Ungleichheit und Krise – zwei Wortmeldungen

Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise und die zunehmende Ungleichheit, die wir in westlichen Industriestaaten mindestens seit etwa 30 Jahren beobachten müssen, sind nicht voneinander zu trennen.

Bild: Stan Wiechers (CC BY-SA 2.0)

Von Patrick Schreiner

Jüngst sind zwei Texte erschienen, die in diesem Zusammenhang eine nähere Betrachtung verdienen. Der US-amerikanische Volkswirt Thomas Palley und die US-Notenbankerin Sarah Bloom Raskin machen deutlich, dass die Krise nicht verstehen kann, wer vor der wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit die Augen verschließt.

Seit etwa den 1970er Jahren hat sich die funktionale Verteilung des Volkseinkommens (die Verteilung zwischen Kapital und Arbeit) deutlich zu Gunsten des Kapitals verschoben, und auch innerhalb der Arbeitseinkommen ist die Ungleichheit deutlich gewachsen. Zugleich konzentriert sich immer mehr Vermögen in immer weniger Händen. In jüngster Zeit wurden diese Entwicklungen immer wieder als (Mit- oder Haupt-) Ursachen der aktuellen Krise benannt, etwa von Peter Bofinger, Photis Lysandrou, Till van Treeck oder Engelbert Stockhammer. Im Folgenden stelle ich zur Frage des Zusammenhangs von Ungleichheit und Krise zwei aktuelle Wortmeldungen vor, deren Lektüre aus sehr verschiedenen Gründen lohnt.

Thomas Palley / Ungleichheit und die Eurokrise

Der Volkswirt Thomas Palley (New America Foundation) widmet sich in seinem Text „Europe’s crisis without end: The consequences of neoliberalism run amok“ primär der Eurokrise. Seine Ausführungen fassen auf wenigen Seiten die Genese und den Verlauf der Krise zusammen, seine Argumentation untermauert er dabei wiederholt durch statistische Daten. Er zeigt, dass die heutige Verschuldung vieler Staaten, Privathaushalte und Unternehmen im Kern darauf zurückzuführen ist, dass ein über Jahrzehnte aufgebauter Mangel an volkswirtschaftlicher Nachfrage durch eben diese Verschuldung übertüncht wurde.

Palley unterscheidet in der Genese und im Verlauf der Krise vier Phasen:

1. Eine neoliberale Wende, die zum Sinken der Lohnquote und zum Anstieg der Arbeitslosigkeit führte. Es sei in dieser Phase – beginnend in den frühen 1980ern – unmittelbares politisches Ziel gewesen, die Profite der Unternehmen auf Kosten der Beschäftigten zu erhöhen. Fast überall in Europa sei bewusst eine neoliberale Politik mit dem Ziel geringer Lohnsteigerungen betrieben worden. Daraus resultierte ein Mangel an volkswirtschaftlicher Nachfrage:

 Though not explicitly expressed in such terms, the goal was to cow labor unions and redistribute income to capital. Analytically, the macroeconomic significance was it ruptured the link between productivity and real wage growth and worsened income distribution. That undermined the demand generation process, which in turn undermined employment growth. The neoliberal model therefore created a growing “structural demand gap” because the demand generation process weakened relative to the growth of potential output.

2. In einer zweiten Phase sei dieser Mangel an volkswirtschaftlicher Nachfrage – diese Nachfragelücke – durch die Ausweitung von Krediten übertüncht worden. Dabei spielten zwei Ereignisse eine entscheidende Rolle: Das niedrige Zinsniveau der 1990er Jahre führte in vielen Ländern verstärkt zu kreditfinanzierter Nachfrage; mit der Einführung des Euro intensivierte sich dieser Prozess. Deutschland verfolgte dabei eine ausgeprägte Exportstrategie, es schöpfte quasi die volkswirtschaftliche Nachfrage anderer Länder ab, schuf aber aufgrund einer äußerst schwachen Lohnentwicklung selbst keine Nachfrage. Allerdings, und dies war für Palley das zweite wichtige Ereignis, löste die deutsche Wiedervereinigung doch einen kurzfristigen Nachfrageboom aus.

