Ein Jahr Revolution

Demokratie, Vertrauen und Selbstbewusstsein

Ein Pamphlet von Ludo Vici

Als letztes Jahr der arabische Frühling die Welt erstaunte und die Sehnsucht der Menschen nach Selbstbestimmung in den Camps auf der Puerta del Sol auch in Europa eine ganz eigene Form fand, waren wir alle erfüllt von einem Gefühl des Aufbruchs. Wir waren erfüllt von der Chance auf einen Neuanfang und wir brannten alle darauf, die wesentlichen Fragen unserer Gesellschaften neu zu verhandeln. Wir alle spürten, dass es endlich an der Zeit ist überkommene Politik- und Finanzkonstruktionen zu überprüfen und sie dort, wo sie der Überprüfung nicht standhalten, abzuschaffen.

Doch schon alsbald wurde wieder kräftig der Theaterdonner gerührt und es wurde bis zum Erbrechen wieder und wieder die große Krisenoper aufgeführt, rücksichtslos mit allen Konsequenzen für die Menschen. Choral um Choral erschien auf der Bühne und schmetterte den bedrohlichen Gesang vom Verlust des Vertrauens der Finanzmärkte in die Landschaft. Orchestriert von Rating-Agenturen und willfährigen, rückratlosen Medien wurden die noch vorhandenen Löcher der letzten Krise versteckt und man ließ sorgsam aus dem Trümmerhaufen der Finanzkrise das Infernogebilde der Staatskrisen entstehen.

Man erinnere sich nur an die seltsame Kette von Vokabeln, die da auf der Bühne in Polonaise ging. Aus der Bankenkrise wurde eine Finanzkrise, aus der Finanzkrise eine Wirtschaftskrise, aus der Wirtschaftskrise eine Staatskrise und nun aus der Staatskrise eine Eurokrise …und die einzige Rettung, die uns nun daraus helfen soll, führt uns ausgerechnet wieder zu jenen Akteuren zurück, die die Ursache waren und denen wir nun dienen sollen. Das ist absurd. Noch viel mehr: es ist gefährlich.

Gerade jetzt, während der Jahrestage der ersten Demonstrationen der spanischen Demokratiebewegungen, taucht immer wieder die Frage auf, was sich denn in diesem letzten Jahr verändert habe und ob es nicht besser wäre, einzugestehen, dass sich diese Proteste einreihen werden in die lange Liste jener Bürgerrechtsbewegungen, die, sicher mit viel Sympathie bedacht, letztlich doch nur eine vorübergehende Erscheinung sind und an den wesentlichen Strukturen nichts zu verändern mögen. Ist Global Change nicht nur ein Schlagwort, das sich früher oder später hilflos in eine kleine Nische der Subkultur zurückziehen wird?

Hier zeigt sich, meinem Verständnis nach, schon die erste grobe Fehleinschätzung. Die Nischen der Subkultur sind, gerade wenn es um gesellschaftliche Auseinandersetzungen geht, keine Rückzugsgebiete, sondern eben die Ausgangspunkte kultureller und gesellschaftlicher Strömungen, die in teils länger, teils kürzer andauernden Prozessen einen sehr wesentlichen Einfluss auf die Gesellschaft haben. Der politische Mainstream bezieht seinen Glauben im Recht zu sein in der Hauptsache daraus, dass er wesentliche Machtpositionen besetzt hat und darüber bestimmend auf das Bewusstsein der Öffentlichkeit einwirken kann. Aufrechterhalten wird diese Behauptung nur durch eine Struktur sich gegenseitig bestätigender Abhängigkeiten. Abhängigkeit ist per se nichts Schlechtes. Zum Beispiel wenn sie von liebevoller Sorge getragen wird, so wie es im Idealfall im Verhältnis zu kleinen Kindern der Fall ist, wenn Abhängigkeit und Vertrauen eine Verbindung eingehen, die in der Freiheit des Einzelnen mündet.

