“Iss heute, um zu überleben!”

Portugal ist auf seinem Weg Richtung wirtschaftlichen und sozialen Abgrund den Spaniern einen Schritt voraus. Dies stellte Rosa María Artal, Journalistin und Schriftstellerin, in einem Bericht über ihre Reise nach Lissabon fest. Eine Reise in die Zukunft, die auch der große Nachbar zu erwarten hat.

Lissabon, Portugal (CC-BY-SA)

Übersetzung: Walter B.

Das beliebteste Weihnachtsgeschenk war hausgemachte Konfitüre. So erzählt die Journalistin Pilar del Río, die Witwe von José Saramago. Aufmerksam und herzlich, wie die Portugiesen nun mal sind, wollten sie in diesen Tagen nicht auf ein Geschenk verzichten. Da das Geld nicht für mehr reichte, kochten sie zuhause Früchte ein. Portugal ist uns Spaniern ein Jahr voraus in der Ära der Austerität und der Sparmassnahmen. – Beide Völker sind Gefangene einer Geldgier, die keine Strafe zu befürchten hat.

Nein! Noch ist das Elend nicht im Zentrum von Lissabon angekommen. Es ist sogar weniger sichtbar als in Madrid. Aber die Situation wird einhellig als «sehr schlecht» beurteilt. Es werde «nichts mehr» verkauft. In den Strassen von Spaniens Hauptstadt sieht man mehr Bettler als in jenen von Lissabon. Aber auch hier gibt es sie: bei der Essensverteilung von einem Wagen aus in einer schlecht beleuchteten Strasse, im verlassenen Restaurant, nun bewohnt von jungen Hausbesetzern, im etwas entfernteren Park, wo Obdachlose ihr «Zuhause» gefunden haben. Oder etwa die in Trauer gekleidete Frau, die um Geld für eine Suppe bittet, da sie «seit zwei Tagen nichts gegessen» habe. Ich gebe ihr die übliche Summe. Und sie antwortet voller Würde und Wut: «Mit einem Euro kann ich mir keine Suppe kaufen.»

Wie im Zentrum von Madrid versuchen die Angestellten in leeren Restaurants mit allen Mitteln Kunden zu fangen. Immer wieder stossen sie auf blasierte Spanier, die ihnen erklären: «In Spanien essen wir halt nicht so früh.» Wie wenn das ein Verdienst wäre. Einige Bars begegnen ihrer Not mit Humor: «Iss heute, um zu überleben! Morgen kannst du es möglicherweise nicht mehr.»

Die wunderbare Stadt, Hort des Geschmacks und vieler Baudenkmäler, wird vom Virus Bershka, H&M, Zara und ihrer weit verzweigten Verwandtschaft angegriffen und in der Folge mit jenen Läden überflutet, die alle Grossstädte der Welt so gleichförmig machen – wie wenn sie alle ein grosses und uniformes Einkaufszentrum wären. Aber die Läden sind leer. Im Chiado-Quartier hingegen wird eingekauft, und die Restaurants sind voll. – Die zwei Gesichter einer sozialen Kluft, die immer grösser wird. Nur selten trifft man hier den bronzenen Pessoa alleine an, ohne dass er mit einem Unbekannten einen Kaffee trinken muss, der allerding ausschliesslich in die Kamera blickt, die auf ihn gerichtet ist.

In einer Fernsehdebatte zwischen Politikern wird Spanien und die Bankia angesprochen, «die ein Loch von 36 Milliarden hat, währen unser Finanzsystem viel besser ist». Den Portugiesen gaben sie es vorher. Die Geschäfte, die Familien sind in der Krise. Soeben mussten sie eine erneute und brutale Erhöhung der Strom- und Gaspreise sowie der Steuern auf ihren Renten erleiden. Und sie müssen eine Mehrwertsteuer von 23% ertragen. Ausser auf Büchern, die nur mit 6% besteuert sind. Nicht wie in Spanien, wo sie uns 21% aufgebrummt haben. Und ihre Löhne sind noch tiefer als unsere.

Der Zentralmarkt von Cais de Sodré ist immer noch gleich leer wie vor fünf Jahren, als ich ihn im Zusammenhang mit einer Reportage für Informe Semanal besuchte. Die Preise halten sich. Sogar Fleisch und Fisch sind günstiger geworden, günstiger als in Spanien. Sonst ist das Leben in Portugal ebenso teuer wie in Spanien – oder gar noch teurer. Ausser die Taxis. Sie kosten weniger als halb soviel wie in Madrid. Aber sie machen weniger als halb so viele Fahrten wie noch vor zwei Jahren – und arbeiten dafür 13 bis 14 Stunden täglich. «Durchschnittlich zwölf Fahrten, während es damals 28 waren», sagt mir ein Fahrer äusserst erbost.