3. Die Eurokrise beendete urplötzlich dieses Modell der Kreditfinanzierung volkswirtschaftlicher Nachfrage. Mit dem Zusammenbruch des US-Subprime-Immobilienmarktes und verschiedener Finanzinstitute wie Lehman Brothers in den USA sei 2008 die Kreditblase geplatzt. Deutschlands Banken seien zunächst mit am härtesten getroffen worden, waren sie es doch, die das durch immense Exportüberschüsse erwirtschaftete Kapital in Außenhandels-Defizit-Länder verliehen hatten und damit die dortigen Defizite finanzierten. Letztlich sei Europa als Ganzes von dieser Krise stärker getroffen worden als die USA, da die politischen und wirtschaftlichen Institutionen in Europa schwächer und die hiesige Fiskal- und Wirtschaftspolitik weniger einheitlich seien. Anders als der damalige deutsche Finanzminister Steinbrück meinte, habe mit der Krise nicht der Abstieg der USA und ihrer Währung begonnen, sondern der Abstieg Europas.

4. Diese spezifische institutionelle und politische Schwäche des Kontinents zeige sich nun aktuell in der vierten Phase, jener der Staatsschuldenkrise. Obwohl Staatsverschuldung nicht Ursache, sondern Folge der Krise sei, werde diese als Staatsschuldenkrise interpretiert. Grund dafür sei nicht zuletzt die passive Rolle der Europäischen Zentralbank. Ein solches Verständnis der Krise sei fatal, es legitimiere Kürzungs- und Austeritätspolitik sowie Angriffe auf den Sozialstaat. Damit aber gerate Europa in einen Teufelskreis: Anstatt volkswirtschaftliche Nachfrage zu schaffen, werde diese noch weiter reduziert.

Es überrascht angesichts dieser Analyse wenig, dass die Lösung der Eurokrise für Palley nur in einer expansiveren, nachfrageorientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie einer besseren institutionellen Absicherung der Eurozone liegen kann. Mit guten Gründen. Interessant und überzeugend ist ferner, dass Palley sowohl in seiner Krisenanalyse als auch in seinen Lösungsvorschlägen die Rolle und Verantwortung Deutschlands besonders betont.

Sarah Bloom Raskin / Ungleichheit und die Subprime-Krise

Wie Thomas Palley betont auch Sarah Bloom Raskin, Vorstandsmitglied der US-Notenbank FED, die Rolle gesellschaftlicher Ungleichheit. Anders als Palley stellt sie aber nicht die Einkommens-, sondern Vermögensungleichheit ins Zentrum. Sie schließt zwar nicht aus, dass es durch zunehmende Einkommensungleichheit zu einer Nachfragelücke kommen kann, sieht diesbezüglich aber noch einige offene Fragen und beträchtlichen Forschungsbedarf.

Raskin stellt in ihrer am 18. April in New York gehaltenen Rede mit dem Titel „Aspects of Inequality in the Recent Business Cycle“ die Frage, ob und wie gerade die enorme Vermögensungleichheit zu einem spezifischen Verlauf der Krise geführt habe. Einem Verlauf, der durch eine besondere Schärfte der Krise selbst wie auch durch eine nur verhaltene Erholung von der Krise gekennzeichnet sei. Raskins Fokus liegt dabei, wiederum anders als bei Palley, auf den USA:

Economists have documented that widening income and wealth inequality has been one of the most notable structural changes to the U.S. economy since the late 1970s. This change represents a dramatic departure from the three decades prior to that time, when Americans enjoyed broadly rising incomes and shared prosperity. […] my remarks today are specifically focused on adding to the conversation about how such disparities in income and wealth could be relevant for a macro understanding of the financial crisis and the recovery and the appropriate course of monetary policy today.

Raskin betont, dass gerade US-AmerikanerInnen mit geringen oder mittleren Einkommen in eine Spirale aus steigenden Hauspreisen und steigender Kreditfinanzierung dieser Immobilien gerieten. Gerade sie seien angesichts ihrer geringen Vermögen im Falle von Arbeitslosigkeit besonders verletztlich, zugleich hielten sie einen überproportionalen Teil ihres (geringen) Vermögens in Immobilien, sprich in der eigenen Wohnimmobilie. Dies setzte sie der Entwicklung der Hauspreise wie auch der Krise in besonderem Maße aus. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene musste dies die Krise mit und nach dem Platzen der Kreditblase noch zusätzlich verschärfen und eine Erholung von der Krise erschweren.

