Wandel des Kapitalismus
Shareholder value und Postdemokratie

Die angelsächsische Transformation

Das im ersten Teil geschilderte „Bündnis“ zwischen Kapital und Arbeit, ein Wesensmerkmal der deutschen Nachkriegsökonomie, bekam seit den 1980er Jahren zunehmend Risse. Die spätestens nach der Ölkrise 1973 tendenziell nachlassenden realen Wachstumsraten, sowie ein verschlechtertes Verhältnis von Arbeitsproduktivitäten und Kapitalintensitäten, führte selbst bei konstanten Lohnquoten zu einem Rückgang der Profitraten, was dazu führte, dass die ” Unternehmer und die Geldmächtigen (…) jetzt unisono nicht mehr den ‘sozialtemperierten Kapitalismus’ [akzeptierten]“.[13]

Theoretische Unterstützung fanden die Big Player und Wirtschaftsvertreter in ihrem Kampf gegen die alten Strukturen insbesondere bei neoklassischen Vordenkern wie Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, die staatliche oder soziale Eingriffe in das Marktgeschehen als zentrales Übel einer Volkswirtschaft ausmachten. Im Zuge der neoliberalen Schule wurde, erstmals unter Margaret Thatcher, der Einfluss der Gewerkschaften nicht nur von unternehmerischer Seite, sondern auch von staatlicher Seite bekämpft. In Deutschland war dies in deutlichen Ausmaßen spätestens unter der Ägide Gerhard Schröder der Fall: “Mit der Anerkennung der Gewerkschaften durch die wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes als ‘birds of the same feather’ ist es heute vorbei. Seinen sichtbarsten Ausdruck findet dies in der nach einem Vierteljahrhundert neu aufgenommenen Polemik gegen die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Die Forderungen der Wirtschaftsverbände (…) nach Verkleinerung der Aufsichtsräte, Reduzierung der Arbeitnehmerbeteiligung auf ein Drittel der Sitze und Ausschluß ‘betriebsfremder’ Gewerkschafter werden zum Teil mit einer irreparablen sachlichen Inkompetenz der Arbeitnehmervertreter begründet.”[14]

Diese zunehmende Distanz zu den Gewerkschaften lag nicht zuletzt in der durch neoliberale Agitation weit verbreiteten Befürchtung in Europa zugrunde, im internationalen Wettbewerb „abgehängt“ zu werden: “Mindestens auf der Ebene der öffentlichen Meinung und der politischen Debatte steht daher für Deutschland und Europa die Frage im Vordergrund, wie man den Reformstau überwinden kann.”[15]

Tatsächlich schienen sich seit den 1990er Jahren die Vorzeichen zu verkehren und das Erfolgsmodell des Organisierten Kapitalismus seinen Glanz zu verlieren. Verschiedene kontinentaleuropäische Länder haben seitdem mit höheren Arbeitslosenraten, steigender Inflation und wachsenden Haushaltsdefiziten zu kämpfen, während es in dieser Periode – begleitet von niedriger Inflation und Arbeitslosigkeit – zu einer Wiederbelebung der amerikanischen Wirtschaft kam.

Der breit aufgestellte Sozialstaat, als auch die starke Stellung der Gewerkschaften wurden verstärkt als Blockade des Wirtschaftswachstums angesehen. Die in den 90er Jahren einsetzende und bis heute noch nicht abgeschlossene „Generalinventur aller gesellschaftlichen Regelungen (…) soll dem Ziel dienen, endlich wieder den nationalen oder gar den europäischen Kapitalismus auf den globalisierten Märkten wettbewerbsfähig zu machen.“[16]

Dieser bis heute in der öffentlichen Debatte weit verbreiteten Ansicht von der Überlegenheit liberaler, deregulierter und weniger sozial ausgerichteten Marktwirtschaften widersprechen allerdings die Ergebnisse in der Literatur über die „varietes of capitalism“. Diese Arbeiten in der Theorietradition des Institutionalismus gehen im Kern auf den Gedanken zurück, „dass der Tauschakt auf dem Markt – dem Ausgangspunkt jeglichen klassischen Denkens in der Ökonomie – in der Praxis ohne die Existenz sozialer Institutionen nicht möglich ist.“[17]

