Es war eine Sozialdemokratie, die es heute nicht mehr gibt: Gewerkschaftsnahe Wirtschaftspolitiker und ein konservativer Parteiflügel dominierten jene SPD, die seit Mitte der 1960er-Jahre für die sogenannte Globalsteuerung stand.
Von Sebastian Müller
Noch im Zuge der ersten Ölpreiskrise 1973, die den Kurswechsel in den wirtschaftswissenschaftlichen Institutionen einleitete, plädierten die Sozialdemokraten für eine Beibehaltung und Verbesserung der nachfrageorientierten Konjunkturpolitik. Dieses Bekenntnis war angesichts des Selbstverständnisses der Partei seit Godesberg kein Wunder. Der Keynesianismus bot die theoretisch und wissenschaftlich fundierte Grundlage für den von der SPD propagierten, wirtschaftspolitischen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der soziale Gerechtigkeit und ökonomischen Ausgleich gewährleisten sollte.
Tatsächlich war das der grundlegende Unterschied zu der Partei der Neuen Mitte von heute: Angesichts ihrer gewerkschaftlichen Bindung blieb der SPD gar nichts anderes übrig, als auf die steigenden Arbeitslosenzahlen seit 1973/74 mit einer aktiven Beschäftigungspolitik zu antworten.[1] Dass es hierbei zu einem Zielkonflikt mit der Bundesbank und den Monetaristen kommen musste, war aufgrund des wirtschaftstheoretischen Klimawechsel unausweichlich. Andererseits sollte auch die SPD im Laufe der 1970er-Jahre ökonomische Richtungswechsel vornehmen
Die Parteilinke wird zum Problem
Solange die SPD Regierungspartei war, wären theoretisch diverse wirtschaftspolitische Krisenrezepte als Antwort auf die Stagflation möglich gewesen. Doch die Neue und sozialistische Linke innerhalb der Partei, die in Folge der 68er Bewegung erstarkte, war zu praxisfern, um in der Sozial- und Wirtschaftspolitik eine entscheidende Rolle spielen zu können. Gänzlich zu überhören war der Parteiflügel trotzdem nicht. Genauso wie die sozialdemokratischen Keynesianer Neomarxisten und Neoliberale gleichermaßen für Anhänger überholter Sichtweisen hielten, kritisierte die SPD-Linke die Wirtschafts- und Sozialpolitik ihrer Partei – insbesondere die der Regierung Schmidt – während der SPD-Parteitage immer wieder scharf.
Der linke Flügel vertrat eine Minderheitenposition, die Marktversagen als Krisenursache diagnostizierte und dementsprechend für eine “Politisierung von Produktions- und Akkumulationsprozess”[2] plädierte. Die heute nahezu radikal anmutenden Forderungen reichten von aktiver Strukturpolitik, über direkte Investitionslenkung bis hin zur Vergesellschaftungen.[3] Solche Forderungen waren jedoch selbst parteiintern nicht durchsetzungsfähig. Der Flügel um Schmidt fürchtete zudem, dass Unternehmer durch die Lenkungsdiskussion verschreckt werden könnten, so dass diese zu einem ständigen Reizthema innerhalb der Partei wurde. So bezeichnete Herbert Ehrenberg, Chef-Ökonom der Bonner SPD-Fraktion, eine Investitionslenkung nach gesamtwirtschaftlichen Zielgrößen als einen “dicken Hund”.[4]
“Sie wollen die Gesetze der Marktwirtschaft außer Kraft setzen”
Trotz der tatsächlich geringen Rolle, die die Linke im internen Entscheidungsprozess spielte, lieferte sie nicht nur der CDU Munition[5] für ihren Wahlkampf gegen die “Bedrohung durch den Sozialismus”, sondern wurde auch in der zeitgenössischen Wahrnehmung durchaus als Gefahr für die marktwirtschaftliche Ordnung gesehen. Vor diesem Hintergrund kommentierte Die Zeit: “Inzwischen ist deutlich geworden, daß starke Kräfte – vielleicht sogar die Mehrheit – in der SPD in eine ganz andere Richtung ziehen: Sie wollen die Gesetze der Marktwirtschaft außer Kraft setzen.”[6]
