Thesen zur Protestbewegung

Was Tea Party und 68er unterscheidet

Von Dennis Walkenhorst

Soziale Bewegungen nehmen in der Regel eine zentrale Position ein, wenn es darum geht, gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Analog zur europäischen 68er-Bewegung wirbelt dabei momentan in den USA die so genannte “Tea Party” einiges an gesellschaftswandlerischem Staub auf. Dennoch unterscheiden sich beide Bewegungen an einem zentralen Punkt. Als Indiz dafür muss man die ständigen radikal-religiösen Bezüge der Tea Party in Augenschein nehmen. Ein Faktor, der meines Erachtens eindeutig gegen eine einfache Einordnung in politische Spektren und Pendelbewegungen spricht, denn eine solche – rein politische – Perspektive greift zu kurz.

Eine gesellschaftsevolutionäre Perspektive – und damit ein Fokus auf Abbrems- und Beschleunigungsprozesse im Rahmen gesellschaftlicher Differenzierung – wirkt hier deutlich angemessener. Was nämlich diese beide Bewegungen wirklich unterscheidet, wird erst mit einem Blick auf ihr Verhältnis zu gesellschaftlicher Komplexität und Kontingenz deutlich.

Unbestreitbar war die Zielrichtung der 68er Bewegung eine Auflösung “verkrusteter” Verhältnisse, politische, kulturelle wie sexuelle Liberalisierung und Stärkung individueller Rechte und Freiheiten. Gesellschaftsevolutionär ging es vor allem darum, ein höheres Maß an Differenzierung zuzulassen und damit Möglichkeiten zum Aufbau von gesellschaftlicher Komplexität und Kontingenz zu erhöhen.

Damit liesse sich eine Schlussfolgerung wie “die Tea-Party sind die 68er Amerikas” nicht aufrechterhalten. Denn die Zielrichtung der Tea-Party ist aus gesellschaftsevolutionärer Perspektive eine völlig andere. Wer sich den Erkenntnissen des Wissenschaftssystems verschließt, wer Idiotien wie Kreationismus in staatliche Lehrpläne schreiben und Homosexuelle vor Gericht stellen will, der versucht die Scherben der Ausdifferenzierungsprozesse des Religionssystems aufzukehren und mit dem Klebstoff der schrillen Töne wieder zusammenzusetzen. Hier soll die überfordernde gesellschaftliche Komplexität auf ein Mindestmaß reduziert und ein altbekannter Primat wiedereingesetzt werden.

Geradezu paradox wirkt dabei, dass sich libertäre Kräfte wie Ron Paul einer solchen Bewegung anschließen oder zumindest mit ihr sympathisieren. Es zeigt eindeutig, dass man es hier mit einer äußerst heterogenen Gruppe zu tun hat, deren schrilles radikal-religiöses Getöse keineswegs als Indiz für die Einstellungen jedes einzelnen Mitglieds zu interpretieren ist. Doch kann dies wohl kaum als Argument gegen die Interpretation der grundsätzliche Ausrichtung der Tea-Party als radikal-religiös gelten, denn gleiches lässt sich auch problemlos über die libanesische Hisbollah-Bewegung sagen. Der entscheidende Faktor ist hier der Bezug zu fundamentalistischen religiösen Ideologien.

Insofern also, als dass die 68er-Bewegung Differenzierungsprozesse beschleunigte, versuchen politisch-religiös begründete Bewegungen wie Tea Party, Taliban, Hisbollah oder Hamas Differenzierungsprozesse abzubremsen, umzukehren und sich selbst somit von der unerträglichen Komplexität der Weltgesellschaft zu erlösen. Es ist aus einer solchen Perspektive das genaue Gegenteil zur europäischen 68er-Bewegung. Und zwar nicht auf der Gegenseite eines Pendelspektrums, sondern auf der Gegenseite gesellschaftlicher Evolution.

Florian Sander und Dennis Walkenhorst sind Politikwissenschaftler und Doktoranden an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS) der Universität Bielefeld.

Artikelbild: Sage Ross, “Tea Party Protest, Hartford, Connecticut, 15 April 2009”
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Quelle: wikimedia.org

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10 Kommentare zu "Thesen zur Protestbewegung"

  1. Tai Fei sagt:

    Also die TEA-Party-Bewegung mit einer Graswurzelbewegung zu vergleichen, halte ich für sehr gewagt. Hinter dieser Bewegung stecken potente Geldgeber und mächtige Wirtschaftsinteressen.

  2. Ole sagt:

    Die 68er kamen von unten, nicht von oben. Weder hatten sie Wirtschaftskonzerne im Rücken, noch eine Lobby. Die entwickelte sich zwar durchaus später und wirkt heute nach, sie war aber eben nicht der Startimpuls.
    Die 68er haben die Republik verändert. Sie würde heute nicht das sein, ohne sie. Viele neue Impulse kamen, nicht alle waren gut, aber überwiegend waren sie nicht schlecht und taten der Gesellschaft gut: In der Gesellschaft wurde das Züchtigungsrecht reformiert, Ohrfeigen von Lehrern an Schüler und Eltern an Kinder wurden verboten, nicht konservatives Korsett sondern subjektive Lebensqualität und persönliches Glück wurden zum Lebensmittelpunkt, auf konservativen Dörfern konnten endlich Protestanten und Katholiken heiraten. Wird man so etwas auch von der Tea Party Bewegung sagen können? ich denke nein.

