Haushaltspolitisch untragbare soziale Zusagen sind in Griechenland das effektivste Vehikel für den Aufstieg politischer Parteien an die Macht. In einem klientelistischen System werden diese jedoch kaum in Frage gestellt.
Von Emmanuel Mavrozacharakis
Die für den 25. Januar angesetzten Neuwahlen in Griechenland geben wenig Anlass zur Hoffnung. Denn die etablierten Machtparteien verkörpern zwar seit jeher eine Politik des scheinbaren haushaltspolitischen Rationalismus – in Wirklichkeit ist diese aber in einem irrationalem System klientelistischer Zusagen und Gegenleistungen eingebettet. Auf diese Art und Weise erringen sie das Vertrauen der Öffentlichkeit, weil diese den Zusagen der Machthaber um Vorteile, Konzessionen und Privilegien vertraut. Der schwierige Weg der Rationalisierung von Staat und Gesellschaft wird umgangen.
Mit einem ausgedehntem System der Vetternwirtschaft reservierte sich die griechische Gesellschaft den eigentlich selbstverständlichen Anspruch auf soziale Sicherheit und Wohlstand. Dieser Tatbestand verzerrte einerseits die Funktionsweise des Staates insgesamt, und zehrte andererseits erheblich an den Staatsfinanzen. Mit anderen Worten: In historischer Hinsicht war und ist in Griechenland der Anspruch auf „individuelles Glück” mit dem Anspruch auf kollektives Wohlergehen nicht unbedingt verkoppelt.
Zwar ist die Vetternwirtschaft keine griechische Erfindung, doch nirgendwo sonst wird sie so systematisch praktiziert. Die jeweiligen Regierungen stellen ihre Anhänger in der Hoffnung auf Gegenleistungen zufrieden – und schrieben oft sogar die Gesetze zu deren Gunsten um.
Anders als in den westeuropäischen Ländern entwickelten sich in Griechenland Strukturen eines wilden Korporatismus, welche kaum die einzelnen Partikularinteressen zähmen konnten. Stattdessen entstand ein bürokratischer Klientelismus in Form von ausgedehnten und zerstreuten Klientelnetzwerken, mittels derer die beiden grossen Volksparteien (PASOK und Nea Dimokratia) die Verwaltung kontrollierten. Jede politische und soziale Gruppe bemüht sich, durch ihre Beziehungen zu den Parteiennetzwerken in der Verwaltung ihre Einzelinteressen durchzusetzen. Das Ergebnis ist ein deformierter Staat, der aufgrund seiner institutionellen Schwächen, die auf die nachhaltigen Praktiken von Klientelismus, Personalismus und Rentiersmentalität zurückzuführen sind, kaum den Weg einer umfassenden Europäisierung gehen kann.
Auf die Wirkung gewachsener Netzwerke organisierter Interessen in und um den Staat verweiste bereits der amerikanische Ökonom Mancur Olson. Er definierte diese Netzwerke als “redistributive Allianzen”, die ihrer eigenen Interessenslogik folgen. In der machttheoretischen Konstruktion Olsons prägt der Abhängigkeitsgrad der politischen Führung von kompakten Interessengruppen den politischen Entscheidungsprozess. Je mehr gewisse Interessensgruppen in der Lage sind, ihre individuelle Nebeninteressen zu verfolgen und dabei etwaige negative Auswirkungen ihrer Bestrebungen auf die Gemeinschaft zu ignorieren, desto geringer ist die Möglichkeit einer politischen Entscheidungsfindung, die dem Gemeinwohl dient.
Dementsprechend reagieren solche machtvollen Interessengruppen in Zeiten des Wandels und der verbreiteten Unsicherheit in der Regel defensiv und reformfeindlich. Ein andauerndes Wachstum dieser redistributiven Allianzen kann den Staat im Extremfall in enorme Bedrängnis bringen und lang ersehnte Modernisierungsprozesse verhindern.
Aber schon die Art der Reform – ausgehandelt oder auferlegt – ist gegenwärtig Ursache für Konflikte und Auseinandersetzungen. So lies der Schock eines extern formulierten Austeritätsprogramms, das Stabilisierung durch Deflation zu erreichen sucht, 2010/11 wenig Spielraum für andere Optionen. Die Umsetzung des von IWF, EU und EZB diktierten Memorandums und der darin festgelegten Reformvorgaben beschränkten unmittelbar und zu einem erheblichen Ausmaß Arbeitnehmerrechte und schwächten die Gewerkschaften. Dies jedenfalls ist ein fatales Ergebnis eines ungezügelten Korporatismus, der in klientelistische Strukturen eingebettet ist.
