Ende der 1960er-Jahre erhält der Neoliberalismus Einzug ins Denken konservativer Eliten und in die Programmatik ihrer Parteien. Eine strategische Voraussetzung für die neoliberale Konterrevolution, die kurz darauf begann.
Noch im Dezember 1961 hatte sich die Mont Pèlerin Society – die Zentrale des Neoliberalismus – mit ihrer Radikalisierung im Zuge des Austritts der deutschen Ordoliberalen unter Wilhelm Röpke ins politische Abseits manövriert. Weil die soziale Konsenspolitik auch für die wirtschaftlichen Eliten bis weit in die 1960er-Jahre hinein einträglich war, fand die Agitation der MPS unter der Federführung von Friedrich August von Hayek gegen den “sozialistischen” Wohlfahrtsstaat bis zur Ölpreiskrise 1973 nur wenig Gehör.1
Vorerst also brachen Hayek und der MPS die Bündnispartner weg. Denn es waren in der Regel konservative Regierungen, die den Aufbau der Wohlfahrtsstaaten in Westeuropa vorantrieben. Schlimmer noch, weil Hayek gegen einen erfolgreichen Konsens opponierte, “traf einen der radikalsten Anti-Sozialisten ausgerechnet der Bannstrahl der konservativen Eliten”.2 Hayek hatte weder einen Sinn für die Flexibilität der Unternehmer, noch dafür, wie lukrativ der beginnende Wohlfahrtsstaat für diese Eliten damals war.
Der Neoliberalismus der MPS besaß den entscheidenden Makel, den Boom der Nachkriegszeit nicht anzuerkennen. Paradoxerweise war es die Einsicht der Unternehmer, dass ein ideologischer Bürgerkrieg zwischen Sozialstaat und freier Marktwirtschaft die prosperierende Geschäftsentwicklung nur behindern würde. Diese Einsicht fand seinen Ausdruck nicht zuletzt in einer Konfliktpartnerschaft zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden. Anders ausgedrückt: Keine liberale und auch konservative Partei verband – wie Hayek – die Anfänge des Wohlfahrtsstaates mit der Abschaffung des Kapitalismus. Im Gegenteil, der soziale, staatliche Interventionismus diente der Stabilisierung des kapitalistischen Systems. Abgesehen vom marxistischen Flügel der Partei, ging es weder der regierenden SPD und erst recht nicht den Keynesianern darum, den Kapitalismus als solchen zu beseitigen.
Dennoch nahmen auch in Deutschland die Mitglieder der MPS und die Zahl neoliberaler Think-Tanks im Umfeld der MPS markant zu. Zwischen 1953 und dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 waren vier neoliberale Denkfabriken entstanden, darunter die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) 1953, das Walter-Eucken-Institut 1954, die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) 1958 und 1982 das Frankfurter Institut – Stiftung für Marktwirtschaft und Politik (Kronberger Kreis). Damit stieg das Potenzial, entsprechende Agenda-Setting- und Politikformulierungsaktivitäten intensiver und flächendeckender durchzusetzen. Um aber Einfluss und Wirkungsmächtigkeit zu erlangen, musste es strategisches und langfristiges Ziel der Neoliberalen sein, die konservativen Kräfte und ökonomischen Eliten für ihre Ideologie zu gewinnen.
Diese Chance eröffnete sich durch zwei parallel stattfindende Entwicklungen: Auf der einen Seite durch das Sinken der Wachstumsraten, auf der anderen Seite durch das Erstarken marxistischer Kräfte und neuer sozialer Bewegungen, die sowohl den keynesianischen Konsens als auch die Zukunft des Kapitalismus infrage stellten.
