Bürgerlichkeit und Beharrung

Von Jan Mollenhauer

Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist schon wieder vorbei, ohne, dass es eine stichhaltige oder gar handfeste Neuorientierung der Ordnungs- und Sozialpolitik gab. So waren es die in den späten achtziger Jahren aus dem anglo-amerikansichen Raum motivierten Spekulanten, die im Windschatten des Zerfalls eines Kommunismus das Ende der Geschichte propagierten, den Sieg des Kapitalismus und folglich auf dem Ross des Neoliberalismus den Staat und die Freiheit demontierten. Mit der Krise kam eine große Chance, die unverrichtet wieder abzog.

Der Verdruss über das Versagen der Repräsentanten ließ in Symbiose mit den neuen Medien ein großes Potenzial an kritischer Beurteilung frei, die Allverfügbarkeit der Theoreme und Theorien sprengte den bisher tradierten, die parlamentarische Ordnung als quasi unumstößlich anerkennenden Rahmen. Die Krise, die gleichermaßen Herbst und Frühling ist, war nun aber keine Sphäre neuer Ideen – ganz im Gegenteil: Die Wellen einer Qualität des Unerhörten stießen gegen Deiche intellektueller Beharrung. Die altbekannten Gegner eines ungezügelten Marktes nutzten ihre Gelegenheit nicht, weil die Rezepte altbacken, die Utopien oder Visionen unscharf oder abgegriffen waren und sind. Die Linken haben es nicht verstanden, dass diese unsere neue Zeit nach neuen Ideen und Konzepten verlangt und eben keine Analogie zu geschichtlichen Verhältnissen darstellt. Die intellektuelle Nostalgie linker Dialektik ist ein unzeitgemäßes Relikt des Kalten Krieges, denn die traditionellen Linien von „links“ und „rechts“ und von „progressiv“ und „konservativ“ dienen nicht mehr zum Erkenntnisgewinn aktueller Probleme. Schließlich befinden wir uns in einem sozialdemokratischen Zeitalter mit Ausprägungen, die das traditionelle Projekt „linker“ Emanzipation(en) konterkariert.

Jedoch, der öffentliche Diskurs wird von einer kapitalismuskritischen Linken bestimmt. Besonders zu beobachten ist dies in den letzten Tagen gewesen, als Thilo Sarrazin mit provokativen Thesen in die Öffentlichkeit drang und nahezu alle Zeitungen über ihn richteten, in einer Weise, als hätten sie es besser begriffen als der Autor selber. Brisant ist wohl, dass jene, die sich kritisch mit bestimmten sozialdemokratischen Ausprägungen bis hinein ins Extreme auseinandersetzen, von eben jenem Juste Milieu fast schon verteufelt werden. Kritik an den Heiligtümern der linken Weltanschauung, wie etwa Wohlfahrtsstaat und hier explizit Umverteilung wird kategorisch inkriminiert. Vermutlich aus Furcht, die Dominanz im Zeitgeist aus der Hand genommen zu bekommen. Das verhindert eine differenziertere Betrachtung dessen, was sich in dieser unserer Gesellschaft seit der rheinischen Republik getan hat. Etwa die Verschiebung der Bedeutung von Arbeit und Kapital bei stetig zunehmender Belastung des Faktors Arbeit bei einer zügellosen Begünstigung des Kapitals, ein nicht etwa sinkendes, sondern steigendes Budget der Umverteilung, den sich immer mehr vollziehenden Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft und zu guter letzt der moderner Steuerstaat als omnipräsenter Regulator, bis hin zum Kleptokrat.

Genau in diese Wunde legte Peter Sloterdijk seine Finger, indem er mit kontroversen und intellektuell fordernden Thesen zum modernen Steuerstaat Furore machte. Dabei ist zwingend zu betrachten, dass Intellektuelle das Vakuum, den Vektor der Ideenlosigkeit, in dem sich die Akteure im Öffentlichen gezwungener Maßen bewegen, zu füllen versuchen. Die Frage des Staates versteht sich hier nicht als ideologisch-politische, sondern als anthropologisch-technische Frage. Denn, was Sloterdijk verstanden hat, ist doch das Ungleichgewicht aus Eigenverantwortung und sozialer Verantwortung zu Gunsten einer Bevormundung des Individuums, durch das Ausweiten einer öffentlichen Hand, die in semi-sozialistischer Manier den arbeitenden Bürger enteignet und zwar jedes Jahr.

Ein Sozialstaat wird zu keinem Zeitpunkt ernsthaft auf praktischer Ebene bestritten. Indes, es muss in einer freiheitlichen Gesellschaft eine staatsfreie Sphäre geben (auch eine marktfreie), in der der Bürger als Citoyen und nicht als Burgeois souverän entscheiden kann. Diese Sphäre sollte möglichst groß sein und in den notwendigen Bereichen, etwa dem Markt, insbesondere dem Kapitalmarkt regulierend eingreifen. Den Sozialstaat weiter aufblähen zu wollen ist ganz zwangsläufig das schleichende Ende der persönlichen Freiheit, die in einem Gegensatz zur sozialen Verantwortung steht. Es muss ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt sein, aber eine Gruppe Steueraktiver zu schröpfen, um damit ein sich aus intellektueller Leere ergebendes Instrumentarium unzeitgemäßer, geradezu reaktionärer Maßnahmen zu finanzieren ist unlauter.

Genau dieses zu begreifen ist eine Herausforderung für die Linken, weil es ihre ideologische Achse aushebelt. Dabei impliziert Demokratischer Sozialismus ja zwingend, überzeugend zu argumentieren. Viele Linke treten aber eher als Lehrer auf, die gleichsam die Wahrheit erklären wollen. In der endgültigen Versöhnung mit dem Liberalismus, keinem rein wirtschaftlichen, sondern vielmehr einem politischen, darin liegt die Zukunftsmöglichkeit für die Linken.

Editorische Notiz: Ich möchte herzlich Sebastian Müller danken, der es mir ermöglichte, meine Position in ein überaus kritisches Milieu hineinzutragen und somit besonders kontrovers und erbaulich zu diskutieren!

Zum Thema:

– Umfrage: Dominieren Linksintellektuelle den politischen Diskurs?

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