Der Sieg und die Verbreitung des angelsächsischen Kapitalismus-Modells wurde desweiteren durch externe, globale Entwicklungen begünstigt. Darunter fällt die 1971 einsetzende US-Dollarkrise, die letztlich 1973 zum Zusammenbruch des 1944 in Bretton Woods festgelegten Systems fester Wechselkurse führte, als auch die Gründung der Welthandelsorganisation WTO, die 1995 die GATT ablöste und eine liberale Außenhandelspolitik mit Deregulierung und Privatisierung verfolgt. Das gleiche gilt auch für den europäischen Binnenhandel: “Die Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes bewirkte eine Wettbewerbsverschärfung auf den Produktmärkten; durch die Deregulierungspolitik der Europäischen Kommission wurden Unternehmen aus den ehemals geschützten Versorgungssektoren erstmals in den Wettbewerb entlassen.”[18]

Spätestens hier stellt sich die Frage, ob die zunehmende Globalisierung, die Liberalisierung der Finanzmärkte und des Handels, als auch der Evolutionssprung in der modernen Informationstechnologie nicht zwangsläufig der Diversität kapitalistischer Systeme ein Ende setzen muss. “Welche Chancen bestehen vor dem Hintergrund des offenkundigen Vordringens des Marktes jedoch für die Aufrechterhaltung kapitalistischer Vielfalt? Wie reagieren nationale Ökonomien auf den im Zuge der globalen Integration von Güter und Kapitalmärkten gewachsenen Wettbewerb zwischen Produktionsregimen?”[19]

All die beschriebenen endogenen und exogenen Entwicklungen erhöhten stetig den Druck auf die europäischen, organisierten Ökonomien und das institutionelle Geflecht des rheinischen Modells massiv. In den neunziger Jahren gewannen jene Bewegungen und Faktoren an Kraft, die unternehmensübergreifende Bindungen gegenüber einzelwirtschaftlichen Kalkülen schwächten. Auf der Seite der Kapitalbeziehungen handelt es sich dabei um die allmähliche Erosion des Netzwerks aus Kapital- und Personalverflechtungen, die Loslösung der Banken aus den ehemals engen Beziehungen zu Industrieunternehmen, die Übernahme aktienkursorientierter Unternehmensstrategien und die Entstehung eines Markts für Unternehmenskontrolle.

Durch einen vor diesem Hintergrund überraschend spät einsetzenden, politischen Paradigmenwechsel durch die Rot-Grüne Koalition 1998 und deren Verabschiedung des Übernahmegesetzes von 2002 wurde die allmähliche Erodierung der „Deutschland AG“ forciert.

Die Auflösung des Verbändesystems

Das allmähliche Ende der korporatistischen Gesellschaftsordnung der Nachkriegsjahre bedeutet freilich nicht, dass sich die soziale Integration ihrer liberalisierten Nachfolgeordnung von selber verstünde. Wie eng die Grenzen einer marktmeritokratischen, also rein über den Wettbewerb definierten Integrationsformel sind, zeigen schon die sich häufenden Warnungen vor dem, was die manageriellen Eliten und ihre Coterie in Wissenschaft, Politik und Publizistik eine „Neiddebatte“ nennen.