Unter dem Untertitel “Die Gefahr von links” konstatierten Dieter Lösch und Heinz-Dietrich Ortlieb 1977, dass man hierzulande die “Hauptgefährdung des herrschenden Systems” darin sehe, dass der “linke Flügel bei seinem beabsichtigten Marsch durch die Institutionen der Partei erfolgreich sein könnte, ohne daß die breite Öffentlichkeit dies merken und entsprechend reagieren würde.”[7] Tatsächlich aber, so Lösch und Ortlieb, würde die Öffentlichkeit die SPD-Linke mit größter Aufmerksamkeit beobachten. Dadurch, und aufgrund vieler Sympathisanten des linksradikalen Lagers, bekäme die SPD eine “unrealistische linke Schlagseite, die den Entscheidungsspielraum ihrer als ‘rechts’ diffamierten Führung entscheidend einengt. Dabei sei die Wirtschafts- und Ordnungspolitik besonders gefährdet (…).”[8]
Nicht zuletzt aufgrund des massiven parteiinternen Druckes von links und der daraus resultierenden ideologischen Auseinandersetzungen kristallisierte sich in der SPD mit dem “Seeheimer Kreis” (anfänglich gebräuchliche Bezeichnung: “Lahnsteiner Kreis”) eine gut organisierte, die gemäßigten, “konservativen” und wirtschaftsnahen Kräfte bündelnde Gegenbewegung heraus. 1973 hatten sich in Lahnstein auf Einladung von Hans-Jochen Vogel das erste Mal ein Kreis von von etwa 40 Sozialdemokraten getroffen, um gegenüber der Parteilinken aus der vermeintlichen “theoretischen und ideologischen Defensive” herauszukommen.[9]
Der Unternehmer rückt in den Fokus
Zwar bekannte sich der Seeheimer Kreis in seinem ersten Grundsatzpapier “Godesberg und Gegenwart”, – der dem Parteivorstand 1975 zur Diskussion über den “Orientierungsrahmen 85” vorgelegt wurde –, zu diesem Zeitpunkt noch zur antizyklischen Konjunkturpolitik, Investitionslenkung und damit zu einer weitestgehend keynesianischen Wirtschaftspolitik, machte aber auch konzeptionelle Abstriche. Vor allem lenkten die Seeheimer den Fokus auch auf die Profitrate der Unternehmen:
“Nicht besser steht es um die verschiedenen Modelle der Investitionslenkung. Selbst wenn man die ‘gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse’ als ermittelbar voraussetzt, überzeugen die Möglichkeiten der Investitionsplanung in keinem der vorhandenen Modelle. (…) Dieses Problem löst der Markt auch nur unvollkommen; aber die gewinnorientierte Motivation der Unternehmer löst zumindest schnellere Bereitschaft zu Revisionen aus.”[10]
Alles in allem schlug das theoretische als auch praktisch-politische Pendel in der SPD seit 1973/74 wieder nach rechts. Der Politologe Franz Walter spricht für das Jahr 1973 von einer Zäsur, in der die Welt der alten Sozialdemokratie unterging.[11]
Erkennbar war die Zäsur schon mit dem “Zweiten Entwurf des ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1975 bis 1985”, welcher im Dezember 1974 durch die Kommission verabschiedet wurde. Dort hatte man den Machbarkeitsglauben der ersten Regierungsjahre erheblich eingeschränkt. So wäre das künftige Wachstum nur noch teilweise “machbar”, andererseits sei es auch das Resultat der technologischen Entwicklung und anderer Faktoren, die politisch nur schwer oder gar nicht zu beeinflussen wären.
Auch wenn die Vollbeschäftigung Voraussetzung einer “erfolgreichen Reformpolitik” blieb[12], ließ sich hier der Vertrauensverlust in die staatliche Steuerungsfähigkeit und ein erster Schritt zu den Glaubenssätzen neoliberaler Wirtschaftspolitik – sprich eingeschränkte und nicht erwünschte Handlungsfähigkeit des Staates, Selbstheilungskräfte des Marktes – herauslesen. Dies sollte vor allem der öffentliche Dienst zu spüren bekommen, dessen “vorhandene Produktivitätsreserven” bei stärkerer Rationalisierung der Staatsausgaben ausgeschöpft werden sollten. Nach einer Politik der Stellenkürzungen und Einkommenssenkungen in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre unter der Ägide der SPD, kulminierte diese Politik seit den 1990er-Jahren in Form des “New Public Management” (Neues Steuerungsmodell), – also einer Reformierung des öffentlichen Dienstes nach privatwirtschaftlichen Managementtechniken.
