Postdemokratie
Keine, eine oder viele Alternativen?

Mit moderner Ideologie gegen postmodernes TINA-Denken?

Diese Kritik muss man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen. Sie abzuwehren bin ich der Falsche, sie erscheint mir allzu plausibel. Die Frage ist allerdings, ob man aus dieser deprimierenden Erkenntnis dieselben Konsequenzen ziehen sollte wie Erik Swyngedouw. Mir erscheinen diese nämlich, ganz im Unterschied zu seinen kritischen Beobachtungen, nur bedingt einleuchtend und vor allem den Erfordernissen unserer komplexen Gegenwart nur begrenzt angemessen. Was aber schlägt Swyngedouw vor? Er möchte die Politik der Alternativlosigkeit überwinden, indem er aus null Alternativen eine macht. „Politics is a matter of choosing sides“ sagt er und wirbt mit teilweise neuen Worten für ein altes Deutungsmuster von Politik: ein dialektisches.

Swyngedouw argumentiert hier weit gehend klassisch und bedient sich linker Denkmuster, um Auswege aus der Politik der Alternativlosigkeit zu finden. In einer allgemeinen Situation der Depolitisierung westlicher Gesellschaften, die Colin Crouch ‘Postdemokratie’ nennt, vermisst Swyngedouw schmerzlich den politischen Streit, den Konflikt. Er sieht Marginalisierte und Ausgegrenzte, aber auch sich selbst entmächtigende Menschen, denen es gut täte zu erkennen, dass es eine Alternative zur Politik der Alternativlosigkeit gibt. Das ist sicher keine falsche Beobachtung, und es ist erfreulich zu sehen, dass in Griechenland gerade eine neue Regierung für das Versprechen einer alternativen Politik gewählt wurde und ermutigend, dass sie tatsächlich den Willen und womöglich auch die Fähigkeit zu einer solchen besitzt.

Wenn eine Politik, die sich selbst endlich wieder nennenswerte Handlungsspielräume erarbeiten will, vom TINA-Denken zum Denken in politischen Dichotomien und Gegensätzen gelangt (also etwa Sozialfürsorge statt Sparpolitik, Verstaatlichung statt Privatisierung, Sozialismus statt Kapitalismus) dann ist das zunächst sicherlich ein Fortschritt. Die Frage ist allerdings, ob die Antwort auf die platte These vom Ende der Geschichte die Rückkehr ins ideologische Denken des 20. Jahrhunderts sein kann. ‘Es gibt nicht keine, sondern eine Alternative!’ – das mag für die geplagten Untertanen der Kaiserin TINA wie eine Erlösung klingen. Aber ist es das tatsächlich?

Mut zu anderen, zu neuen Perspektiven!

Soll, ja muss man das Dilemma einer alternativlosen Politik der Depolitisierung wirklich ideologisch und machtheoretisch erklären? Natürlich kann man das tun – die Argumente für eine solche Einordnung sind nicht schwer zu finden und nicht leicht von der Hand zu weisen. Depolitisierung führt die Menschen in politische Apathie, lähmt sie und hindert sie, die Verhältnisse in ihrem Sinne zum Besseren zu verändern. Die Erzählung Al Gores von einem unendlich bedrohlichen aber letztlich technisch beherrschbaren Klimawandel legitimiere und stabilisiere das kapitalistische System ungleicher Wohlstandsverteilung und der Ausbeutung vieler durch wenige, sagt Swyngedouw. Stimmt wahrscheinlich. Jede Politik, die den status quo zu erhalten trachtet, erhält mit ihm auch seine Ungerechtigkeiten und Fragwürdigkeiten. Jede Politik die unsere Welt so erhalten will, wie sie ist, legitimiert damit mindestens indirekt auch die Strukturen von Ausbeutung und hemmungsloser Bereicherung, die ihr eigen sind.

Nur: Wie entsteht eigentlich eine TINA-Mentalität und mit was für einer Pathologie unserer politischen Systems haben wir es da zu tun? Geht es hier nur um die Sicherung der Privilegien weniger zu Lasten der großen Mehrheit der Menschen? Dieses Motiv spielt sicherlich eine Rolle. Aber ich möchte hier den Versuch einer alternativen (!) Erklärung machen, der vielleicht helfen kann das Problem besser zu verstehen, als wenn wir es nur durch die machttheoretische, historisch-dialektische Brille betrachten. Stattdessen möchte ich es aus zwei anderen Blickrichtungen beleuchten. Die erste ist eine rein technische auf die Funktionalität unserer politischen Systeme fokussierte (und mag der einen oder dem anderen deshalb vielleicht etwas kalt erscheinen). Die zweite Perspektive ist dagegen etwas ‘gefühliger’, denn sie befasst sich mit unserem Verhältnis zur Freiheit und der Angst, die wir damit verbinden.

