Demokratie
Gedanken zu Europa

CETA ist Juncker “relativ schnurzegal”. Doch diese Gleichgültigkeit konterkariert auf zynische Weise alle Rufe nach einer demokratischeren, volksnaheren EU. Was fehlt, ist ein Jaques Delors.

Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, hat jüngst angekündigt, die Entscheidung über das CETA-Abkommen mit Kanada ohne Beteiligung der nationalen Parlamente durchbringen zu wollen.

Er begründete seine Haltung mit einem Rechtsgutachten, demzufolge CETA ein ausschließlich europäisches Abkommen sei und die Zustimmung der nationalen Parlamente damit nicht notwendig sei. Ihm persönlich, so verlautbarte er nach einem informellen Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs, sei das Abkommen „relativ schnurzegal“.

Allein die Tatsache, dass dem Präsidenten der Europäischen Kommission, der Exekutivmacht der Europäischen Union, das Abstimmungsverfahren über ein so umfassendes transnationales Handelsabkommen wie das CETA-Abkommen „schnurzegal“ ist, dürfte jeden halbwegs informierten Bürger schockieren oder zumindest befremden. Viel schwerwiegender als dieser augenscheinliche Mangel an Verantwortungsbewusstsein und politischer Weitsicht ist allerdings das zu Grunde liegende zweifelhafte Demokratieverständnis, das hier zutage tritt. So beruft sich Juncker auf eine „juristische Analyse“, die eine Zustimmung der nationalen Parlamente  als nicht notwendig bewertet und betont gleichzeitig, dass CETA das „beste Abkommen“ sei, das die EU ausgehandelt habe und an dem inhaltlich auch niemand etwas aussetzen würde.

Diese Argumentation ist aus zweierlei Gründen fadenscheinig und desavourierend.

Dass die EU-Kommission eine juristische Bewertung im bestehenden Abstimmungsprozess über CETA einholt, ist ihr gutes Recht, durchaus nachvollziehbar und an sich nicht zu beanstanden. Das Ergebnis des von Juncker angeführten Rechtsgutachtens ist darüber hinaus wenig überraschend – hierfür reicht ein Blick in den im Jahr 2009 ratifizierten Vertrag von Lissabon. Dort wurde verankert, dass die EU die alleinige Kompetenz für den Beschluss von Freihandelsabkommen besitzt, insbesondere mit Bezug auf Dienstleistungen, geistiges Eigentum und Auslandsdirektinvestitionen.

Die EU lässt keinen Zweifel aufkommen. Sie sieht sich als alleinigen Verhandler für Freihandelsverträge mit Drittstaaten und zu diesem Ergebnis kommt auch das von Juncker angeführte Rechtsgutachten im Fall von Ceta. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt: Das Ergebnis des Gutachtens mag, mit Blick auf den Vertrag von Lissabon, schlüssig sein, die Frage ob und inwieweit die EU juristischen Analysen Folge leistet und von ihrem im Vertrag von Lissabon verankerten Recht Gebrauch macht, ist eine andere.

Hier gibt es keinen Automatismus und die EU – insbesondere ihr mächtiges Exekutivorgan, die Europäische Kommission – wäre durchaus in der Lage, unabhängig von juristischen Bewertungen, die nationalen Parlamente in die Entscheidung über das CETA-Abkommen einzubinden. Gerade vor dem Hintergrund der inhaltlichen Brisanz des Abkommens , seines weitreichenden Geltungsbereichs und insbesondere vor dem Hintergrund der vielfach geäußerten Kritik an CETA, der Skepsis und den Ängsten vieler Europäer, wäre dies ein Gebot des demokratischen Verantwortungsbewusstseins und der politischen Vernunft.

Das Ceta Abkommen offenbart Mängel und die dürften Herrn Juncker eigentlich bekannt sein. Entgegen seiner Behauptung wird der Inhalt  des Abkommens sehr wohl von zahlreichen Organisationen, Gewerkschaften, Verbänden und von tausenden Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa kritisiert. Zu nennen wäre beispielsweise die durch das Abkommen zu erwartende Aushebelung des europäischen Vorsorgeprinzips zu Gunsten eines wie in den USA praktizierten Risikoprinzips, das es ermöglicht Substanzen zuzulassen, bis ihre Schädlichkeit nachgewiesen ist. Oder die zu befürchtenden schwerwiegenden Auswirkungen des Abkommens auf die Leistungen der Daseinsvorsorge. Nicht nur Arbeitnehmerrechte sondern auch Umweltschutz-, und Konsumentenschutzstandards könnten hierdurch untergraben werden.

Aus diesem Grund haben beispielsweise die Organisationen „Compact“, „foodwach“ sowie „Mehr Demokratie“ erst vor Kurzem angekündet gegen den Inhalt des ausgehandelten CETA-Abkommens vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Neben den Initiativen beteiligen sich knapp 70.000 Bürger an einer ähnlichen Beschwerde gegen Ceta. Allein im Oktober vergangenen Jahres gingen in Berlin mehr als 200.000 Menschen gegen die Handelsabkommen TTIP und Ceta auf die Straße. Es war die größte Demonstration seit dem Irak-Krieg. Vor diesem Hintergrund von dem „besten Abkommen“ zu sprechen, das die EU je verhandelt habe und an dem inhaltlich niemand etwas auszusetzen habe, ist an Ignoranz nicht zu überbieten. Es ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die sich seit vielen Monaten für eine Reform des Abkommens und ein transparentes und umfassendes  Abstimmungsverfahren einsetzen.

