allem Großbritannien profitierte von dieser Entwicklung insofern, als dass sie den Wiederaufstieg Londons als internationales Finanzzentrum bedeutete.15 Die Folgen dieser Entwicklung sind aus heutiger Perspektive kaum zu unterschätzen. Im Vergleich zu den 1960er- und 1970er Jahren sind die Transaktionen – nicht zuletzt durch nun immer neue Arten von Finanzgeschäften auf den internationalen Finanzmärkten seit den 1980er-Jahren – geradezu explodiert. Der Kapitalmarkt wurde zur Quelle der Unternehmensfinanzierung, Geldanlage und Betätigungsfeld für Finanzdienstleister.
Auch Deutschland blieb von dem Dominoeffekt der Deregulierung nicht ausgeschlossen. Erste Maßnahmen erfolgten auch hier bereits in den 1960er-Jahren: Das im Zentralen Kreditausschuss (ZKA) zwischen den einzelnen Bankengruppen bestehende Zinskartell wurde aufgehoben. Ausländische Banken durften sich in Deutschland niederlassen und ausländischen Anlegern war es erlaubt, in deutsche Wertpapiere zu investieren.16Die Ausweitung des kapitalmarktbezogenen gegenüber dem kreditbasierten Finanzgeschäft stand dabei nicht nur im Mittelpunkt der Globalisierung des Finanzgeschehens, sondern beeinflusste auch nachhaltig die Banken-Industrie-Beziehungen im deutschen kreditbasierten Finanzsystem.17Für den organisierten, gesellschaftlich vielfach eingebetteten deutschen Kapitalismus sollte genau das insofern nachhaltige Auswirkungen haben, als dass der Finanzsektor sein Kernelement war.
Der Weg zum angelsächsischen Kapitalismus
Mit dem Ende von Bretton Woods sollten nun die Prozesse der Deregulierung und Liberalisierung auf europäischer und internationaler Ebene nicht nur zur Expansion von Finanzmärkten über nationale Grenzen hinweg, sondern auch zu wachsendem Wettbewerbsdruck innerhalb der nationalen Finanzsysteme führen. Technologischer Wandel, veränderte Geschäftsstrategien global orientierter Banken und Unternehmen trugen in einem atemberaubenden Tempo zu einem fundamentalen Strukturwandel im internationalen Finanzgeschäft bei. In dessen Mittelpunkt stand vor allem die Aufwertung des Kapitalmarktes als Finanzierungsquelle und Ort der Geldanlage.18
Damit wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die einerseits die deutschen Unternehmen mehr und mehr von den Finanzmärkten abhängig machte, andererseits einen allmählichen Übergang vom Gewinn zur Rendite zur Folge hatte. Für die Verhandlungsbereitschaft mit den Arbeitnehmer sollte dies fatale Folgen haben: Die Bereitschaft und Fähigkeit der Unternehmensführung, im Sinne einer Umverteilungspolitik einen Deal mit den Gewerkschaften zu finden, wurde erheblich gemindert. Denn der zunehmende Kapitalmarktwettbewerb, der in Konkurrenz zu den traditionellen deutschen Bank- und Industrieverflechtungen stand, ermöglichte den Anlegern und Fremdinvestoren, in die Verteilung des Rohgewinns zwischen Staat, Arbeitnehmer und Investor einzugreifen.19
Angesichts der für die Gewerkschaften und den Wohlfahrtsstaat unvorteilhaften Auswirkungen war die Deregulierung der Finanzmärkte das Husarenstück für die Chicago Boys um Friedman. Die politischen Auswirkungen der neoliberalen Gegenoffensive – schon seit Jahrzehnten von der MPS strategisch und intellektuell vorbereitet – sollten sich indes durch eine Phase verstärkter Krisenerscheinungen im Zuge der Ölembargos der OPEC-Länder schneller manifestieren als erwartet. Denn die neoliberale Kritik wandte sich nicht nur gegen die Regulierung der Finanzmärkte und das System fester Wechselkurse, sondern auch gegen die für schädlich erklärte Vollbeschäftigungspolitik.
Dabei wurde die Offensive gegen Ende der 1960er-Jahre paradoxerweise durch den Erfolg des fordistisch-keynesianischen Systems begünstigt: Die Vollbeschäftigung führte zu mehr Streiks und einer steigenden Bruttolohnquote. Die Gewerkschaften forderten den Ausbau der Mitbestimmung. Neben der abnehmenden “effektiven Nachfrage” durch eine immer größere Produktivität20 hatte dies ein Sinken der unternehmerischen Profitrate zur Folge. In dieser Phase führten neokonservative und neoliberale Interessengruppen die bekannten Argumente ins Feld: Das bestehende System sei sklerotisch geworden, die Macht der Gewerkschaften erdrückend, und die Steuersätze wären nicht einfach umverteilend, sondern nachgerade bestrafend. Die Arbeitgeberverbände zogen nach, gingen seit 1973 auf einen verstärkten Konfrontationskurs mit den Gewerkschaften und suchten nach neuen Unternehmensstrategien.