  3. Pistepirkko sagt:

    Sorry! Aber selten so einen Mist hier auf dieser Seite gelesen.
    68er haben nich nur in Europa die Lebensbedingungen aller Menschen verbessert. Ohne Trauschein in eine Wohnung leben, Homosexualität ausleben, Bildungschancen für alle, Meinungsfreiheit usw. habnen die Gesellschaft freier und friedlicher geamcht.
    TeaParty ist reaktionäres Gewäsch, welches feudale Unterdrückungszenarien propagiert und geradezu in die Abhängigkeit der Konformität führ, da hinter diesen Leuten der schnöde Wirtschaftsliberalismus steht.
    Und wenn Konservative die 68iger Hinterlassenschaften weggräumen müssen, wer räumt denn dann nun die Finanz- und Wirtschaftskriesenhinterlassenschaften seit 2008 weg? Die Cons bestimmt nicht!

  4. Reyes Carrillo sagt:

    @Pistepirkko

    Du hast alles Nötige dazu gesagt! Vielen Dank!

  5. maschkom sagt:

    Ich hatte die 68er Bewegung als eine Befreiungsbewegung aus einem konservativen Korsett verstanden.

    Hingegen die Tea Party verstehe ich als einen Schritt zurück, hin zu einem konservativen Korsett. Sie ruft die Menschen in ein Korsett aus Ordnung und Verhaltensregeln, scheinbarer Sicherheit und der vermeintlich richtigen Orientierung im Glauben.

    Wie wir alle wissen ist jeder Glaube, gleich ob es eine Religion eine Sekte oder eine Wirtschaftsordnung ist, nicht dazu geeignet den Menschen mehr Freiheit zu geben, er ist dazu geeignet die Menschen eingegrenzt zu halten und davon abzuhalten, selbständig und individuell zu denken und zu handeln.

    Insofern haben wir hier zwei gegensätzliche Modelle, die gegensätzlicher nicht sein können.

    Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die Tea Party kräftig durch die Hochfinanz unterstützt wird. Deren Interesse ist es die Menschen die Menschen dumm zu halten, sie davon abzuhalten selbständig zu denken. Wenngleich ich deren Finanzierungswege nicht kenne.

  6. Paulist sagt:

    Den Schweizern -die mit ihrem hohen Mass an direkter Demokratie (Volksentscheide en masse) sicherlich freiheitliche Europäer sind, womöglich die freiesten überhaupt- jagt eine Liberalisierung des Waffenrechts sicher keine Schauer über den Rücken. Dort bewahrt man nach seinem Wehrdienst die Waffe daheim auf – für den Fall der Fälle. DIE würden sich eher gruseln, wären sie entwaffnetes Personal, dessen Grundgesetz gebeugt wurde, um Millitäreinsätze -keine Hilfsaktionen- bei Bedrohungen im Inland “legal” zu ermöglichen. Faschistisches Coming Out der Lobbykratie, ick hör´ dir trapsen.

  7. Michi sagt:

    Die 68er waren vermutlich genauso wenig eine Graswurzelbewegung wie es die Tea Party ist. Und wer von der Notwendigkeit der damaligen sexuellen Liberalisierung spricht, dem empfehle ich Houellebecqs “Elementarteilchen” oder “Ausweitung der Kampfzone” zu lesen!

  8. almasala sagt:

    Noam Chomsky sieht das so: Die Tea-Party ist keine soziale Bewegung, sondern wird massiv vom privaten Kapital unterstützt. Das ist eine Bewegung, die demografisch gesehen dem nicht unähnlich ist, was die Nazis organisiert haben. Kleinbürgertum, relativ wohlhabend, ausschließlich Weiße, die Angst vor Fremden haben, weil sie fürchten, dass die weiße Bevölkerung irgendwann in der Minderheit ist.

  9. Michi sagt:

    “Kleinbürgertum, relativ wohlhabend, ausschließlich Weiße…”
    Das waren die 68er auch!

  10. Eco sagt:

    Alle beiden Richtungsgedanken, gibt es mehr oder minder ausgeprägt (tlw. unterdrückt) in allen Gesellschaften, was in etwa bei De Rechts und Links ist, grob übersetzt heisst Konserativ und Demokratisch in US, dass gibt es natürlich mit vielen Facetten ausgeschmückt (u.a.Religion) auch in anderen Nationen, es gibt fast nie einen richtigen Konsenz, die Kräfte reiben immer aneinander und wenn sie dies nicht mehr tun würden, hätte die Gesellschaft ein Problem!
    M.A.nach…

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