Postdemokratie
Keine, eine oder viele Alternativen?

Die Furcht vor der Freiheit als mächtige Komplizin TINAs und aller Ideologen

Es könnte mithin sehr lohnenswert sein, sich ausführlich Gedanken darüber zu machen, was sich an den Strukturen unseres politischen Systems, vor allem an seinen Diskurs- und Kommunikationsstrukturen verändern müsste, um dessen Umgang mit komplexen Problemlagen zu verbessern. Und dazu müsste dringend auch eine zweite Überlegung kommen: Wie gehen wir mit Kontingenz, also Beliebigkeit um? Wie ertragen wir die Tatsache, dass wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen nicht absehen können, aber am Ende doch für sie verantwortlich sind. Kurz: Wie halten wir es mit der Freiheit?

Ein wesentlicher Grund nämlich, warum wir so gern in einfachen Weltbildern denken, ist sicherlich unsere Furcht vor der Freiheit. Diese von Erich Fromm geprägte Phrase beschreibt die Schwierigkeiten des modernen Menschen im Umgang mit der Tatsache, dass er in eine unübersichtliche Welt geworfen ist, in der er die Gründe und Ziele seines Handelns selbst finden und verantworten muss. Jean Paul Sartre hat dazu einmal geschrieben: Der Mensch ist verdammt, frei zu sein. Möchten Sie an Angela Merkels Stelle sein, wenn es darum geht, den richtigen Weg aus der Eurokrise zu finden? Hätten Sie Lust, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden und endlich einmal die wirklich richtigen weltpolitischen Entscheidungen zu treffen? Den meisten von uns dürfte die alltäglich Überforderung schon reichen, die damit verbunden ist, die Entscheidungen des eigenen Lebens zu treffen und gegenüber sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Auch hier geht es nicht selten um komplexe Probleme, die wir bestenfalls nachträglich überschauen können.

Was die große Politik betrifft, diagnostiziert Erich Fromm, flieht die große Mehrheit lieber in die eine oder andere Form von Konformismus, in die Bescheidwisserei des Mainstreams oder schließt sich wenigstens einer größeren Gruppe von Menschen an, die das Gleiche denken, um die eigenen Ansichten nicht mehr hinterfragen und verteidigen zu müssen. Wir können dann die Mantren TINAs nachbeten, wir können uns linken oder rechten Ideologien verschreiben, oder einfach den Weltdeutungen der Leitartikler und Kommentatoren aus Funk und Fernsehen glauben usw. usf. Wir könnten natürlich auch ehrlich zu uns und zu anderen sein und zugeben, dass wir nicht immer wissen, was das Richtige ist. Diese Erkenntnis kann aber so bedrückend und furchterregend sein, dass sie genauso lähmt wie der Glaube an die eine Lösung. Und so ist nochmals zu fragen: Wie können unsere politischen Systeme Denk- und Handlungsfreiheit zurückgewinnen im Angesicht komplexer, unüberschaubarer und nicht zuletzt beängstigender Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Finanzkrise?

Revolution – und dann?

Erik Swyngedouw möchte die Demokratie revitalisieren durch den Rückgriff aufs Revolutionäre. Er unterscheidet zwischen ‘der Politik’ (der Eliten, des Staatsapparats etc.) und ‘dem Politischen’, einer Qualität, die dann aufscheint, wenn Menschen sich selbst ermächtigen, wenn sie sich in Gegensatz setzen zum Bestehenden, Anerkannten und Etablierten. Natürlich ist dieser revolutionäre Kern von Politik eine stete Quelle der Erneuerung, des Fortschritts und nicht zuletzt der Korrektur von fehlgeleiteter, gegen die Interessen von Minderheiten oder Mehrheiten gerichteter Politik. Aber sollte es wirklich der Gipfelpunkt von Politik im 21. Jahrhundert sein, zu den Revolutionen und Klassenkämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts zurückzukehren?