Die Politik wechselt die Seite
Mit den seit 1973 zyklisch nachlassenden Wachstumsraten stand Deutschland wie alle Industrienationen vor der Alternative, die seit dem Krieg etablierten Erwartungen kontinuierlicher Zuwächse bei Lebensstandard und sozialer Sicherheit weiter zu gewährleisten, oder aber zu einer Politik der Währungsstabilität im Interesse der Besitzer von Geldvermögen überzugehen, deren politisches Gewicht aufgrund des wachsenden Finanzkapitalsektors und seiner Anleger nun stetig zunehmen sollte. Das Erste war bei sinkenden Wachstumsraten nur mit Inflation zu schaffen, das Zweite war mit der Folge steigender Arbeitslosigkeit verbunden. Mit seiner berühmten Aussage, er riskiere “lieber fünf Prozent Inflation, als fünf Prozent Arbeitslosigkeit” tendierte Helmut Schmidt wie auch alle anderen meist noch sozialdemokratischen Regierungen der westlichen Welt anfangs zur ersten Alternative.
Doch die Interessengegensätze verschärften sich nun und sollten für den Niedergang der keynesianischen Sozialdemokratie eine entscheidende Rolle spielen. Die Ölpreisexplosionen von 1973 und 1979 verursachten, – nach heutigem Geldwert ausgedrückt -, zusammen einem Kapitaltransfer in Höhe von 1.900 Milliarden US-Dollar aus den Industrie- in die ölexportierenden Länder. Der sprunghafte Anstieg der Energiekosten führte zu einem Rückgang der Realeinkommen in den Öleinfuhrländern wie Deutschland. Angesichts der daraufhin von den Gewerkschaften in vielen Branchen durchgesetzten Lohnerhöhungen schlugen auch diese Transferleistungen zunächst vor allem auf die Unternehmensgewinne und nicht auf die Löhne durch.21 Damit geriet der prekäre Balanceakt einer korporatistisch abgestimmten Lohnpolitik im Sinne der Globalsteuerung an sein Ende.
Von mehreren Teilkrisen gleichzeitig erfasst, wurde die fordistische Ökonomie auch von verschiedenen Gruppen aus verschiedenen Gründen attackiert. Neue Soziale- und Umweltbewegungen begannen den “Kapitalismus” aus ökologischen und gesellschaftspoltischen Motiven infrage zu stellen. Die gesellschaftlichen Bewegungen und Interessengruppen kritisierten entweder das real existierende Akkumulationsregime verstärkt, oder aber wollten es gleich ganz beseitigen.
Diese in eine gesellschaftlich-ökonomische Sinnkrise kulminierende Entwicklung verstörte nicht nur die Unternehmer, sondern auch diejenigen Parteien und Intellektuellen zutiefst, die zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung standen. In ihrer Irritation wurden sie von jenen neoliberalen “Vordenkern” abgeholt, die “übermächtige Gewerkschaften” und den “ausufernden Sozialstaat” zum Hauptübel erklärten. So schwoll der Chor der Sozialstaatskritiker seit 1974/75 auch auf liberaler und konservativer Seite an.22
Die in Folge der Ölpreiskrisen steigenden Arbeitslosenzahlen waren für die Unternehmen alles andere als ein Nachteil. Nach einer Zeit der Vollbeschäftigung und einer Arbeitslosenquote von weniger als einem Prozent vergrößerte sich ihre Verhandlungsmacht nun nachhaltig. Eine Wirtschaftspolitik, die ihren Schwerpunkt von der Beschäftigungspolitik auf die Inflationsbekämpfung verlagerte, war für die Unternehmen durchaus attraktiv. Nicht zufällig war von Arbeitslosen als “Arbeitnehmer auf Abruf” die Rede (Hayek), oder von “Gleichgewichtsarbeitslosigkeit” (Friedman). Nach dem Regierungswechsel 1982 sollte die schwarz-gelbe Koalition auch tatsächlich auf eine aktive Beschäftigungspolitik verzichten.23 Bundeskanzler Helmut Kohl vertraute vielmehr auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft; um diese zu fördern, sollte die Investitionskraft der Unternehmer gestärkt und der öffentliche Kapitalbedarf gemindert werden.24
Der Volcker-Schock
Für diese Politik wurde auf internationaler Ebene kurz vor Kohls Regierungsantritt die Grundlage gelegt. Zwischen 1979 und 1982 wurde in den USA die Geldmengensteuerung der Monetaristen mit einer Hochzinspolitik auf die Spitze getrieben. Der damalige FED-Chef Paul Volcker verschärfte mit einer Leitzinserhöhung von bis zu 20 Prozent die durch die zweite Ölpreiskrise verursachte Rezession, die auch zur Wahlniederlage des amtierenden demokratischen Präsidenten Jimmy Carter beitrug. Da der Dollar nicht nur US-, sondern auch Weltreservewährung war, trieben die steigenden Dollarzinsen das Zinsniveau überall auf der kapitalistischen Welt in die Höhe. Dies führte zu einer Schuldenkrise, die eine Kürzung privater Investitionen und öffentlicher Ausgaben zur Folge hatte. Mit steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Lohnersatzleistungen konnte insbesondere unter Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien die individuelle und kollektive Verhandlungsmacht von Arbeitern gebrochen oder zumindest eingeschränkt werden.
