Der Landbote

“Schon Georg Büchner hatte aus der Revolution von 1830 erkannt, dass das wohlhabende “Bürgertum” die Interessen des Volkes unverzüglich zu verraten bereit war, sobald es seine eigenen Forderungen befriedigt sah”

Von Sebastian Müller

Was ist die Finanzkrise? Sie ist letztendlich ein Produkt, dass der Sakralisierung des Marktes entspringt. Der Markt wird von denjenigen zum Götzen verklärt, die an meisten von seiner Akkumulationslogik profitieren: eine kleine elitäre Kaste. Allein in Deutschland besaßen die oberen 10 Prozent der Gesellschaft im Jahr 2007 61 Prozent des Vermögens  – Tendenz steigend. Fünf Jahre zuvor lag der Anteil am Gesamtvermögen noch bei 58 Prozent. Unter der rot-grünen Regierung wurde – man kann es nicht oft genug wiederholen – den Profiteuren, den Wirtschaftsmächtigen seit der Jahrtausendwende die Tür zur Vermögensanhäufung und Spekulierung weit geöffnet.

Um es zu zitieren: “Die GRÜNEN haben mit der SPD die Finanzmärkte so dereguliert, wie es sich Kohl vermutlich nie getraut hätte. Sie haben den jetzigen Casinobetrieb erst ermöglicht. Einen Antrag zu einer Börsenumsatzsteuer haben sie noch in der letzten Legislatur abgelehnt. Die unter Rot-Grün durchgesetzten Spitzensteuer- und Unternehmenssteuersenkungen haben eine in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Vermögenskonzentration bewirkt – die Spekulationsmasse für den Casinobetrieb. Die Banken sprechen deswegen schon seit Jahren von einem “Anlagenotstand”. Bis zur Finanzkrise wussten sie gar nicht wohin mit den ganzen Vermögen, um für ihre Eigentümer attraktive Renditen zu erzielen.”

Gut zehn Jahre später ist eine schwarz-gelbe Koaltion an der Macht. Wie reagiert diese Regierung auf die jetztige Krise, die dem Versagen der Politik verschuldet ist? Sie sozialisiert die Verluste und privatisiert die Gewinne. Sonst handelt sie kaum. Es scheint wenig Interesse an einer Regulierung der Finanzmärkte, geschweige denn des Wirtschaftsystems insgesamt, zu geben. Warum existiert dieses Interesse nicht? Weil die Profiteure des Status Quo an der Macht sitzen. Es ist die Finanz- und Wirtschaftsoligarchie, die ihre Verwerfungen, ihre Kosten der Spekulation und des Versagens ohne Gegenleistung (zB. die Umverteilung von erwirtschafteten Vermögen) auf die Bevölkerungen abwälzt. Es wird nicht regiert, sondern lediglich im Interesse der Finanzindustrie auf die Krise reagiert: drakonische Sparprogramme für die Staaten, die letztendlich die Schwachen und Schwächsten der Gesellschaft treffen werden.

Was zu konstatieren ist, ist ein gegenseitiges Stützen und an die Macht hieven zwischen einer korrumpierten politischen Klasse und den Wirtschaftsmächtigen. Tatsächlich überschneiden sich diese beiden Gruppen in ihren Befugnissen und Handlungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Deutsche Bank Chef Josef Ackermann pflegen enge Kontakte. Mit Hans Tietmeyer wurde von ihr das damalige Aufsichtsratmitglied bei der Hypo Real Estate, als Vorsitzender einer Expertenkomission zur Bankenregulierung vorgeschlagen. Damit hätte Merkel den Bock zum Gärtner gemacht. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich im Aufsichtsrat eines großen Ölkonzerns wohlig eingerichtet. Und dies sind nur wenige Beispiele.

Große finanzielle und mediale Unterstützung können Politiker und Parteien erwarten, die sich den Wirtschaftsinteressen gefügig machen. Politische Hilfe lohnt sich für beide Seiten, die eine Hand wäscht die Andere. Dieses Prinzip ist so alt wie die Geschichte selbst. Historiker sprechen hier von einem Gabentausch. Doch die Grenzen zur Korruption verschwimmen hier. Wenn man wie Heribert Prantl ein Unterlassungsdelikt im Verhalten der Regierung sieht, man aber die Ursache des Unterlassungsdeliktes in der engen Verzahnung von Politik und Wirtschaft sucht, dann ist der Vorwurf des Amtsmissbrauchs – also Korruption – nicht allzu fern.

Mit anderen Worten, wir befinden uns in einem plutokratischen System, in dem der Geld- und Wirtschaftsadel und der politische Adel Machtkonsolidierung betreiben und sich gegenseitig begünstigen. Damit wird unsere Verfassung, dernach das Volk der Souverän ist, in Frage gestellt und unsere Demokratie weiter ausgehöhlt, da ihre Institutionen zu bloßen Staffagen zu verkommen drohen.
Es ist eine Korrumpierung des seit der französischen Revolution an die Macht gekommenen, bürgerlich-kapitalistischen Systems zu konstatieren – sofern die bürgerlichen Ideale nicht schon immer, durch die Logik der Kapitalakkumulation bedingt, den Ursprung des Verfalls in sich trugen.

