Die Ostpolitik der SPD und der aktuellen deutschen Regierung im Lichte der Geschichte und aktuellen Situation der Kapitalfraktionen in Deutschland
Von David X. Noack
Im Laufe des Deutschen Kaiserreichs ab 1871 sowie der Weimarer Republik entstanden in Deutschland zwei große Fraktionen des deutschen Kapitals, die das Gerangel um die geopolitische Ausrichtung Deutschlands für eine lange Zeit prägen sollten: Die atlantische und die kontinentale Kapitalfraktion.[1] Diese Unterscheidung beschreibt keine zwei monolithischen Blöcke, sondern grobe Tendenzen verschiedener deutscher Großkonzerne, allen voran ihrer wichtigsten Bankenhäuser. Es gab neben diesen zwei Richtungen durchaus auch Unternehmen, die mit beiden Seiten kooperierten, wie das berühmte Bankhaus Stein.[2]
Die Herausbildung verschiedener Fraktionen des deutschen Kapitals hatte verschiedene Ursachen. Als eine gilt die Gleichartigkeit einer Reihe von Großkonzernen in der Montanindustrie, wie beispielsweise Haniel, Hoesch, Krupp, Thyssen und Stinnes. Die in der Substanz verwandten Interessen dieser Konzerne führten aufgrund der begrenzten Möglichkeiten des Marktes zu unterschiedlichen Strategien des Profitstrebens.[3] Ähnliches gilt für die beiden damaligen großen Elektrokonzerne AEG und Siemens. Eine Gruppe von Konzernen gruppierte sich um die Dresdner Bank sowie die Danatbank und blickte auf den atlantischen Wirtschaftskreislauf, die anderen wiederum orientierten sich entlang der Deutschen Bank und der Disconto-Gesellschaft kontinentaleuropäisch, vor allem die Donau hinab. Faktoren wie Religion, Verflechtung mit ausländischem Kapital und persönliche Beziehungen zählten zu den Gründen, die zu den beiden großen Kapitalfraktionen führten.[4]
Eine andere Spaltung der Industriegruppen entstand im Gegensatz zwischen der sogenannten Industriegruppierung Chemie-Elektro (auch genannt die neuen Industrien) und der Gruppe Kohle-Stahl (Montan). Diese Spaltung ist unabhängig von der außenpolitischen Ausrichtung und Konzerne beider Gruppierungen finden sich in den zwei Kapitalfraktionen wieder. So galt die Deutsche Bank als den neuen Industrien zugewandt, während die Disconto-Gesellschaft privilegierte Beziehungen zur Montangruppe unterhielt – beide Bankhäuser orientierten sich jedoch kontinentaleuropäisch.
Mit Gründung der BRD gingen diese beiden Tendenzen auch in die Nachkriegszeit über. Mehrere Vertreter der atlantischen Kapitalfraktion aus der Zeit der Weimarer Republik bekannten sich beispielsweise zum politischen Konzept einer „Atlantischen Union“, der Idee einer politischen Union der nordamerikanischen mit den westeuropäischen Staaten.[5] Die Wiederherausbildung der beiden großen Fraktionen bekam ihre Entsprechung innerhalb der beiden regierenden Parteien, allen voran in der Union. Die Außenpolitik der BRD entschied sich damals in dieser Auseinandersetzung innerhalb von CDU und CSU. Innerhalb der Union entfaltete sich in den 1950er und 1960er Jahren dieser Konflikt mit seinen verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und religiösen Ebenen.[6] Unter Erhardt beispielsweise dominierten die Atlantiker und der CDU-Kanzler setzte 1963 ein „Röhren-Embargo“ der BRD durch, welches den Aktienwert des kontinental orientierten Mannesmann-Konzernes in den Jahren 1963 bis 1966 fast halbieren ließ.
Mit der zweiten Hälfte der 1960er Jahren weitete sich der Widerspruch zwischen Atlantikern und Gaullisten auch auf die SPD aus. In dieser Volkspartei dominierte damals wirtschaftlich die kontinentale Ausrichtung, trotz atlantischer Rhetorik. Willy Brandt mit seiner „neuen Ostpolitik“ diente bereits in seiner Außenministerfunktion in der ersten Großen Koalition 1966 bis 1969 als Türöffner für das kontinentaleuropäisch orientierte Kapital.[7] Bis in die 1980er Jahren hinein hielt die Dominanz der kontinentalen Politikausrichtung in der SPD an. Die politische Nähe der damaligen SPD-Spitzenpolitiker wird auch am publizistischen Werk dieser Politiker deutlich. Brandt widmete Charles de Gaulle, dem bekanntesten aller Kontinentaleuropäer, ganze 20 Seiten wohlwollender Worte in seiner Autobiographie und sein politischer Ziehsohn Oskar Lafontaine arbeitete sich beispielsweise in seinem Buch ‚Angst vor den Freunden‘ auch mit positivem Bezug an de Gaulle ab.[8]
Doch die wirtschaftliche Stagnation der realsozialistischen Staaten in den 1980er Jahren schadete auch den Konzernen, die bis dahin vor allem auf diese Ostoption gesetzt hatten. Vertreter jener Konzerne und Politiker integrierten Aspekte des Neoliberalismus in ihr Denken, um somit die Wirtschaft wieder ankurbeln zu können. Der „eingebettete Liberalismus“ erschien als Gegenmodell zum zügellosen Neoliberalismus angloamerikanischer Prägung.[9] Historisch gesehen blieb dieses politische Konzept jedoch nur eine Übergangsform zum Neoliberalismus atlantischer Prägung.
Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre geriet die kontinentale Kapitalfraktion ins Wanken. Die traditionellen Absatzmärkte in Osteuropa fielen weg und größere staatliche Aufträge, beispielsweise für die Elektro- und die Röhrenindustrie, wurden unrealistischer. Die Kriege im Irak und Jugoslawien beendeten auch die florierenden Wirtschaftsbeziehungen mit diesen Staaten, Sanktionen gegen Libyen, Irak und Jugoslawien taten ihr Übriges.
Und so kam es nicht von ungefähr, das in den 1990er und 2000er Jahren der politische und der wirtschaftliche Atlantizismus ihre Durchbrüche erlebten. Mit der Hoesch AG traf es zuerst einen der größten deutschen Stahl- und Montankonzerne: Das Unternehmen wurde das Opfer der ersten feindlichen Übernahme in der Geschichte der BRD – durch den traditionell atlantisch-verflochtenen Krupp-Konzern. Die Deutsche Bank orientierte sich grundlegend anders und deren frühere „Industriefiliale“ Daimler-Benz fusionierte 1998 mit dem US-Automobilkonzern Chrysler. Den vorläufigen Endpunkt der kontinentaleuropäischen Ausrichtung der größten deutschen Konzerne bildete die Zerschlagung von Mannesmann in den Jahren 1999 und 2000. Die übriggebliebenen Reste der früheren kontinentalen Kapitalfraktion bleiben weiterhin im ‚Ostausschuss der deutschen Wirtschaft‘ organisiert, doch dessen politische Durchsetzungskraft ist marginal.
Zum wirtschaftlichen Niedergang der kontinentalen Kapitalfraktion kam hinzu, dass mit Peter Gauweiler und Lothar Späth wichtige politische Exponenten des Gaullismus in Deutschland in den 1990er Jahren über politische Skandale stolperten. Mit Edmund Stoiber als Spätgaullisten existierte zwar eine gewisse Hochburg des Gaullismus in Bayern, doch dessen Forderung nach Einrichtung eines „Europa der Nationen“ nach dem Vorbild de Gaulles blieben im politischen Diskurs ungehört.[10] Im konservativen Spektrum schwand der Einfluss des Gaullismus und atlantische Neoliberale wie Wolfgang Schäuble erhielten Oberwasser. In der SPD kam es in dieser Zeit zu ähnlichen Entwicklungen.
Die Kapitalfraktionen in der BRD – und durch die zunehmende Verschränkung auch innerhalb der EU insgesamt – gruppierten sich in den Jahren 1990 bis 2005 vollständig um. Im Zentrum einer neuen dominierenden transnationalen Kapitalfraktion, an welcher die größten deutschen Konzerne beteiligt sind, steht der Konzern Allianz.[11] Dieser erbte die Rolle, welche die Dresdner Bank lange Zeit während der Weimarer sowie der Bonner Republik eingenommen hatte. In der Größe übertrumpft die Allianz die Deutsche Bank bei weitem.
Basierend auf den neuen ökonomischen Realitäten dominieren seither nur noch verschiedene Schattierungen einer atlantischen Außenpolitik die deutsche auswärtige Politik. Die SPD als fest in das bürgerliche System integrierte Kraft ohne eigene wirkfähige publizistische Hausmacht, mit der andere Öffentlichkeiten organisiert werden könnten, ist ein wesentlicher Teil davon. Eine grundlegend andere Politik gegen die Interessen der atlantischen Kapitalfraktion hätte auch in Deutschland keine innerhalb des Systems vorhandene ökonomische Grundlage.
Deswegen bleiben die Erfolge einer Ostpolitik der SPD auch äußerst beschränkt. In der ersten Großen Koalition unter Merkel verfolgte die SPD noch eine leicht andere Russlandpolitik als die beiden Unionsparteien. So plädierte Außenminister Steinmeier im Jahr 2007 für einen deutsch-russischen „Wandel durch Verflechtung“.[12] Was nach einer Fortsetzung der Politik Willy Brandts klang, blieb jedoch eine Politik der schönen Worte. Die 2008 dann verkündete „Modernisierungspartnerschaft“ enttäuschte die russischen Politiker und sollte lediglich für einen gewissen Zeitraum als Türöffner für deutsche Firmen dienen.