Von einer solchen Stabilisierungskrise versprachen sich monetaristische Ökonomen und von ihnen inspirierte Politiker nichts anderes als eine Verschiebung der Machtverhältnisse von den Wohlfahrtsstaaten und Gewerkschaften hin zu Unternehmern und Besitzern großer Geldvermögen.25 Zwar sollte der Volcker-Schock nachdrücklich illustrieren, dass auch der Monetarismus vor allem in makroökonomischer Hinsicht keine Antwort auf das Problem der Stagnation war. Dennoch steht dieses Experiment exemplarisch für den Anfang einer neoliberalen Ära, in der eine strukturelle Bodensatzarbeitslosigkeit nicht nur bewusst in Kauf, sondern erstmals auch bis heute politisch als unvermeidbar hingenommen wird.26
Krise des Keynesianismus oder Krise des Kapitalismus?
Die Anleihen aus dem Lambsdorff-Papier entnehmende Angebotspolitik, die mit dem Regierungsantritt von Kohl endgültig umgesetzt wurde, lässt sich vor allem an der seit 1983 sinkenden Lohnquote und den entsprechend steigenden Unternehmensgewinnen27 erkennen. Dieser damals einsetzende Pfadwechsel hin zu privatwirtschaftlichen Kriterien als politisch zentrale Orientierung prägt nicht nur die wirtschaftspolitische Entwicklung Deutschlands bis heute. Seit 1980 hat auch die Einkommensungleichheit in mehreren Wellen, besonders seit 2000, zugenommen.28
Der wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel ist umso höher zu bewerten, wenn man ihn in eine längerfristige Perspektive setzt. Die Anwendung keynesianischer Instrumentarien war keine Revolution, die über die deutsche Wirtschaftsordnung hereingebrochen ist, sondern die Konsequenz einer stetigen wirtschaftstheoretischen und -politischen Entwicklung, mitunter das Ergebnis eines spezifisch deutschen Arrangements zwischen einem ordoliberalen Rahmen und dem keynesianischen Stabilisierungsmodell.
Historisch gesehen war nicht die keynesianische Krisenbekämpfung der 1970er-Jahre – die gerne mit dem Auftreten der Sockelarbeitslosigkeit und dem vermeintlichen Scheitern der Globalsteuerung in Verbindung gesetzt wird – das Abnormale, sondern die Zeit der Vollbeschäftigung zuvor.29Der Keynesianismus war letztendlich das Instrumentarium, das die Nachkriegsprosperität aufrecht erhalten und vor den Rückfall in die historische Normalität des Kapitalismus retten sollte.
Durch die Institutionalisierung des Sachverständigenrates und des Stabiltätsgesetzes wurden wirtschaftspolitische Determinanten für den Krisenfall implementiert. Die verstärkte Konjunkturpolitik war also die Konsequenz der hereinbrechenden Rezessionen und nicht deren Ursache. Denn im Gegensatz zur Konjunkturkrise 66/67 und 73/74 war die sich bereits in diesem Zeitraum abzeichnende Strukturkrise primär keine Frage der wirtschaftspolitischen Ausrichtung, sondern Ausdruck der bis heute andauernden und sich jüngst erneut verschärfenden Widersprüche der kapitalistischen Produktions- und Funktionsweise. Der Ende der 1960er-Jahre einsetzende und bis zu dem Anfang der 1980er-Jahre andauernde kapitalistische Super-GAU – sinkende Profitraten und Investitionen der Unternehmen – hatte weit mehr Gründe, als die von den Neoliberalen ins Feld geführte Steuer-, Lohn- und Sozialpolitik.