Die Struktur der politischen Willensbildung und die Einbindung von Interessensgruppen im politischen Prozess sind einem fulminanten Wandel unterworfen worden. Im Zuge dieses Wandels weitet sich die Praxis der politischen Einflussnahme durch Interessengruppen ständig aus. Der mittlerweile gängige Begriff „Lobbyismus“ ist in diesem Kontext bezeichnend, da er in der deutschen Verbändeforschung und der Auseinandersetzung mit der Interessenvermittlung relativ neu ist. Allein die verstärkte Verwendung dieser Begrifflichkeit in der neueren Literatur und Diskussion verdeutlicht einen Wandel im System der Interessenvermittlung, der mit dem Niedergang des organisierten Kapitalismus nicht zufällig zusammen fallen dürfte: “Liberalisierung, in anderen Worten, bedeutet nicht die Ablösung jeglicher Organisation durch freie Märkte und befreite Individuen, sondern nur das Zurücktreten bestimmter Organisationsformen zugunsten anderer: insbesondere die Herauslösung der corporate hierarchies der großen Unternehmen aus korporatistischen Bindungen und politischen Verpflichtungen.”[20]

Im Vergleich zu den Verbänden ist der Begriff der lobbyistischen Akteure weiter gefasst, und beinhaltet neben den Verbänden auch weitere Akteure, die im politischen System zur Durchsetzung von Einzelinteressen aktiv sind. Hierzu zählen insbesondere Großunternehmen, Public Relations- und Public Affairs-Agenturen, Anwaltskanzleien sowie Politikberatungsagenturen. Gerade Große Konzerne, welche ihre Unternehmensinteressen seit dem Niedergang des Organisierten Kapitalismus immer unzureichender durch die Wirtschaftsverbände artikuliert sehen, versuchen im Rahmen des sogenannten „Unternehmenslobbying“ direkten Einfluss auf politische Entscheidungsträger auszuüben. Die klassische Einflussnahme über Verbände der Großunternehmen verliert dabei zwangsläufig an Relevanz. Dieser Trend zur Intensivierung der „Politikberatung durch Unternehmen“ lässt sich an der wachsenden Zahl politischer Unternehmensvertretungen in der Bundeshauptstadt Berlin ablesen, die mittlerweile auf über 100 Konzernrepräsentanten angestiegen ist.

Auch dieser Prozess wurde durch politische Entscheidungen der Rot-Grünen Bundesregierung begünstigt. Schröder kündigte das „Bündnis für Arbeit“ 2003 kurz vor seiner Regierungserklärung zur „Agenda 2010“ und nicht ohne öffentliche Demütigung der Verbände auf. Statt mit den Verbänden der Wirtschaft beriet sich der Kanzler nun mit den Chefs der großen Unternehmen, und genauso wie in Großbritannien werden die Gewerkschaften im Zentrum der politischen Macht nur noch selten gesehen.

Bezeichnend hierfür ist das von Otto Schily initiierte Personalaustauschprogramm Seitenwechsel, das am 1. Oktober 2004 startete. Im Zuge dieses Programms arbeiten bis heute neben Beamten und Angestellten auch externe Mitarbeiter in deutschen Bundesministerien. Dabei handelt es sich um Personal aus der Privatwirtschaft, aus Verbänden und Interessengruppen, die weiterhin Angestellte ihres eigentlichen Arbeitgebers bleiben und von diesem bezahlt, zeitweilig in Bundesministerien tätig sind. Dadurch zeichnet sich ein bedenklicher Einflussgewinn der Wirtschaft auf Kosten der Gewerkschaften ab – eine institutionelle Verflechtung privatwirtschaftlicher Akteure mit den Ministerien unter Ausschluss der Gewerkschaften. Dieses Muster ersetzt zunehmend das alte korporative Modell der flachen Hierarchien durch eine „Top-down“ Implementierung.

Eine entgegengesetzte Entwicklung zum Machtgewinn der Wirtschaftslobbys auf Seite der Arbeitnehmerverbände ist bereits angesprochen worden: Gewerkschaften verlieren nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa insgesamt an Einfluss.