Einen gewissen Durchbruch erlebten die deutsch-russischen Beziehungen dann unter schwarz-gelb ab 2009. Außenminister Westerwelle und sein russisches Pendant Lawrow verkündeten 2010 aus der deutsch-russischen „Modernisierungspartnerschaft“ ein Projekt zwischen der EU und der Russischen Föderation machen zu wollen.[13] Kurz darauf folgte das Meseberg-Memorandum, in welchem sich Kanzlerin Merkel und der damalige russische Präsident Medwedew für eine gemeinsame „Sicherheitsarchitektur” der EU und Russlands aussprachen. Das angedachte eurasische „Sicherheitsforum” hätte Moskau laut atlantischen Hardlinern einen offiziellen Einfluss auf EU-Strukturen gewährt, welcher den Einfluss der Vereinigten Staaten übertroffen hätte.[14] Der Umstand, dass dieser wirtschaftlich kaum unterfüttert gewesen wäre und informell die USA eine stärkere Rolle in Westeuropa innehaben, spielte bei solchen Unkenrufen keine Rolle.
Dieselben Politiker, die die deutsch-russische Annäherung organisierten setzten jedoch innerhalb der EU auf eine autoritäre Krisenlösung unter Beteiligung des Internationalen Währungsfonds, was eine Aufwertung des wirtschaftlichen und politischen Einflusses dieser Institution und somit auch der USA innerhalb Europas bedeutete. Eine Strategie der deutschen Regierung zur Etablierung der EU als unabhängigem Akteur zwischen Russland und den USA schien also nicht zu existieren. Doch mit dem Ende der schwarz-gelben Regierung endete auch der Höhenflug der deutsch-russischen Beziehungen. Die Meseberg-Mechanismen gelten mittlerweile als gescheitert, ebenso die „Modernisierungspartnerschaft“. Gegen Meseberg hatte die US-Regierung sogar die Atlantiker innerhalb der EU mobilisiert.[15]
Im Lichte der Errungenschaften der Außenpolitik der schwarz-gelben Regierung unter Merkel und Westerwelle wirken die Erfolge der SPD auf dem Gebiet der Ostpolitik marginal. Darüber hinaus gibt es in der SPD keine offen wahrnehmbare Diskussionen über eine grundlegend andere Außenpolitik, die beispielsweise auf eine Verständigung mit Russland oder eine Krisenlösung innerhalb der EU ohne die USA und den IWF setzen würde. Die SPD-Spitzenpolitiker spielen nur innerhalb der von außen gesetzten Spielregeln.
Lediglich vereinzelt treten Nuancen der Außenpolitik offen zu tage. So verhandelte Außenminister Steinmeier neben einem Vertreter aus Polen und einem aus Frankreich mit Spitzenpolitikern in Kiew über eine politische Lösung der ukrainischen Krise. Nachdem ein Kompromiss zwischen der Regierung und den drei größten Parteien der Opposition des Landes gefunden wurde, unterzeichneten die verschiedenen Parteien dieses Abkommen. „Wir werden ein Auge darauf haben, dass aus der Vereinbarung, die hier getroffen wurde, auch Politik wird“, sagte der deutsche Außenminister daraufhin.[16] Die Krise schien gelöst und das interessanterweise unter Ausschluss der USA. Einen Tag später kam es zum bewaffneten Umsturz und binnen weniger Tage wählte das noch existierende Rumpfparlament in Kiew Arsenij Jazenjuk zum neuen Premierminister des Landes. Der Favorit der nordamerikanischen Neokonservativen, allen voran Victoria „Fuck the EU“ Nuland, saß nun in Kiew im Regierungssessel. Die deutsche Regierung nahm das einfach so hin und agierte fortan basierend auf den geschaffenen Fakten.
Von einer eigenständigen deutschen Ostpolitik, geschweige denn einer besonderen Russlandpolitik der SPD kann kaum die Rede sein. Fest integriert in den atlantischen Wirtschaftsraum treten nur manchmal gewisse Nuancen einer Ostpolitik der verschiedenen deutschen Regierungen zu Tage. Zwar ist die SPD mit Gerhard Schröder bei Nordstream sowie Hamburgs Ex-Bürgermeister Henning Voscherau bei South Stream an entscheidenden Wirtschaftsprojekten der Beziehungen EU-Russland prominent vertreten, doch handelt es sich bei beiden um ausgewiesene Atlantiker. Die Chancen einer theoretisch möglichen anderen Außenpolitik Deutschlands werden überhaupt nicht genutzt.
Der Beitrag ist ein Crosspost vom Heartland-Blog
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Ein schöner kurzer Abriss. Aber wohin will der Autor?
Wer trauert dem dubiosen “Meseberg-Memorandum” nach?
Wer könnte ernstlich eine “grundlegend andere Außenpolitik” wünschen, die “beispielsweise auf eine Verständigung mit Russland oder eine Krisenlösung innerhalb der EU ohne die USA und den IWF setzen würde”?
1.) Für eine kluge Lösung der Euro-Krise bietet die deutsche Regierung das größte Hindernis, während die USA und der IWF nicht auf reiner Austeritätspolitik beharren.
2.) Es ist Krieg in Europa und wir kennen den Aggressor.
Wäre ich Ukrainer, setzte ich vermutlich eher auf die USA als auf die EU.