Die verhängnisvolle Komplizenschaft zwischen Gesellschaft und Macht zeitigte tragische Folgen, die sich in Form einer horrenden Staatsverschuldung manifestieren. Ein Blick auf die Entwicklung der Schulden in Griechenland zeigt: die griechischen Politiker sind in aller Regel zu einer dauerhaften Haushaltsdisziplin nicht in der Lage. Der Staat gab immer mehr aus als er einnimmt – auch in den besten Zeiten. Das Resultat offenbart sich in einem Schuldenstand, der immer neue Höchststände erreicht. Das politische System reproduzierte sich lange und unbedrängt unter Bedingungen der Verschleierung der realen politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Zwänge. Dass diese Zwänge unter den geeigneten Umständen umso massiver zum Vorschein treten würden, war jedoch vorauszusehen.
Nach der Militärdiktatur von 1967-73 demokratisierte sich Griechenland zwar rasch und integrierte sich schnell im europäischen Kontext. Gleichzeitig erlebte das Land aber fast 40 Jahre lang eine Phase imaginären Wohlstands, der auf Konsum-Obsessionen gegründet war. Ein Missstand, der bewusst von den herrschenden politischen und wirtschaftlichen Eliten geschürt wurde. Auch in der gegenwärtigen Sackgasse wird das Spiel mit den Halluzinationen von den Machteliten fortgesetzt.
Kein Licht am Ende des Tunnels
Illusionen wurden bis zuletzt sowohl seitens der noch amtierenden Regierung, als auch von der Opposition in Bezug auf das sogenannte “Grecovery” verbreitet. Grecovery bedeutet sinngemäß soviel wie “etwas Licht am Ende des Tunnels”, oder “die Hoffnung auf ein Ende der Krise”, bezieht sich also auf die Erholung der griechischen Wirtschaft, auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und auf eine Rückkehr zum Wohlstand. Es ist jedoch offensichtlich, dass es sich hierbei um eine von den Tatsachen losgelöste Sicht handelt, zumal die Erholung des Landes im tiefen Gegensatz zum alltäglichen Elend der Griechen steht.
Dennoch ist das „Grecovery“ gleichermaßen attraktiv und trügerisch. Die ständigen Nachrichten über eine Aufwertung Griechenlands von den Rating-Agenturen, verbunden mit einer Steigerung seiner Kreditwürdigkeit und der erneute Zugang des Landes zu den Finanzmärkten nähren diese Illusion. Doch nicht nur, dass angesichts der gescheiterten Wahl des Staatspräsidenten und den anstehenden Neuwahlen die Aussicht auf eine Schuldenregelung durch eine Konferenz von Kreditgebern oder durch günstige Regelungen der EU-Partnerländer ersteinmal in weite Ferne gerückt ist. Auch die Ankündigungen einer ganzen Reihe frivoler Programme für den Wiederaufbau und die Entwicklung, sowie der Glauben an eine Rückgewinnung des internationalen Vertrauens sind unrealistisch.
Denn die Wirklichkeit sieht anders aus. Ernüchternd sind zunächst einmal sind die Zahlen, die das politische Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem politischen System ausdrücken. Der Glaube an einen Neuanfang durch Neuwahlen relativiert sich nach einer aktuellen Umfrage: Demnach misstraut der grösste Teil der Gesellschaft der Linksopposition des Syriza genauso wie der Regierung. Während 64 Prozent der Befragten ohnehin nicht an die Versprechen der gescheiterten Regierung vom Ausstieg aus den “Memoranden” glaubten, erwarten 69 Prozent auch von einer nun möglichen Syriza-Regierung nicht den von ihr versprochenen Ausstieg . Nur 10 Prozent glauben, dass die amtierende Regierung „ganz sicher“, ihr Ausstiegsversprechen einlösen kann. Was das gleiche Versprechen von der Linksopposition betrifft, glauben nur 5% der Befragten an einen Ausstieg.
