Zeit der Monster

Ein Aufruf zur Radikalität

Der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek hat in der Le Monde diplomatique ein einzigartiges Manifest für eine neue Linke veröffentlicht. Der in der Tat philosophisch-analytische Aufruf zum mutigen Handeln in einer untergehenden Welt kommt zum rechten Augenblick – gleichzeitig seziert Zizek die Probleme und Funktionstörungen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung schonungslos und ungehemmt von politisch-korrekten Dogmatismus des herrschenden Zeitgeistes:

Zu den Protesten, die in diesem Jahr vor allem in Griechenland, in bescheidenerem Umfang auch in Irland, Italien und Spanien gegen die Sparmaßnahmen der Eurozone stattfanden, gibt es zwei konkurrierende Erzählungen.1 Die vorherrschende, vom Establishment verbreitete Erzählung schlägt eine entpolitisierte Naturalisierung der Krise vor: Die Regulierungsmaßnahmen werden nicht als politisch begründete Entscheidungen dargestellt, sondern als Imperative einer neutralen finanziellen Logik – wenn wir unsere Volkswirtschaften stabilisieren wollen, kommen wir nicht umhin, die bittere Pille zu schlucken. Die andere, die Erzählung der protestierenden Arbeiter, Studenten und Rentner, sieht in den Sparmaßnahmen nur einen weiteren Versuch des internationalen Finanzkapitals, die letzten Reste des Wohlfahrtsstaats zu demontieren. Der Internationale Währungsfonds erscheint aus der einen Perspektive als neutraler Agent von Disziplin und Ordnung, aus der anderen als Unterdrücker im Dienst des globalen Kapitals.

Beide Perspektiven enthalten ein Moment von Wahrheit. In der Art und Weise, wie der IWF seine Klienten behandelt, gibt es unübersehbar die Dimension eines Über-Ichs: Der IWF rüffelt und bestraft für nicht zurückgezahlte Kredite, gewährt zugleich aber neue, die die Klienten, wie jedermann weiß, wieder nicht werden zurückzahlen können, wodurch sie noch tiefer in den Teufelskreis geraten, in dem Schulden neue Schulden nach sich ziehen. Andererseits funktioniert diese Über-Ich-Strategie gerade deshalb, weil die Kreditnehmerstaaten genau wissen, dass sie die neuen Kredite nicht in voller Höhe zurückzahlen müssen; sie machen neue Schulden in der Hoffnung, letzten Endes doch davon zu profitieren.

Dennoch, auch wenn beide Erzählungen ein Körnchen Wahrheit enthalten: Sie sind gleichermaßen fundamental falsch. Die Erzählung des europäischen Establishments verschleiert die Tatsache, dass die hohen Staatsdefizite das Resultat massiver Hilfen für den Finanzsektor und sinkender Steuereinnahmen während der Rezession sind; den hohen Kredit, der Athen gewährt wurde, werden die Griechen zur Begleichung der Schulden verwenden, die sie bei den großen französischen und deutschen Banken haben. Der eigentliche Zweck der EU-Garantien ist es, Privatbanken beizustehen, da es diese schwer treffen würde, wenn einer der Staaten der Eurozone pleiteginge.

Auf der anderen Seite zeugt die Erzählung der Demonstranten wieder einmal vom Elend der heutigen Linken: Ihren Forderungen fehlt jeder positive programmatische Inhalt, sie bringen nur eine allgemeine Weigerung zum Ausdruck, den bestehenden Wohlfahrtsstaat aufs Spiel zu setzen. Ihre Utopie ist nicht eine radikale Veränderung des Systems, sondern die Vorstellung, der Wohlfahrtsstaat ließe sich innerhalb des Systems erhalten. Auch hier sollte man das Körnchen Wahrheit nicht übersehen, das in der Argumentation der Gegenseite enthalten ist: Wenn es beim globalen kapitalistischen System bleiben soll, wird es tatsächlich notwendig sein, Arbeitern, Studenten und Rentnern weiterhin Geld abzunehmen.

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Zum Thema:

– Die Moralität des Ungehorsams: Was Chomsky und Foucault der Protestkultur zu sagen hätten

– Die Restauration der Arbeitsgesellschaft: Hartz IV und die Hegemonie der Erwerbsgesellschaft

– Rousseau, Keynes oder der Traum von der gerechten Gesellschaft

– Der Landbote

– Die Krise

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