Destruktiv aber wird Abhängigkeit, wenn sie durch eine hierarchische Struktur hindurch nach oben hin potenziert wird. In diesem Falle führt sie in die Unfreiheit, in die Unmündigkeit, in die Kontrolle. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Politik wird also nicht beantwortet durch die bewusste, freie Entscheidung der Mitglieder einer Gemeinschaft, sondern durch eine Unterordnung, die von Abhängigkeiten diktiert wird. Ein derart verzerrtes öffentliches Bild des Bewusstseins einer Gesellschaft wird dann bedenkenlos in den Mehrheitswillen umgedeutet und dieser mit fadenscheinigen Argumenten juristisch und polizeilich gegen die Proteste auf der Straße verteidigt.

So können die in diesen Strukturen eingebetteten Führungspersonen staatsmännisch vorgeben im Sinne der Allgemeinheit zu Handeln, selbst wenn sie genau das Gegenteil davon tun und nur dem Machterhalt verpflichtet sind und die gestaltende Politik lediglich als Dekoration hinzugeben. Die effektivste Form der Machtausübung besteht darin, eine Realität zu inszenieren, die dem Machtlosen das Gefühl gibt, es wäre zu seinem Besten sich zu fügen. Macht entfaltet sich also nicht aus einer Übereinkunft, sondern wird schlicht beansprucht. Dieser im gestaltenden Sinne inhaltsleere Machtanspruch wandelte sich über die Jahre in einen offensichtlichen Machtmissbrauch, indem er die Politik zu einer Erfüllungsgehilfin des Finanzkapitalismus machte.

Über Jahrzehnte deklassierte man den freien Bürger zu einem Zaungast der Politik. Über große Zeiträume gelang dies relativ einfach durch die Bedrohungsszenarien einander gegenüberstehender Militärblöcke. Alles hatte sich letztlich diesem Damoklesschwert unterzuordnen. Im Westen störte sich die ganz große Mehrheit nicht daran am Katzentischchen der Macht zu sitzen, war doch dieser durch Wirtschaftswunder und steigenden Wohlstand reichlich gedeckt. Im Osten verließ man sich auf das Instrument der Unterdrückung, das zumindest eine zeitlang ebenfalls funktionierte. Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts wurde nun deutlich, dass das Rezept der Täuschung weitaus effektiver ist als das der Unterdrückung.

Gestärkt durch den Sieg über das feindliche System begingen aber die Sieger nun den Fehler zu glauben, ihres wäre unfehlbar und beliebig ausbaubar. Sie lösten den Begriff der Verantwortung aus dem Begriff der Freiheit, bevor sie diesen aus kurzsichtigen und eitlen Motiven dem Kapital übereigneten und setzten damit eine sich stetig beschleunigende Spirale in Gang, die sich mehr und mehr ihrer Kontrolle entzieht. Ein gleichermaßen fragiles wie gefährliches Gebilde aus ungedeckt geschöpftem Geld, Schuldkonstruktionen und Zinsmechanismen durchdringt alle Bereiche des Lebens, unterwirft sie unkontrolliert ausgerufenen Sachzwängen und ist drauf und dran ganze Zivilgesellschaften zu zerstören.

Die ganze durchschlagende Destruktivität dieses Gebildes ist schon in seinen Grundannahmen angelegt. Es basiert auf Misstrauen und Gier. Es misstraut den Menschen sich in einer offenen Meinungsfindung eine Regierung zu schaffen, die den Menschen verantwortlich ein vergemeinschaftetes Geldsystem verwaltet. Stattdessen erschafft man zur Kontrolle der Regierungen einen Finanzmarkt und hofft, dass sich dieser gierig genug verhält, die Menschen soweit anzutreiben, jene Zinsen für ihn zu erarbeiten, die er sich wünscht. Auf dieser Basis kann und wird niemals etwas Konstruktives erwachsen, sondern zuletzt das, womit wir es jetzt zu tun haben: Ein Gebäude aus Lügen, das mit immer weiteren Lügen gestützt wird und dessen Arroganz im Postulat der alternativlosen marktkonformen Demokratie gipfelt.