TINA-Denken als Versagen der Politik im Angesicht komplexer Problemlagen

Zum Ersten: Die Tendenz zu einer Politik der Alternativ- und Ausweglosigkeit, zu apokalyptischen Szenarien und Lähmungen der Demokratie durch Depolitisierung ist zunächst einmal ein Defekt eines politischen Systems, den man auch einfach als dessen Versagen im Umgang mit Komplexität beschreiben kann. Wenn wir den Klimawandel, die Eurokrise, die Probleme der Staatsfinanzierung und Haushaltspolitik und viele viele weitere Fragen einmal eingehend betrachten, müssen wir zugeben, dass es zu diesen Problemen keine einfachen Lösungen gibt. Und nicht nur der Laie ist durch sie überfordert, nein, auch die gut geschulte Expertin wird kein Modell, keine Analyse- und Prognosemethoden finden, die ihr erlauben, die Situation erschöpfend zu überschauen und angemessene, absolut zuverlässige Lösungen zu finden! Wir haben es mit Problemen zu tun, für die es schlicht und einfach keine eindeutige Lösung gibt. Weder die Eurokrise noch der Klimawandel sind aufwändige Matheaufgaben, die gelöst werden könnten, hätte man nur genug Rechen- bzw. ‘Manpower’. Sie erfordern stets und immer mutige politische Entscheidungen, die sich nicht zuletzt auf Intuition, auf Hoffnung, auf Vermutungen und Erwartungen gründen müssen.

Weil das aber der Wählerschaft in Demokratien einerseits, und andererseits – noch weit schwieriger (!) – der Medienöffentlichkeit, die Wählerschaft und Politik entscheidend beeinflusst, nicht leicht zu vermitteln ist, kann es schnell passieren, das Politikerinnen, die ihr Amt über den Tag hinaus behalten wollen, einfachen Erklärungen zugeneigt sind. Dabei mag auch die Lust an und die Sucht nach Macht eine Rolle spielen, dabei mögen finanzielle Interessen ein zusätzliches Motiv darstellen. Aber allein schon die Herausforderung, einer grundskeptischen Medienlandschaft und einer notorisch ungeduldigen Bevölkerung schwierige und notwendigerweise unsichere Lösungen für komplexe Probleme schmackhaft zu machen, kann ausreichen, um selbst anständige und intelligente Politiker (von denen es mehr gibt, als viele glauben!) in ängstliche Phrasendrescher zu verwandeln, die nur noch den Einflüsterungen TINAs lauschen.

Seite 3: Die Furcht vor der Freiheit als mächtige Komplizin TINAs und aller Ideologen

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Ein Kommentar zu "Postdemokratie
Keine, eine oder viele Alternativen?"

  1. ernte23 sagt:

    Der Text verspricht andere Schlussfolgerungen aus der Feststellung, dass wir uns im Anthropozän befänden, als die von Erik Swyngedouw in einem Vortrag an der HU Berlin, die als ideologisch antiquiert abqualifiziert werden. Zwar wurde mir nicht so ganz klar, worin das obsolet-ideologische Moment von Swyngedouws Ausführungen bestand, aber die einleitend versprochenen anderen Schlussfolgerungen hätten die Lektüre lohnen können. Leider sind sie so schwammig geraten, dass sie beinahe von den aktuellen Regierungsparteien hätten stammen können.

    Wie diese bedient sich der Autor eines unspezifischen „Wir” bzw. „uns”, um anders als diese die demokratische Reform der Demokratie zu beschwören: „Es liegt in unserer Hand, die Defizite und Mängel unserer Demokratie auf friedliche, auf demokratische Art und Weise zu bekämpfen und zu überwinden.” Selbst wenn man Klarheit darüber hätte, wer mit „uns” gemeint ist: Was passiert denn, wenn demokratisch entschieden würde, die Mängel der heutigen Demokratie beizubehalten?

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