Natürlich können machtpolitische Konstellationen auftreten, in denen solche Reaktionen unausweichlich erscheinen. Aber es wäre durchaus ein tragischer Schlussakkord der Geschichte der Demokratisierung des Westens, wenn diese in erneutem ideologischen Kampf, in mehr oder weniger gewaltsamem Ausagieren von Politik enden sollte, müsste. Erik Swyngedouw stellt der depolitisierten Konsens-Demokratie das Modell einer latent revolutionären, einer im Wortsinne radikalen Dissens-Demokratie gegenüber. Politik und politische Meinungsbildung soll nicht gelingen über das Anstreben einer objektiven Perspektive auf das Ganze, sondern durch den Widerstreit der Subjekte. Demokratie kann somit überhaupt nur gesunden, wenn sie zu ihren Wurzeln zurückkehrt. Aber was sind das eigentlich für Wurzeln? Die griechische Polis, die für eine Gemeinschaft von zehntausend Menschen die angemessene Organisationsform sein mochte, aber sicher nicht für einen Millionenstaat? Die im Ansatz gescheiterten Modelle einer Rätedemokratie? Swyngedouw jedenfalls zeigt Sympathien zu sozialistischen Politikansätzen. Aber diese Fragen berührt er nur am Rande.

Gegen apokalyptische Ängste helfen Hoffnung, Mut und der Wille zum Handeln

Andere haben sich damit ausführlich befasst. Und stellen immer wieder wenig überraschend fest: Die moderne Massendemokratie ist auf repräsentative, vermittelnde, zentral steuernde Organe und Institutionen angewiesen, soll sie irgend funktionieren. Es stimmt schon: Leider funktioniert sie heute nicht in allen Teilen optimal. Die Demokratie weist augenscheinlich Defekte auf. Defekte, die einer wie Erik Swyngedouw sehr prägnant aufzeigt. Auf diese Analyse und Kritik von ‘Ökologien der Angst’, wie er formuliert könnte man aber durchaus mehr aufbauen, als er es tut. Was können wir setzen gegen Angst und apokalyptische Fantasien von Zerstörung? Ganz einfach: Hoffnung, Mut und die Bereitschaft zu konstruktivem Handeln.

Und worin bitte sollte diese bestehen, wenn nicht in der Suche nach Wegen zu einer Reform unserer Demokratie? Die müssen ja die Kritik an TINA-Politik, an Machtmissbrauch und Ausbeutung nicht ausschließen – sonst wären sie wenig haltbar. Aber ebenfalls nicht ausschließen sollte man die Möglichkeit einer friedlichen, wenn auch sicher nicht einstimmigen Lösung. Swyngedouw sieht Methoden der Partizipation, der Bürgerbeteiligung in einer Komplizenschaft mit den Anhängern der alternativlosen Politik, weil die Beteiligung in staatlich vorgegebenen Formaten die Zustimmung zum allgemeinen Konsens schon voraussetze. Das ist ein durchaus starkes Argument, das ich im Hinblick auf bestimmte Ansätze der Partizipation auch schon selbst vorgebracht habe.  Wenn aber schon die Einigkeit derjenigen, die am Ende eine für alle tragbare Lösung erreichen wollen, also der bloße Wille zur Einigung in den Verdacht gerät, Demokratie als Konsens-Diktatur zu missbrauchen, ist dann eine Reform, eine konstruktive Evolution der Demokratie überhaupt noch denkbar?

Es gibt Wege von Beteiligung, von Mitbestimmung und Repräsentation, die zumindest versuchen die Vielfalt und Vielzahl der Meinungen und Zielsetzungen, durch die eine Demokratie stets gekennzeichnet sein sollte, zu berücksichtigen und aus ihr politisches Kapital zu schlagen. Aber natürlich funktionieren sie nicht perfekt. Die Repräsentation durch Parteien ist ein Beispiel dafür. Noch jedenfalls bringen Parteien durchaus und immer wieder auch stark voneinander unterschiedene Standpunkte zum Ausdruck. Aber wie gut gelingt es ihnen wirklich, den Bedürfnissen und Interessen tatsächlich großer Bevölkerungsteile Geltung zu verschaffen?

Und das Vertrauen auf die Wandlungsfähigkeit der Demokratie!