Aber auch gegen die geschickteste, durchtriebenste und hinterhältigste  Öffentlichkeitsarbeit gibt es zwei wirkungsvolle Waffen: Information und Kommunikation, gepaart mit Neugier, Wachsamkeit und viel Leidenschaft entlarven sie, des Kaisers neue Kleider. Und auch gegen die Mechanismen der Abhängigkeit gibt es ein bewährtes Mittel: die Solidarität, die letztlich weit mehr Gewinner hervorbringt als der Egoismus. Und auch gegen die gefühlte Ohnmacht gibt es eine Methode: Selbstbewusstsein – sich seiner selbst und seiner Möglichkeiten bewusst sein. Die eingangs gestellte Frage beantwortet sich von selbst. Es ist unübersehbar, unüberhörbar und unüberspürbar, wie sehr die Dinge in Bewegung geraten sind. Nur wer der seltsamen Vorstellung nachhängt, die Demokratiebewegungen in den verschiedenen Ländern seien plötzlich entstanden und müssten zu ebenso plötzlichen Ergebnissen führen, kann zu dem durch und durch falschen Schluss kommen, sie seien ohne Bedeutung. Die Demokratiebewegungen sind nicht plötzlich entstanden, sie sind weder Anfang noch Ende einer Empörungswelle, sondern sie sind Teil eines längst begonnenen und nun immer deutlicher werdenden dynamischen Veränderungsprozesses, ein Öffnen der Horizonte, das kreative und erfindungsfreudige Infragestellen verkrusteter Verabredungen und starrer Politiksysteme.

Die Mündigkeit des Einzelnen wird sich aus der unumschränkten Marktlogik lösen und neue Verbindungen mit dem Gemeinwohl eingehen. Die Auswirkungen dieses Prozesses werden größer und bedeutender sein als wir uns das vielleicht im Augenblick vorstellen können, denn dieses erweiterte und verantwortungsvollere Selbstverständnis der Menschen wird nicht nur den politischen Apparat verändern, sondern nichts weniger als eine neue politische Kultur erschaffen. Diese Umwälzung, Revolution, Revolte oder wie auch immer man es nennen will, ist nicht nur eine politische und soziale, sie ist auch und vor allem eine kulturelle.

Die reine Marktlogik ist keine Grundlage für eine Gesellschaft. Wenn man ihr nicht die Grenzen des Gewissens entgegensetzt, ist sie zerstörerisch. Wir brauchen, wir wollen, wir fordern endlich wieder eine Kultur des Miteinander, der Mitbestimmung, eine Kultur, die die schöpferischen Kräfte des Menschen erweckt, die sich beruft auf Respekt und Würde, und ihr Handeln an den grundlegenden Menschenrechten ausrichtet. Denn diese sind nicht käuflich, sie sind nicht verkäuflich und sie sie auch in keinster Weise verhandelbar. Nicht Schuldtilgungs- und Zinsenberechnungen werden über unsere Zukunft bestimmen, sondern Vertrauen und Selbstbewusstsein.

Zum Thema:

– Was ist Soziale Marktwirtschaft

– Die spanische Protestbewegung

– Zurück zur Utopie

– Freiheit auf arabisch

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4 Kommentare zu "Ein Jahr Revolution"

  1. blogfighter sagt:

    Die denk- und merkwürdigen Thesen von Ludo Vici korrespondieren interessanter Weise auch mit den Thesen von Harald Werner: “Selbsttäuschung (in der Linkspartei) und Fremdbestimmung (der Zivilgesellschaft, von der Ludo Vici handelt)

    http://www.haraldwerner.homepage.t-online.de/cms/

  2. wer jeden tag ohne weiteres nachdenken zu seinem arbeitsplatz geht um dort vor “seinen chefs” zu kuschen und sich ausbeuten zu lassen, wird niemal ein wirklich aufrechter, selbstbewusster bürger oder demokrat werden können. wirklich demokratische verhältnisse bedingen zuerst eine demokratische arbeitswelt. und davon sind wir meilenweit entfernt.

  3. Otto sagt:

    Bereits während der Erziehung im Elternhaus vor dem Fernseher oder in der Schule im Wettbewerb wird dem künftigen Bürger sein Verantwortungsgefühl und und Selbstbewusstsein getrübt. Dieses verantwortungslose und kurzsichtige Kalkül der herrschenden Elite dient nur scheinbar ihrem Machterhalt. Denn im anbrechenden Zeitalter der möglichen Alternativen, die schon immer da waren, aber dem Bewusstsein effektiv vorenthalten waren, wird die Diskrepanz zwischem dem was ist und dem was möglich ist immer stärker wahrgenommen werden. Dies wird die Tendenz zum Erwachen, den Willen zum Aufbrechen der Truman-Schale verstärken und letzten Endes auch einleiten.

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