Wir alle sind Monetaristen
Die praktisch-politische Wende zeichnete sich auch durch den Umstand aus, dass sich die SPD 1973 die Konzeption der Bundesbank zu Eigen machte, “derzufolge Stabilität der Wirtschaft im wesentlichen Preisstabilität sei.”[13] Mit dieser “neoklassischen Synthese”[14] und der Fokussierung auf die Preisstabilität verabschiedete sie sich indirekt von der theoretischen Konzeption des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, in welcher die Preisstabilität lediglich einen von vier Eckpunkten darstellte.
Zwar hielt die Bundesregierung in den Folgejahren weiter an Konjunkturprogrammen fest, doch folgten diese einerseits in weiten Teilen einer angebotspolitischen Ausrichtung, andererseits wurden sie durch die restriktive Geldpolitik der Bundesbank konterkariert. Hinzu kam, dass die sozialliberale Koalition 1975 damit begann, mit dem Haushaltsstrukturgesetz staatliche Leistungen und Aufgaben gerade in den Bereichen Arbeitsförderung, Bildung und Wissenschaft zu streichen. Dieser teils relativen, teils absoluten Senkung der Staatsausgaben lag “die Übernahme des von Unternehmerseite unablässig erhobenen Vorwurfs zugrunde, die Steigerung der Ansprüche der Arbeitnehmer habe zu einer unerträglichen Belastung der Unternehmensgewinne geführt, die ganz natürlicherweise sinkende Investitionsneigung und Wirtschaftskrise zur Folge haben musste.”[15]
Angesichts dieser immer stärker unternehmenszentrierten Ausrichtung in der Wirtschaftspolitik war es kaum noch überraschend, dass die Fortschritte, die die Bundesregierung auf Druck der Gewerkschaften bis 1973 bei Löhnen und Arbeitnehmerrechten durchsetzen konnte, von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1975 in einer Bundestagsrede als “ungewollte Übertreibungen” bezeichnet wurden.[16]
Dass die SPD trotz dieser Spannungen nach wie vor eng an die Gewerkschaften und die Arbeitnehmerschaft gebunden war, zeigt die plötzlich sozialreformerisch anmutende Wehmut Schmidts nur ein knappes Jahr später vor der SPD-Bundestagsfraktion. So hätte man aus der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre gelernt:
“Im Unterschied zu 1930 bis 1932 haben wir in der Krise das soziale Netz nicht eingeschränkt, haben keine Notverordnungen erlassen, sondern das Netz in voller Absicht trotz und wegen der Rezession ausgebaut.”[17]
Tatsächlich fand eine umfassende Aufgabe der Globalsteuerung auch bis zum Ende der Regierungskoalition 1982 nicht statt. Die endgültige Transformation der SPD zu einer neoliberalen, angebotsorientierten Partei des “Dritten Weges” sollte erst in den Oppositionsjahren vorbereitet und mit Gerhard Schröders Agenda 2010 abgeschlossen werden.
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über die Ursachen für das Ende des keynesianischen Wohlfahrtstaates und des bis heute andauernden Aufstiegs des Neoliberalismus. Sie ist die gekürzte und überarbeitete Fassung einer wissenschaftlichen Arbeit des Autors mit dem Titel “Die 70er Jahre als Zeit des ökonomischen Umbruchs: Vom Keynesianismus zur ‘neoliberalen’ Transformation”.
Teil 1, Geschichte einer Konterrevolution; Teil 2, Als der Markt Naturgesetz wurde; Teil 3, “No cooperate with Ordo”; Teil 4, Die Saat geht auf; Teil 5, Ein Schock: Das Ende von Bretton Woods; Teil 6, Blaupause für die Agenda 2010; Teil 7, SPD der 70er: Zwischen den Fronten; Teil 8: Schocktherapie für die Union
Artikelbild: Bundesarchiv / SPD-Parteitag in München, Helmut Schmidt / CC BY-SA 3.0 DE
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Dr. Klaus Funken, SPD-Mitglied, hat aus seiner Sicht eine empfehlenswerte Analyse der Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei vorgelegt:
http://cuncti.net/streitbar/714-das-neue-buch-von-klaus-funken-zum-150sten-keine-festschrift