Der Neoliberalismus als Triebfeder der konservativen Gegenreform
Die in den 1970er-Jahre einsetzende Polarisierung und Ideologisierung des politischen Diskurses war für die Ziele der neoliberalen Intellektuellen keineswegs von Nachteil: Die Reaktion der Konservativen und vieler ehemals Nichtkonservativer auf die in ihren Augen exzessiv und demokratiegefährdend erscheinenden ideologischen Positionen der Linken und der ihr folgenden Protestbewegungen – die auch als eine linke Meinungsführerschaft in den Medien wahrgenommen wurde3 – war ein Bekenntnis zur “Ratio der modernen Industriegesellschaft”. Damit ergab sich eine wesentliche Schnittstelle zwischen konservativen und neoliberalen Gruppen, nämlich die Protektion der freien Marktwirtschaft.
Der Neoliberalismus, der auf Ideologeme wie die Freiheit des Marktes und des Individuums setzte, auf Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft, kam dem vor allem in Deutschland kompromittierten Konservatismus als Element zur inneren Reform höchst gelegen. Der kulturelle Wandel und die intellektuelle Erneuerung sollte einschneidend sein: Der tradierte Konservatismus löste sich von alten Freiheits- und Ordnungsvorstellungen und definierte diese zunehmend ökonomisch. Seine (Neo)Liberalisierung machte ihn zudem für aufstiegsorientierte Milieus und Schichten im wachsenden Dienstleistungssektor attraktiv.
Freilich wurde und wird diese Erneuerung von vielen Konservativen kritisch gesehen. Für Alexander Gauland wurde mit dieser Entwicklung – unter der Inkaufnahme hoher kultureller Verluste – der Rückzug in die technische Rationalität und die Ökonomisierung der Gesellschaft befördert. Damit würde, so Gauland, die weitgehend säkularisierte CDU zur Wegbereiterin neoliberaler gesellschaftlicher Desintegration, die nur noch insofern konservativ sei, als dass sie die nach 1949 im Westen Deutschlands entstandene Ordnung bewahren wolle.4
Als Verteidiger der marktwirtschaftlichen Ordnung sollte sich auch Hermann Lübbe, ein ehemaliger Sozialdemokrat, profilieren. Lübbe war ein führender Repräsentant des Neokonservatismus und wurde von dem Politologen und Journalisten Kurt Sontheimer zu den “Militanten der Tendenzwende” gerechnet. Er skizzierte in einem Artikel über “Konservatismus in Deutschland” die ihm wichtig erscheinenden Merkmale dieser geistigen Reaktionsbewegung, darunter auch die Bedeutung der Freiheit des Marktes:
“Die sogenannten Neokonservativen vertreten die Meinung, daß die Gewährleistung der Bürgerfreiheit gegenüber dem Unterschied von Marktwirtschaft einerseits und politisch kontrollierter Verwaltungswirtschaft andererseits nicht indifferent ist, daß vielmehr umgekehrt mit der Freiheit des Marktes auch entscheidende Bürgerfreiheiten in Verfall geraten.”5
Dem neuen Klima wurde in einem Kongress an der Akademie der Schönen Künste in München zum Ausdruck verholfen. Der Drahtzieher des Kongresses war der baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn (CDU), der “alle geistigen Kräfte rechts vom Marxismus zu sammeln”6 trachtete, um dadurch den sich anbahnenden geistigen Umschwung sichtbar zu machen. Zu diesen “Kräften” gehörten Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer, die Intendanten Helmut Hammerschmidt (Südwestfunk) und Franz May (Saarländischer Rundfunk) als auch der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, Johannes Binkowski. Der Tagung wurde nicht nur dadurch zu großem Aufsehen verholfen, dass sie in der Sendung “Der internationale Frühschoppen” diskutiert wurde, sondern auch dadurch, dass prominente Personen wie der Bundespräsident Walter Scheel, Carl-Friedrich von Weizsäcker, Richard Löwenthal und Arnold Gehlen teilnahmen.7
Soviel Markt wie möglich
Wohin die Zeichen der “Gegenreform” insgesamt zeigten, darauf wies Hermann Scheer, damals Vorsitzender der Antrags-Kommission der baden-württembergischen SPD und Mitglied im SPD-Parteirat, in einer kritischen Bestandsaufnahme hin:
“Im Zusammenhang mit der drohenden Finanzkrise des Staates (…) und sinkenden Staatseinnahmen, bahnt sich seit etwa einem Jahr ein Konflikt an, der vermutlich erst in den Anfängen steckt: der Konflikt um Sinn und Zweckmäßigkeit, bzw. Unsinn und Unzweckmäßigkeit der Forderung nach Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen.”8
Scheer bezog sich nicht zuletzt auf den damaligen Generalsekretär der CDU, Kurt Biedenkopf. Der äußerte in einem Beitrag für die Gewerkschaftlichen Monatshefte, dass der Staat nur “um den Preis einer Verminderung der Leistungsfähigkeit der Gesellschaft” öffentliche Dienstleistungen in eigener Regie wahrnehmen könne. Und, so Biedenkopf weiter, auch “um den Preis einer stärkeren Zentralisierung und damit der Verminderung der Freiheitlichkeit der Gesellschaft.”9
Biedenkopf versuchte mit seinem Rapport nicht nur die Gewerkschaften für einen Privatisierungskurs zu erwärmen, sondern stimmte diese auch auf härtere Zeiten, engere “Verteilungsspielräume” und mehr “Flexibilität” in der “nachindustriellen Gesellschaft” ein.10 Wohlweislich redete Biedenkopf damit auch den Interessen der Arbeitgeberverbände das Wort.
Aus der Perspektive einer jahrzehntelangen Epoche, in der von 1950 bis 1973 in Westdeutschland der Anteil der Regierungsausgaben am BSP von 30,4 auf 42 Prozent gestiegen war11 – stellte die Forderung nach Privatisierungen im öffentlichen Sektor eine Zäsur dar.12 Sie fiel genau mit einem Zeitpunkt zusammen, in der die Wirkungsmacht des Staates nicht nur ihren Zenit erreichte, sondern ein Rückbau einsetzen sollte, der mit einem “Glaubensverlust” in die staatliche Verwaltung und öffentliche Leistungen zusammenhing. Dieser spiegelte sich tatsächlich nicht nur in Biedenkopfs Argumentation wider, sondern auch bei weiten Bevölkerungsteilen und nicht zuletzt in der Planungsphobie der Neuen Sozialen Bewegungen.
Die Eiserne Lady als Vorbild
Da die Entwicklung des deutschen politischen Konservatismus in dieser Zeit nicht unerheblich von außen beeinflusst wurde, ist dies kaum mehr verwunderlich. Denn es war keine geringe als Margaret Thatcher, die Hayeks “Constitution of Liberty” mit den Worten “This is what we believe!” als ihre Überzeugung pries und als Studentin von dessen “Road to Serfdom” maßgeblich geprägt wurde. Wenn man die geistigen Wurzeln des “Thatcherism” mit dem Konservatismus in Verhältnis setzt, wird deutlich, wie sich die wirtschaftsliberalen und individualistischen Strömungen mit einem Sinn für Konvention, Tradition und Autorität, aber auch Nationalbewusstsein verbunden haben.13
Der Neoliberalismus war für den neuen Konservatismus von strategisch wichtiger Bedeutung, denn er gab ihm, – entgegen der verbreiteten konservativen Theoriefeindschaft -, ein theoretisches Fundament. Dies war vor dem Hintergrund der auch von Thatcher erkannten Notwendigkeit, den “battle of ideas” gegen die Linke zu bestehen, ebenso ein wichtiger Baustein der “geistig-moralischen Wende” in Deutschland:
“We must have an ideology. The other side has got an ideology they can test their policies against. We must have one as well.”14
In Deutschland war es in diesem Sinne vor allem Gerd-Klaus Kaltenbrunner, der vehement die konservative Theorielosigkeit kritisierte und mit der Schriftenreihe Initiative im Freiburger Herder-Verlag15 die Voraussetzungen für die Wiedergewinnung von geistiger Meinungsführerschaft zu gewinnen suchte. Zu diesem Zeitpunkt gab es nahezu eine Gründungswelle konservativer Zeitschriften.16 Mit der Kritik an einer sozialstaatlichen Verwaltung der pluralistischen Gesellschaft aus der Perspektive des Umweltschutzes, wie es in dem vielbeachteten Buch von Ernst Forsthoff über den “Staat der Industriegesellschaft” ausgeführt wurde17, gab es sogar eine Schnittstelle zwischen Konservatismus und den bürgerlichen Teilen der alternativen Umweltbewegungen.