Was nun die gesellschaftlichen Folgen der Krise anbelangt, sind die Ζahlen umso dramatischer. Die Jugendarbeitslosigkeit im Alter unter 25 lag 2013 bei 64 Prozent, während sie in Deutschland vergleichsweise niedrig bei 8 Prozent liegt. Heute hat sich diese Zahl aufgrund der erhöhten Migration etwas verringert. Es ist bezeichnend, dass in den letzten vier Jahren rund 140.000 junge Wissenschaftler ins Ausland auswanderten.
Die Auswirkungen der Krise in Griechenland werden unter anderem von den verschiedenen sozialen Berichten der Europäischen Kommission dokumentiert. Danach ist in Griechenland die größte Zunahme von Arbeitslosigkeit (+ 19,7%) der arbeitenden Bevölkerung seit dem Tief von März 2008 anzutreffen. Genauso die größte Reduktion der Nominallöhne je Arbeitnehmer im Jahr 2012 (-4,2%), der größte Kostenreduktion des Arbeitsfaktors im gleichen Jahr (-6,2%), die größte Reduktion der Produktionskosten pro Arbeitseinheit (-5,5%), die höchste Steigerung im Vergleich zu 2008 des Anteiles der jungen Menschen, die weder in der Ausbildung oder auf dem Arbeitsmarkt sind (+ 8,6% der Bevölkerung im Alter von 15-24 Jahren), der größte Rückgang der Beschäftigung (-11,6%) seit 2008 und die größte Zunahme der Auswanderung in andere Länder der Europäischen Union (+ 170%).
Insgesamt sind die Berufsaussichten im Land katastrophal. Griechenland gilt inzwischen nicht nur als der europäische, sondern auch als der weltweite “Champion“ der Arbeitslosigkeit! Die offizielle Arbeitslosenrate für das erste Halbjahr 2014 erreichte 28 Prozent ( 2.000.000 Menschen). Bei Frauen beträgt die Arbeitslosenquote 35 Prozent. Doch nur 10,5 Prozent der Arbeitslosen bekommen Arbeitslosengeld. 3,5 Millionen Beschäftigten stehen inzwischen insgesamt 1 Millionen Langzeitarbeitslose gegenüber.
Die letzte ILO Studie mit dem Titel „Productive Jobs for Greece“ beschreibt die bisherigen Möglichkeiten zur Arbeitsbeschaffung im Land als „anämisch“. Mehr als 70 Prozent der fast 1,3 Millionen Arbeitslosen in Griechenland sind länger als ein Jahr ohne Arbeit. Seit der Krise 2008 ist einer von vier Arbeitsplätzen verloren gegangen. Der Anteil der Griechen, die einem Armutsrisiko ausgesetzt sind, hat sich innerhalb von fünf Jahren mehr als verdoppelt und stieg von 20 Prozent im Jahr 2008 auf mehr als 44 Prozent 2013. Die Zahl der Haushalte, die aufgrund unbezahlter Rechnungen ohne Strom auskommen mussten, wurden zu Beginn des Winters 2013 auf 350.000 geschätzt.
Parallel dazu gerät Griechenland aufgrund der Sparpolitik immer mehr in eine Gesundheitskrise. Dies behaupten in einer Studie Forscher der britischen Universitäten Cambridge, Oxford und London. Nach Ansicht der Forscher traf der rigide Sparkurs vor allem die Vorsorgeprogramme. Dies hatte zur Folge, dass die Zahl der HIV-Neuinfektionen dramatisch angestiegen sind. Zudem würden mittlerweile geschätzt 800.000 Griechen aufgrund von Arbeitslosigkeit komplett ohne Krankenversicherung dastehen.
Der Hauptgrund für die aufgeführten sozialen Missstände liegt in der aufgezwungenen Sparpolitik der Troika. Es handelt sich hierbei um drastische Kürzungsprogramme, die auf einer strukturellen Kopplung von massiven Lohn-, und Rentenkürzungen, der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, der zunehmenden Intensivierung der Arbeit, den Entlassungen im öffentlichen Sektor, der Überbesteuerung niedriger und mittlerer Einkommen, der ausgedehnten Reduzierung öffentlicher aber auch privater Investitionen fussen.
Der Rückgang der Innlandsnachfrage, der Innlandsproduktion und des BIP in Kombination mit der Massenschliessung von Kleinunternehmen sind das naheliegende Ergebnis dieser Politik. Wie Savas Robolis, Professor für Wirtschafts- und Sozialpolitik an der Athener Panteion-Universität und Direktor des Forschungsinstituts für Arbeit der Gewerkschaftsdachverbände, vorrechnet, hätten von den 960.000 griechischen Unternehmen 930.000 im Schnitt nicht mehr als vier Mitarbeiter. Diese Kleinstunternehmen seien nun aufgrund der sinkenden Kaufkraft der griechischen Haushalte am Ende, so Robolis.