Die Kürzungen im Gesundheitswesen machen den Portugiesen grosse Sorgen. Eine alte Dame erzählt mir, dass «sie gegen chronische Krankheiten keine Medikamente mehr einfach so herausgeben» und dass sie sich damit behelfe, die ihr verschriebenen Medikamente abwechselnd zu kaufen – einmal gegen Diabetes, dann gegen den hohen Blutdruck und schliesslich gegen Arthrose – und die Behandlung der anderen Krankheiten jeweils während Tagen unterbreche. Ärzte beklagen sich darüber, man beginne ihnen zu untersagen, teure Medikamente gegen Krebs oder Hepatitis B zu verschreiben. Der IWF verlangt noch mehr: Renten- und Gehaltskürzungen bei Staatsangestellten und die Entlassung von zwanzig Prozent der Beamten.

Ein junger Kellner kann das mit den Beamten durchaus nachvollziehen. Und er ist der einzige der vielen, mit denen ich gesprochen habe, der an eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation glaubt – langfristig gesehen …

– Wir Portugiesen «haben über unseren Verhältnissen gelebt», erklärt er.

– «Auch Sie?» frage ich ironisch.

– Nach einigem Überlegen antwortet er mit einem Lächeln: «Sie haben denselben Meister.»

In der Tat wird ein exakter Leitfaden angewendet, der den einzelnen Ländern nach und nach übergestülpt wird. Die Wut der Portugiesen ist spürbar. «Hier gibt es keinen Rechtsstaat.» «Die Korruption ist allgegenwärtig, so dass sie dir sogar den Fahrausweis wegnehmen, um zu Geld zu kommen.» «Ein Hund hat in meinen Augen mehr Wert als ein Politiker.» Als alle Politiker? Nein! Antonio Da Costa, den sozialistischen Bürgermeister von Lissabon, nehmen sie davon aus. Und warum wehren sie sich nicht? «Unser Volk ist halt sehr ruhig», wird mir mehrheitlich erklärt. «Ihr Spanier reagiert besser», antworten andere. «Auf die Strasse zu gehen, bringt gar nichts», sagt jemand. Und bei der Nelkenrevolution? Hat es da nicht geholfen? «Was ist danach geschehen? Man sieht ja, dass ‹der Meister› auch einen sozialen Aufstand besänftigen und ins pure Gegenteil verdrehen kann.» Zuweilen kommt die Wut feinsinnig zum Ausdruck: An einem Gebäude im Chiado hat jemand einen perfekt gestalteten Schriftzug angebracht, der besagt: «Ich denke, aber ich bin nicht.» Wenn man denkt, ist es schwierig, mit dem Sein aufzuhören.

«Die Leidensfähigkeit der Portugiesen ist unendlich», stellt David Dinis fest, Mitautor des Buches «Rescatados» [Die Geretteten]. Zusammen mit einer anderen hervorragenden Intellektuellen, Clara Ferreira, die ihr Buch «Estado de Guerra» [Kriegszustand] vorstellt, debattieren die beiden abendfüllend vor zahlreichem Publikum darüber, was den Portugiesen zurzeit widerfährt. «Der ganze Diskurs von Passos Coelho [der gegenwärtige, konservative Premierminister] zeugt von seiner Geringschätzung gegenüber der Politik. Ihn interessieren nur Zahlen.» «Der Führer der Opposition [Sozialdemokrat] hat kein Blut in den Adern.» Trotzdem glauben sie, dass die Regierungskoalition kurz vor dem Auseinanderbrechen ist und dass die Gegner fest mit Antonio Da Costa rechnen, wenn auch ohne viel Enthusiasmus seitens des Parteiapparates. Das bringt uns nur Vorteile. Die beiden fragen sich, ob man es noch verkraften kann, mit 30 bis 40 Prozent Armut beim Euro zu bleiben. Und sie befürchten trotz allem eine soziale Explosion – und den Aufstieg des Faschismus, so wie in Griechenland. Dinis beendet sein Votum mit der Feststellung: «2013 wird ein gutes Jahr sein – wenn wir es mit 2014 vergleichen.» Alfredo Cunah, der schon den 25. April [der Tag der Nelkenrevolution im Jahr 1974] fotografiert hatte, sagt zu mir: «Es ist wie damals. Du weisst, dass etwas passieren wird.»