Entscheidend war aber auch für den deutschen (Neo-)Konservatismus, dass eine seiner Strategien im “Plädoyer für eine Begrenzung des Politischen auf die staatliche Sphäre und gegen die Tendenz der ‘Politisierung aller Lebensbereiche'”18 lag, die als Strategie der Linken angesehen wurde. In diesem Zusammenhang wurde nicht nur vor einer Überforderung der Marktwirtschaft durch eine ausufernde Sozialpolitik gewarnt, sondern ebenso wie in Großbritannien für eine ‘Entsozialisierung’ und die Aufnahme liberaler Wirtschaftsauffassungen in das konservative Gedankengut geworben.19
Konservative Publizisten wie Jürgen Eick, Mitherausgeber der FAZ, zeichnete nicht nur in Leitartikeln, sondern auch in einem Buch das Bild von einem Sozialstaat, der Investitionen in die Wirtschaft verhindern würde, und sprach wie viele andere polemisierend von einem “Gewerkschaftsstaat” als drohende Gefahr der Zukunft. Überhaupt wurden Sozialdemokratie und Gewerkschaften von der CDU zwar nicht frontal attackiert, aber letztendlich doch als nicht mehr zeitgemäß betrachtet. Vor allem Biedenkopf bediente sich dieses Argumentationsstranges in seinem Buch “Fortschritt in Freiheit”.20
Aufgrund dieser Entwicklung ist eine eindeutige Trennung zwischen (Neo-)Konservatismus und (Neo-)Liberalismus nur noch schwer möglich. Grob gefasst lässt sich der Neokonservatismus als eine Entstaatlichung des ökonomischen und eine Verstaatlichung des demokratischen Prozesses deuten. Oder konkreter: die Verknüpfung von Privatisierungs- und Deregulierungstendenzen auf der Marktsphäre mit einer restriktiven Interpretation der Grundrechte.21 Damit ist auch das politische Grundgerüst der “geistig-moralischen Wende” grob skizziert.
Das Beispiel der Gewinnung großer Teile des Konservatismus durch die rechtsliberalen Wissensnetzwerke um die MPS zeigt, wie erfolgreich diese letztendlich darin waren, die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Debatte zu drehen. Keineswegs wurden die Auffassung der marktradikalen Wissenschaft und Publizistik überall geteilt, aber die Kriterien des Marktradikalismus wurden zu einem nicht mehr aus den Debatten zu verbannenden Referenzpunkt gesellschaftlicher Diskussionen. Der bis in die 1970er-Jahre existierende Gegenpol progressiver Projekte verkümmerte dagegen fast bis zur Unkenntlichkeit.22
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über die Ursachen für das Ende des keynesianischen Wohlfahrtstaates und des bis heute andauernden Aufstiegs des Neoliberalismus. Sie ist die gekürzte und überarbeitete Fassung einer wissenschaftlichen Arbeit des Autors mit dem Titel “Die 70er Jahre als Zeit des ökonomischen Umbruchs: Vom Keynesianismus zur ‘neoliberalen’ Transformation”.
Teil 1, Geschichte einer Konterrevolution; Teil 2, Als der Markt Naturgesetz wurde; Teil 3, “No cooperate with Ordo”; Teil 4, Die Saat geht auf; Teil 5, Ein Schock: Das Ende von Bretton Woods; Teil 6, Blaupause für die Agenda 2010; Teil 7, SPD der 70er: Zwischen den Fronten; Teil 8: Schocktherapie für die Union
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10 Kommentare zu "Aufstieg des Neoliberalismus
Die Saat geht auf"