Allein im Jahr 2010 machten rund 60.000 dieser Mini-Firmen dicht, und 2011 war die Zahl noch höher. Nach Berechnungen der Griechischen Industrie-, und Handelskammer haben seit Anfang der Krise bereits 200.000 kleine und mittlere Firmen geschlossen. In Zukunft sollen noch 300.000 folgen, wenn diese Politik fortgesetzt wird.
Das soziale Mosaik in Griechenland ist durch Arbeitslosigkeit, Armut und der neuen Migration, also insgesamt durch den Absturz des Lebensniveaus gekennzeichnet. Ein Bild, das keineswegs an ein «Grecovery» erinnert. Zudem verkörpern die Parteien im Prinzip keine bestimmten Politikinhalte, womit auch keine zusammenhängende programmatische Prioritäten existieren, die auf aktuellen und fundierten wirtschaftlichen und sozialen Studien beruhen würden.
Der Machtgewinn basiert vielmehr auf klassenspezifischer Unklarheit sowie ideologischer Verschwommenheit. Eine kollektive, direkte und echte Klassenbezogenheit oder Praktiken und Verpflichtungen im diesem Sinne sind kaum noch auszumachen. Die Verpflichtungen der Parteien gegenüber gewissen Klassen oder bestimmten Interessensgruppen bilden sich eher unter dem Tisch und indirekt heraus, und sind an die Reproduktion der Machtelite gekoppelt.
In Griechenland hat sich der Klassenkompromiss auf der Hinterbühne des öffentlichen Geschehens herausbildet. Aus diesem Grunde stilisieren sich nicht selten die bürgerlichen Parteien als Verteidiger der Schwachen und die sogenannten fortschrittlichen Parteien als Anwälte des Unternehmertums. Nicht zuletzt deshalb dürfte die Periode der EU-Memoranden bei den Griechen ein tiefes Gefühl der Abneigung gegenüber den politischen Eliten geschürt haben, die nun in eine tiefe Legitimationskrise von gesellschaftlicher, politischer und kultureller Tragweite gemündet ist.
Emmanuel Mavrozacharakis war von 2009-2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter des griechischen Parlamentes. Heute ist er freier Schriftsteller und Forscher des Zentrums für Menschenrechte und des Zentrums für Politikforschung und Dokumentation am Institut für Politikwissenschaft der Universität Kreta.
Grundsätzlich wäre ich mit Formulierungen wie, dass Vetternwirtschaft nirgendwo so systematisch praktiziert wird, vorsichtig. Darüber hinaus, ist vieles eine sehr akkurate Beschreibung, allerdings bleibt die Frage nach lösungsorientierten Ansätzen offen. Müsste die EU endlich auch der Partner in puncto Solidarität werden oder bedarf es inländischer Investitionsanreize?
Klientelistische Strukturen und politische Abhängigkeitsstrukturen sind in Griechenland in der Tat besonders ausgeprägt, was ua historisch bedingt ist, seit der osmanischen Herrschaft. Was nun die Lösungsansätze angeht ist sicherlich eine Übergangsphase europäischer Solidarität notwendig bis das Land wieder auf eigenen Beinen steht. Auf lange Sicht allerdings braucht Griechenland eine neues Entwicklungs-, und Produkionsmodell das nicht einseitig auf Tourismus eingestellt ist, sondern auf Verarbeitung, Innovation , Energiewirtschaft usw. Abgesehen davon ist eine Reform staatllicher Strukturen nötig und ein Abbau der Bürokratie. Diese Diskussion bedarf jedoch einer ausgedehnteren Befassung im Rahmen mehrerer Artikel. Auf heden Fall bedanke ich mich für den konstruktiven Komme
ntar.
Hallo, danke für den diagnostischen Artikel der die beiden Probleme Griechenlands nennt und nicht entweder bei “Troika ist schuld” oder “faule Griechen sind schuld” stehenbleibt.
Abhilfe kann aber nicht nur die Unterstützung durch “die EU” sein. An die Fluchtgelder muss man ran.
Wäre auch ein Leuchtturm für viele andere hochverschuldete Staaten. Ob ein Staat wie GR das aber schafft?