Schon Georg Büchner hatte aus der Revolution von 1830 erkannt, dass das wohlhabende “Bürgertum” die Interessen des Volkes unverzüglich zu verraten bereit war, sobald es seine eigenen Forderungen befriedigt sah. So geschehen auch in Hessen, als im September 1830 ein Bauernaufstand ausbrach, eine Hungerrevolte, die im “Blutbad von Södel” niedergeschlagen wurde, während das liberale Bürgertum, durch konstitutionelle Zugeständnisse zufriedengestellt, sich auf die Seite der Regierung stellte und in einem Aufruf zum “Gehorsam gegen die Obrigkeit” aufforderte.
Büchner zog daraus die Konsequenz, dass zur Erringung der sozialen Besserstellung der Massen die besitzlosen Klassen sich vom Bürgertum nichts erhoffen durften, dass stattdessen der Kampf auch gegen die “Reichen” geführt werden muss, will er nicht nur Herrschaftsverhältnisse, sondern auch Besitzverhältnisse ändern. Dementsprechend richtete sich der Büchnersche Entwurf des “Hessischen Landboten” nicht nur gegen die feudalen Mächte, sondern auch gegen das begüterte Bürgertum.

Wohl dem, der Heute in der Politik den Mut hat, das Volk zum Handeln aufzufordern. In einer Zeit, in dem der Satz Willy Brands, “Mehr Demokratie wagen”, in weite Ferne gerückt zu sein scheint.
Nichts fürchtet das bürgerliche, reaktionär-konservative Deutschland denn auch mehr, als soziale Unruhen. Die Erfahrungen der 68er Bewegung haben sich in diesen Kreisen tief eingebrannt. Es ist also nicht verwunderlich, dass einem Politiker der Linken, der zu sozialen Unruhen aufruft, die grenzenlose Empörung aller etablierten Parteien entgegenschlägt – es ist jedoch eine Empörung, die in Angst begründet ist. Folgerichtig ist es dann auch, dass die Linke, der man (zumindest im Westen) vielleicht noch das jugendliche, aufbrausende, unverbrauchte und daher ehrliche Fordern nach sozialer Gerechtigkeit attestieren kann, vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Der Verfasser sagt jedoch “Chapeau” zu diesem Politiker. Denn Mut zum Aufstand, oder zivilen Ungehorsam, ist das, was jetzt vielleicht am ehesten nötig ist.

An Legitimität für einen Akt des Aufbegehrens würde es nicht fehlen – nicht nur weil ein demokratisches Recht zur Demonstration verbrieft ist. Das Recht zum zivilen Ungehorsam – und wenn das nicht reicht, sogar das Recht zum gewaltsamen Widerstand – ist dann ein Naturrecht, wenn dem Volk die staatsbürgerlichen Rechte und damit die von der Verfassung verbriefte Partizipation an der Mitgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung genommen werden. Der Verfassungsschutz hat demnach genauso wenig mit der Verfassung zu tun, wie das juristische Recht mit Gerechtigkeit.

Die jungen Griechen sind diesbezüglich schon weiter. Doch was wir brauchen, sind gesamteuropäische Unruhen, um der Machtlosigkeit zu begegnen. Um die Frage, wie unser Europa konstituiert sein soll, aufrecht zu erhalten, bedarf es den Widerstand gegen die strukturelle Entwicklung der Ökonomisierung – dh. auch gegen die Tendenz der verfassungswidrigen Auflösung des Sozialstaatsgebots und nicht zuletzt unserer republikanischen Ordnung.
Mit anderen Worten: Es existiert sogar eine Pflicht zum Widerstand gegen diese falsche Freiheit, der Freiheit der Wölfe, die von den Neoliberalen propagiert wird und rein vom Kapital bestimmt ist. Solche Kämpfe werden zum Teil schon im Mikrokosmos gefochten, in der Urbanität, wo sich die Frage der kapitaldominierten oder alternativen Stadtplanung und Entwicklung stellt.

Widerstand entspringt der historischen Logik der Revolutionen, die dann hereinbrechen, wenn die bestehenden Verhältnisse für die Mehrheit der Menschen ethisch – und vor allem wirtschaftlich – nicht mehr tragbar sind. Erst die Zunahme der Not wird die Bereitschaft zum Widerstand verstärken. Der konservative Bürger der Mittelschicht wird die gegenwärtige Ordnung wohl erst dann in Frage stellen, wenn auch ihm die Felle davonschwimmen.
Das erkannte auch Büchner: “Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das notwendigste Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Torwerk ist.” In diesem Sinne erschien dieser Kommentar bezüglich seiner Radikalität womöglich 10, 20 oder gar 30 Jahre zu früh. Doch er wird akut werden, wenn der neoliberale Enteignungsprozess der Mehrheit der Menschen wie bisher weiter geht.

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