Alle Möglichkeiten sind also offen in einer Zeit höchster Spannung, in der die Stricke, die voller schmerzhafter Stacheln sind, immer mehr angezogen werden? Eine Reise in unsere Zukunft? Ist es nicht so, dass diese bereits vor unserer Haustür, dass sie bereits mitten in unserer Küche angekommen ist? Wo wird sie Halt machen? Wird sie überhaupt Halt machen? Denn ein etwas anderer weihnächtlicher Glückwunsch – jener der Stiftung José Saramago – besagt in den Worten von Almeida Garrett, portugiesischer Schriftsteller und Politiker des 19. Jahrhunderts: «Ich frage jene, die sich der politischen Ökonomie verschrieben haben, ich frage die Moralisten, ob sie schon die Zahl der Menschen berechnet haben, die zum Elend verdammt sind, zu unverhältnismässigen Arbeitsleistungen, zu Demoralisierung, Schmach, Unwissenheit und zum Ruin, zu unüberwindbarem Unglück und absoluter Entbehrung – nur um einen einzigen Reichen zu produzieren.»

Das Original des Berichtes von Rosa María Artal in spanischer Sprache ist auf dem Blog Zona Crítica bei eldario.es und in deutscher Sprache zuerst auf dem Blog des Übersetzers erschienen.

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2 Kommentare zu "“Iss heute, um zu überleben!”"

  1. Herle King sagt:

    Passos interrompido por “Grândola Vila Morena”
    http://www.youtube.com/watch?v=M53-cxC8B1E
    – – –
    http://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%A2ndola,_Vila_Morena
    – – –
    Grândola vila morena (Deutsch) – Franz Josef Degenhardt

  2. Reyes Carrillo sagt:

    Ein sehr berührender, wenn natürlich auch sehr trauriger und ohnmächtig machender Artikel. Vielleicht erzielt er seine besondere Wirkung auch dadurch, dass in ihm nichts Reißerisches, nichts unpassend Überpointiertes, nichts politisch Theoretisches, vor allem aber nichts – und nicht einmal für die gute Sache – Agitierendes, Beeinflussendes, Manipulierendes zu lesen ist. Da sieht die Autorin einfach “nur” genau hin, stellt ein paar Fragen, stellt sich selbst, stellt rhetorische Fragen, hört die – überwiegend – fatalistischen Antworten – und ist betroffen inmitten dieser grandios schönen, eleganten Stadt Lissabon. Und singt dabei einen tieftraurigen wie zugleich empörten Fado.
    Dass diese Spanierin als Journalistin den Weg nach Lissabon findet und diese Stadt mit ihren wachen Augen und Ohren abtastet, das ist nichts wirklich Überraschendes. Wäre sie jedoch eine ganz “normale” Spanierin, so wäre ihr Weg nach Lissabon jedoch eine kleine Sensation! Auf eine solche abstruse Idee käme eine solche nicht oder wäre früher nicht gekommen. Portugal? Das ist doch dieses kleine Land dort, wo wir früher mit den klimatisierten Schnäppchen-Bussen bis kurz hinter die Grenze zu den Billigmärkten fuhren und wir diesen armen Schluckern mit diesem seltsamen spanischen Dialekt ihre paar Habseligkeiten abgekauft hatten. Geiz war geil! Jetzt im Laufe der Katastrophe dieses verheerenden Austeritätskurses der EU schließen nun auch die spanischen Iberer ganz, ganz behutsam den Schulterschluss mit dem vorher bloß als arm und zurückgeblieben wahrgenommenen Nachbarn und das stolze, aber immer ärmer gewordene Spanien erkennt in Portugal nun so langsam einen Bruder in der Not. Vielleicht spiegelt sich ja dieses neue Verhältnis einmal sogar in den TVE-Wetterkarten des spanischen Fernsehens wieder, in denen auf der Iberischen Halbinsel traditionell Portugal nur als unbewohnter, weißer Fleck zu sehen ist… (Trivia: Diese chauvinistische Wetterkarte präsentierte die Autorin Ana María Artal übrigens selbst in den frühen Achtzigern für ein paar Monate, als sie vorübergehend Nachrichtensprecherin bei TVE war.)
    Was für ein Traum, würden nun diese beiden Völker jedes für sich und doch gemeinsam gegen diesen ihre Existenzen, ihre Zukunft, ihre Demokratie zerstörenden neoliberalen Kurs aufstehen und ein erstes, großes Ausrufezeichen in Europa gegen den Sieg dieser brutalen Ideologie setzen! (Solch ein bisschen Revolutionsrhetorik darf schon auch mal sein.) Die Chancen dafür stehen besser denn je.
    Ana María Artal fragt ja völlig zu Recht: Und bei der Nelkenrevolution? Hat es da nicht geholfen? (Antwort natürlich: Ja, es hat geholfen!) Und wer weiß: Vielleicht baut ja Lissabon, baut Portugal dann noch einmal eine andere Brücke über den Tejo mit dem dann an den Tag des Beginns dieser Revolution gegen das neoliberale Diktat erinnernden Namen, so wie es die grandiose “Ponte 25 de Abril” (nach ihrer Umbenennung) zu Ehren der Nelkenrevolution schon viele Jahre tut.

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