In gängigen volkswirtschaftlichen Theorien und wirtschaftspolitischen Erzählungen, so zeigt Raskin, ist der Faktor gesellschaftlicher Vermögensungleichheit nun allerdings gar nicht oder nur sehr unzureichend berücksichtigt worden. Sowohl zum Verständnis der Genese der Krise als auch zum Verständnis ihres Verlaufs sei es notwendig, die spezifische Rolle von Ungleichheit zu verstehen:

However, the narrative I have emphasized places economic inequality and the differential experiences of American families, particularly the highly adverse experiences of those least well positioned to absorb their “realized shocks,” closer to the front and center of the macroeconomic adjustment process. The effects of increasing income and wealth disparities – specifically, the stagnating wages and sharp increase in household debt in the years leading up to the crisis, combined with the rapid decline in house prices and contraction in credit that followed – may have resulted in dynamics that differ from historical experience and which are therefore not well captured by aggregate models.

Raskin bleibt letztlich in vielem doch gängigen makroökonomischen Denkmustern verhaftet. (Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, wie nonchalant sie die Frage nach Nachfragelücken im Zuge von zunehmender Einkommensungleichheit übergeht.) Dennoch – oder gerade deshalb – zeigt ihre Rede, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und der Krise langsam auch im Mainstream ökonomischen Denkens gesehen zu werden scheint.

Der Autor ist Gewerkschafter und Publizist aus Hannover. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Finanz- und Wirtschaftspolitik, Verteilung und Politische Theorie. Er schreibt auf annotazioni.de, wo auch dieser Text erschien.

Artikelbild: Stan Wiechers (CC BY-SA 2.0)

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Ein Kommentar zu "Ungleichheit und Krise – zwei Wortmeldungen"

  1. John sagt:

    Roboter sind keine Konsumenten
    oder
    In der Falle des kapitalistischen Wettbewerbs

    1. Polit-Ökonomischer Neoliberalismus als Mainstream der industrialisierten Welt manövriert den Volkswirtschaftlichen Ertrag kontinuierlich zugunsten des Großkapitals und reduziert damit unweigerlich die Kaufkraft der Beschäftigten.

    2. Man versucht den daraus entstehende Mangel an volkswirtschaftlicher Nachfrage durch artifizielle Kreditexpansion zu kompensieren, bzw. zu übertünchen, mit dem Ergebnis stetig steigender Verschuldung der Bevölkerung sowie des Staates.

    3. Durch die Subprime-Krise in den USA kommt es zum platzen und der Deflationierung der Kreditblase. Die bisher künstlich generierte Nachfrage kollabiert zusehends.

    4. Die Kreditwirtschaft schlittert bedrohlich in Richtung Insolvenz und zwingt den bereits hoch verschuldeten Staat zur Subventionierung der Finanzwirtschaft mit dem Ergebnis einer drohenden Staatsschuldenkrise.

    5. Der Staat greift zu Planwirtschaftlichen Maßnahmen (Wechselkurskorridore, Zinsdiktat, Geldmengendiktat, Kapitalverkehrsflusskontrollen etc.) und partizipiert die Bevölkerung mittels Austerität, Steuererhöhungen, Sozialabbau bis hin zu direkter Enteignung (Zypern) um die drohende Staatsinsolvenz abzuwenden.

    6. Sowohl die Bevölkerung als auch der Staat können die drohende Insolvenz nicht mehr abwenden. Die Volkswirtschaft und das System kollabieren. Der Staat greift zu drakonischen Maßnahmen um die revoltierende Bevölkerung unter Kontrolle zu halten.

    7. Die Volkswirtschaft kommt zum Erliegen. Die Gesellschaft steht kurz vor dem Bürgerkrieg. Die Ordnungskräfte verweigern dem Staat die Gefolgschaft. Ziviler Ungehorsam wird zur Regel. Hunger und Aufstände breiten sich unkontrolliert und explosionsartig aus. Der Kontinent versinkt im Chaos.

    8. Nord- und Südamerika, der Nahe Osten, Zentralasien können sich dem Trend nicht entziehen und erfahren die gleiche Entwicklung. Staaten entsenden sich gegenseitig Truppen weil die Armeen sich weigern auf die eigene Bevölkerung zu schießen. – – wie es weiter geht überlasse ich der Phantasie des geneigten Lesers.

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