Eine wesentliche Ursache für die immer geringere Produktionszunahme der 1970er-Jahre war die sinkende “effektive Nachfrage”. Während noch bis weit in die 1960er-Jahre hinein in Deutschland Nachholbedarf an kurz- und langlebigen Konsumgütern herrschte, mussten nun bei steigendem Wohlstand und zunehmender Marktsättigung traditionelle Marktinvestitionen zurückgestellt werden30. Aufgrund der sich nun grundlegend verändernden Nachfragestruktur begann die Wirtschaft ihre Produktionsstrukturen zögerlich umzustellen.31
Aus dieser Gemengelage resultierte die der Inflation beiwohnende, ökonomische Stagnation, die die frühen 1970er-Jahre charakterisierte. Die neuen Märkte waren erschlossen, die Infrastruktur aufgebaut und die Kriegsschäden des Zweiten Weltkriegs längst repariert. Die fehlenden weiteren Expansionsmöglichkeiten für das anlagefreudige Kapital wurden durch zunehmende Investitionen in Entwicklungsländern zu kompensieren versucht. Der Spiegel berichtete 1975, dass niemals seit Kriegsende ein so dicker Strom deutschen Kapitals über die Grenzen geflossen sei wie in den vergangenen zwei Jahren, und “nie zuvor interessierte sich das große Geld so lebhaft für Investitionen bei den Nachbarn oder in Übersee (…).”32
Fluch und Segen des Fortschritts
Damit erwies sich der immer enger mit der Industrie verzahnte, zu höherer Produktivität und somit zu kurzfristigen Wettbewerbsvorteilen führende, wissenschaftlich-technische Fortschritt als ein zweischneidiges Schwert. Konnten bis dato Innovationen zur Erschließung neuartiger Märkte beitragen, die mehr Arbeitsplätze schafften, als durch Rationalisierungen in älteren Industrien wegfielen, so kippte auch diese Entwicklung ab 1973.33 Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führte zu einer immer größeren Warenproduktion in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte. Durch neue Industriezweige, wie die Mikroelektronik und die IT-Branche, wurde diese Tendenz noch weiter beschleunigt, da die neuen Technologien weitaus weniger Arbeitsplätze schufen, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden. Diese eigentlich positive Entwicklung – es können mehr Produkte in kürzerer Zeit von weniger Menschen hergestellt werden – trug somit zur Krise der kapitalistischen Volkswirtschaften in den 70ern bei.”34
Dramatisch war, dass die neuen Technologien auch den nun zunehmend deregulierten Finanzsektor revolutionierten. Investitionen und Rentabilitätserwartungen verlagerten sich zunehmend in diesen Bereich. Mit dem Wachsen der Aktienmärkte entstand eine neue, am Shareholder-Value orientierte Unternehmensführung, eine Entwicklung die heute als Wechsel der “gesellschaftlichen Betriebsweise” interpretiert wird. Infolge dieses Wechsels wurde der Fordismus vom “Finanzmarktkapitalismus” als neuer Regulationstyp abgelöst.35
Die Folgen dieses Wandels, die als marktwirtschaftliches Paradigma idealisiert werden, sind heute im Zuge der sogenannten Staatsschuldenkrise erneut zu spüren: Der “arbeits- und verteilungspolitische Grundkompromiss”36 und damit auch die Demokratien der westeuropäischen Gesellschaften geraten verstärkt in die Schusslinie. Die Globalisierung der (Finanz)Märkte erweckte zum ersten Mal den Eindruck, als ob die Regierungen keine andere Wahl hätten, als Politik für die Märkte zu machen. Der Raum für eine linke Wirtschaftspolitik war von nun an verwaist.
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über die Ursachen für das Ende des keynesianischen Wohlfahrtstaates und des bis heute andauernden Aufstiegs des Neoliberalismus. Sie ist die gekürzte und überarbeitete Fassung einer wissenschaftlichen Arbeit des Autors mit dem Titel “Die 70er Jahre als Zeit des ökonomischen Umbruchs: Vom Keynesianismus zur ‘neoliberalen’ Transformation”.
Teil 1, Geschichte einer Konterrevolution; Teil 2, Als der Markt Naturgesetz wurde; Teil 3, “No cooperate with Ordo”; Teil 4, Die Saat geht auf; Teil 5, Ein Schock: Das Ende von Bretton Woods; Teil 6, Blaupause für die Agenda 2010; Teil 7, SPD der 70er: Zwischen den Fronten; Teil 8: Schocktherapie für die Union
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Das Ende von Bretton-Woods"