Warum also, so fragt man sich, äußert sich der Präsident der Europäischen Kommission in solcher Weise? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Herr Juncker augenscheinlich kein besonderes Interesse daran hat, die Bürgerinnen und Bürger Europas, die allesamt von den weitreichenden Regelungen des CETA-Abkommens betroffen sind, in die Entscheidung über das Abkommen zumindest indirekt, über ihre jeweiligen nationalen Parlamente, einzubinden – oder es ihm zumindest „schnurzegal“. Beides ist gleichermaßen verheerend und konterkariert auf geradezu zynische Weise alle Rufe nach einer demokratischeren, volksnaheren EU. Diese werden nach dem „Brexit“ immer lauter und Politiker unterschiedlicher Couleur fordern offen eine sinnvolle Reform der EU.

Der „Brexit“ ist ein historisches Votum und markiert eine Zeitwende für den Europäische Union: Erstmals seit Beginn des Europäischen Integrationsprozesses und der Gründung der EU haben die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger eines Mitgliedsstaats mit Mehrheit gegen den Verbleib in der Europäischen Union votiert. Welche Zukunft hat die Europäische Union? Wie kann ihre Legitimation gestärkt werden? Welche Reformen sind notwendig? Wie kann erreicht werden, dass Vorbehalte abgebaut und künftig mehr Menschen „ja“ zu Europa sagen? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Briten und für die verbliebenen 27 europäischen Staaten?

Diese Fragen stellen sich seitdem viele Europäerinnen und Europäer. Und diese Fragen stellen sich, so ist zumindest davon auszugehen, auch die Verantwortlichen in den verschiedenen Gremien der Europäischen Union. Die Äußerungen von Jean-Claude Juncker lassen den Verdacht aufkommen, dass er nicht zu diesen Personen gehört.

Dabei könnte er sich durchaus ein Beispiel an einem seiner Vorgänger nehmen, der in einer durchaus vergleichbaren Situation weit mehr Weitsicht, demokratisches Verantwortungsbewusstsein und politische Klugheit an den Tag legte. Die Rede ist von Jaques Delors, Präsident der Europäischen Kommission zwischen 1985 und 1995 – einer Dekade der politischen Umbrüche und Unsicherheit.

Der Zusammenbruch des Kommunismus stellte die Europäische Union damals vor neue Herausforderungen und das Auseinanderbrechen Jugoslawiens und der Krieg auf dem Balkan zeigten schmerzlich auf, dass Europa politisch uneins, zerstritten und der Europäische Integrationsprozess kein Selbstläufer darstellte, sondern Gefahr lief als abgehobenes Projekt einer politischen und intellektuellen Elite wahrgenommen zu werden. Die großen Errungenschaften des Integrationsprozesses, wie etwa die Schaffung einer Zollunion, eines Europäischen Währungssystems und eines gemeinsamen Europäischen Binnenmarktes, wurden immer mehr als gegeben angenommen und nicht als Ergebnis eines langen politischen Prozesses wertgeschätzt.

In dieser Situation erkannte Jaques Delors, dass wieder diejenigen für Europa begeistert werden müssen, die das Projekt tragen: Die Bürgerinnen und Bürger Europas. Er prägte die Metapher von der „Seele“ Europas.

Die Situation damals ähnelt dem heutigen Zustand der EU und den Diskussionen um die Zukunft des Staatenbundes und der Frage, wie die EU wieder stärkeren Rückhalt bei den Menschen gewinnen kann. Delors erläuterte seine Haltung im Februar 1992 vor der Konferenz europäischer Kirchen mit folgenden Worten:

„Wir betreten nun eine faszinierende Zeit – wahrscheinlich vor allem für die junge Generation – eine Zeit, in der die Debatte über die Bedeutung des Aufbaus Europas ein wesentlicher politischer Faktor werden wird. Glauben Sie mir, wir werden mit Europa keinen Erfolg haben mit ausschließlich juristischer Expertise oder wirtschaftlichem Know-how. (…) Wenn es uns in den kommenden zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele zu geben, es mit einer Spiritualität und einer tieferen Bedeutung zu versehen, dann wird das Spiel zu Ende sein. Daher möchte ich die intellektuelle und spirituelle Debatte über Europa wiederbeleben (…) Wir möchten diesen Prozess nicht kontrollieren, es ist eine demokratische Debatte, die nicht von Technokraten monopolisiert werden darf.“

Fast ein Vierteljahrhundert später scheint sich Europa von Ihrer Seele weiter entfernt zu haben als zuvor. Eine traurige Bilanz und das Ergebnis eines unter den Entscheidungsträgern der EU verbreiteten Politik- und Demokratieverständnisses. Die von Delors kritisierte Monopolisierung ist durch Technokraten zum Ideal erhoben, der politische Diskurs und die demokratische Einflussnahme der Bürgerinnen und Bürger geopfert worden.

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