Zu den bereits genannten Ursachen – wie die im internationalen Konkurrenzdruck zunehmend arbeitnehmerfeindlicher gewordene Politik – kommen auch innerhalb der entwickelten postindustriellen Gesellschaften eine Reihe von langfristigen Veränderungen in Arbeitswelt, Sozialstruktur und soziokulturellen Milieus. Durch das Anwachsen des Dienstleistungssektors wurde nicht nur eine Suche nach besser ausgebildeten „Humankapital“ forciert, sondern diese neue „Arbeitnehmeraristokratie“ konnte in ihren Forderungen auch bestimmte Wünsche befriedigen: “In dem Maße aber wie, im Jargon moderner Unternehmensführung, die ‘Motivation der Mitarbeiter’ zum ‘wichtigsten Betriebskapital’ wird, kann den Beschäftigten eine kollektive Aushandlung ihrer Arbeitsbedingungen entbehrlich oder sogar unerwünscht erscheinen. Für die Gewerkschaften ergibt sich daraus die Gefahr der Auswanderung einer an Zahl zunehmenden neuen Arbeitnehmeraristokratie aus den von ihnen organisierten Solidaritätsverbänden.[21]

Durch die Agenda 2010-Reformen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes entstand zudem eine vielfältig zusammengesetzte Gruppe von irregulär Beschäftigten mit niedriger Organisationsfähigkeit und geringer Qualifikation, die die gewerkschaftlich ausgehandelten Arbeitsbedingungen im organisierten Sektor zu unterbieten drohen. “Als Folge der Unwilligkeit der Starken und der Unfähigkeit der Schwachen zu kollektiver Organisierung schrumpft die organisierte Mitte in der Tendenz immer weiter zusammen, und mit ihr die von den Gewerkschaften mobilisierbare politische und wirtschaftliche Macht.”[22]

Zu konstatieren ist folglich, dass das Verbändesystem nicht mehr die dominante institutionelle Rolle wie noch in den 1980er Jahren spielt. Durch die zunehmende Vielfalt der lobbyistischen Akteure und ihrer Methoden der Einflussnahme, werden organisierte Interessen vermehrt durch Einzelinteressen ersetzt. Spätestens in unserem Jahrzehnt ist es mehr als fraglich, ob ein ehemaliges Kernstück der Definition des (Neo)Korporatismus, nämlich die institutionalisierte und gleichberechtigte Beteiligung gesellschaftlicher Verbände an der Formulierung und Ausführung staatlicher Politik, heute noch bestand hat.

Gegenwartsdiagnose: Der schlanke Staat

Mit dem geschilderten Wandel und der zunehmenden Hegemonie einer Ideologie, die man als neoliberale Doktrin umschreiben kann, wurde auch der Staat selbst der Modernisierung ausgesetzt. Die Privatisierung der sozialen Infrastruktur und der Abbau des vorsorgenden Wohlfahrtsstaates wurde unter dem Vorbild des schlanken Staates in unterschiedlichen Maße umgesetzt. Diese Entwicklung setzte in den angelsächsischen Ländern bereits in den späten 70er Jahren ein, also in jener Phase, in der sich auch der Finanzmarktkapitalismus entwickelte.

In den mitteleuropäischen Staaten – in denen sich das rheinische Modell noch halten konnte – setzte ein Prozess der Entstaatlichung erst gegen Mitte der 80er Jahre, spätestens aber nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 89/90 ein, in der die sogenannte Schocktherapie einen nie dagewesenen Höhepunkt erreichte. In Deutschland begannen umfassende Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen erst mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts unter der Ägide der rot-grünen Koalition.

Die sozialen Sicherungssysteme werden dabei zunehmend Markt-, betriebswirtschaftlichen Leistungs- und Konkurrenzgesetzen unterworfen. Als Stichwort dient hier das New Public Management, dass in den 80er Jahren als neuer Begriff in die Verwaltungs- und Politikwissenschaften einzog. Bei dem durch zunehmend neoliberale Prinzipien geprägten Konkurrenz- und Wettbewerbsstaat handelt es sich jedoch um ein Staatswesen, das nicht mehr für alle sozialen „Kollateralschäden“ des kapitalistischen Wirtschaftens die Haftung übernimmt, die hierauf basierende soziale Ungleichheit verschärft und nicht zuletzt auf diese Weise den Boden für gesellschaftliche Ausgrenzungs- und Ethnisierungsprozesse bereichert.

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