Kein Zweifel: Die Demokratie muss sich dringend weiterentwickeln. Aber dazu müssen wir an sie glauben! Nicht an ihre Defizite, Halbheiten und Lebenslügen. Sondern an ihr Versprechen einer nicht konflikt- aber doch weitgehend gewaltfreien Lösung auch schwieriger gesellschaftlicher Probleme. Das Schöne an einer auch nur halbwegs funktionierenden Demokratie ist: Sie weiß in den allermeisten Fällen nicht nur einen, nicht nur zwei mögliche Wege zur Lösung eines Problems, sondern viele. Diese Vielfalt der möglichen Lösungen und Weltentwürfe, die der Freiheit entspringt, sollten wir nicht deshalb aufgeben, weil einige Repräsentanten der politischen Eliten aufgehört haben, an sie zu glauben. Und wir sollten auch nicht in Denkmuster des vergangenen Jahrhunderts zurückfallen, sondern lernen auf neue Art und Weise über Politik nachzudenken. Auf eine Weise, die uns in den Stand setzt, auch komplexe Probleme zu lösen und zu diskutieren. Gerne gegeneinander – aber nicht ohne die Bereitschaft zur Einigung auch mit unseren Gegnerinnen. Gerne macht- und sozialkritisch – aber nicht ohne einen Blick für die unendliche Vielfalt und Komplexität der Realität.

Wenn wir stattdessen unsere Hoffnung in die Problemlösungskompetenz von Ideologien und Ideologen setzen, kann leicht geschehen, was der gerade verstorbene Richard von Weizsäcker verhindern wollte, als er am 8. Mai 1985 forderte „Lasst Euch nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen!“ Es liegt in unserer Hand, die Defizite und Mängel unserer Demokratie auf friedliche, auf demokratische Art und Weise zu bekämpfen und zu überwinden. Durch die Anwendung der Instrumente, die sie uns schon heute dazu bietet und durch deren Überarbeitung und Weiterentwicklung. Durch stetige Evolution statt Revolution. Dabei müssen wir uns – das gibt auch Swyngedouw zu bedenken – nicht einschüchtern lassen von scheinbar übermächtigen Menschen: Denn Macht, weiß der Geograph, hat keinen Ort. Sie verschwindet urplötzlich, wenn die Vielen den Wenigen nicht mehr zu folgen bereit sind. Dazu bedarf es keiner allzu einfachen Lösung für komplexe Probleme, sondern einfach nur den Mut und die Entschlossenheit wahrhaft aufgeklärter Bürger. Erliegen wir also nicht den Einflüsterungen der Kaiserin TINA! Aber fliehen wir auch nicht vor ihr in die Arme greiser und schlichter Ideologien, sondern beenden wir gemeinsam ihre Regentschaft, indem wir wieder lernen, an die Vielfalt der Möglichkeiten zu glauben, die unsere Demokratie trotz allem bereithält!

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog demokratiEvolution.

Artikelbild: ROSS HONG KONG / flickr / CC BY-NC-SA 2.0

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Ein Kommentar zu "Postdemokratie
Keine, eine oder viele Alternativen?"

  1. ernte23 sagt:

    Der Text verspricht andere Schlussfolgerungen aus der Feststellung, dass wir uns im Anthropozän befänden, als die von Erik Swyngedouw in einem Vortrag an der HU Berlin, die als ideologisch antiquiert abqualifiziert werden. Zwar wurde mir nicht so ganz klar, worin das obsolet-ideologische Moment von Swyngedouws Ausführungen bestand, aber die einleitend versprochenen anderen Schlussfolgerungen hätten die Lektüre lohnen können. Leider sind sie so schwammig geraten, dass sie beinahe von den aktuellen Regierungsparteien hätten stammen können.

    Wie diese bedient sich der Autor eines unspezifischen „Wir” bzw. „uns”, um anders als diese die demokratische Reform der Demokratie zu beschwören: „Es liegt in unserer Hand, die Defizite und Mängel unserer Demokratie auf friedliche, auf demokratische Art und Weise zu bekämpfen und zu überwinden.” Selbst wenn man Klarheit darüber hätte, wer mit „uns” gemeint ist: Was passiert denn, wenn demokratisch entschieden würde, die Mängel der heutigen Demokratie beizubehalten?

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