Freiheit auf arabisch
Schein und Sein der arabischen Revolutionen

Nicht die Aussicht auf das westliche Demokratiemodell, sondern sozial und wirtschaftlich untragbare Zustände sind die Ursachen des arabischen Aufbegehrens gegen den Despotismus.

Foto: Raphaelthelen / flickr.com / CC-Lizenz

Von Sebastian Müller

Die bisherigen arabischen Revolutionen, mit welchen das politische Jahr 2011 begann und deren weitere Ausbreitung derzeit nicht absehbar ist, waren ein Kampf für Freiheit und Demokratie, so die anerkannte und veröffentlichte Erkenntnis der deutschen Leitmedien. Das gängige Bild suggeriert, dass die Tunesier, Ägypter und auch viele Lybier, angesteckt von den Verheißungen der westlichen Systeme, ihre eigenen Despoten nicht mehr ertragen konnten.

Doch ganz so einfach war und ist es nicht. Zunächst einmal schwingt in dieser Interpretation der Ereignisse eine gewisse Heuchelei mit. Noch vor kurzem sprach man dem arabischen Kulturraum die Fähigkeit zur Demokratie ab. Diejenigen Staatsoberhäupter, die jetzt vom Westen laut Diktatoren geschimpft werden, waren noch wenige Monate zuvor wichtige Verbündete Europas sowie der USA und prunkvoll hoffierte Gäste bei gemeinsamen Treffen. Korrupte Kleptokraten, die das westliche Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit aufrecht erhielten, ließen sich bereitwillig dafür einspannen, größere Flüchtlingsströme von Europa fernzuhalten und verlässlich günstige Rohstoffe zu liefern.

Ferner hat die Globalisierung der arabischen Märkte einerseits, und die Forderungen des internationalen Währungsfonds (IWF) als auch die Programme der Europäischen Kommission für den Mittelmeerraum andererseits, den Zugriff der arabischen Machthaber auf die Wirtschaft entscheidend gefördert. In vielen Branchen haben große multinationale Unternehmen Monopole oder Oligopole etabliert, die mit der jeweiligen Staatsführung die Aufteilung der Gewinne aushandelten, beziehungsweise dies bis heute tun.

Die Entscheidungsträger innerhalb dieser Kartelle, wie die Familien Traboulsi und al-Matteri in Tunesien, die Clans der Sawiris und der Ezz in Ägypten, als auch die der Makhlouf in Syrien stammen alle aus dem Clan oder Dunstkreis der jeweiligen Machthaber. So kontrollierte der Clan des gestürzten Präsidenten Ben Ali etwa 40 Prozent der Unternehmen Tunesiens und brachte rund 10 Mrd. Euro außer Landes. [1] Nicht zuletzt sind und waren diese Familienclans in den arabischen Ländern willkommene Ansprech- und Investitionspartner internationaler Konzerne.

Der Journalist Samir Aita macht diese Führungscliquen, die mit dem Großkapital verwachsen sind, als die Hauptgegner der arabischen Demokratiebewegung aus. Und wenn man davon ausgeht, dass die Interessen dieser Machtcliquen deckungsgleich mit denen der westlichen Konzerne sind, verwundert es nicht mehr, warum die Regierungen der EU so zögerlich mit Solidaritätsbekundungen für die demonstrierende Bevölkerungen waren. Zine el-Abidine Ben Ali etwa gewährte ausländischen Unternehmen bis zu 20 Jahren Steuerbefreiung und darüber hinaus das Recht, weite Teile des Arbeitnehmerschutzes zu ignorieren. [2] Erst als sich langsam abzeichnete, dass sich Ben Ali und später Mubarak nicht werden halten können, schwenkten die Europäer und Amerikaner ein und dienten sich dem Umfeld an, aus dem sich wohl die neuen Machthaber rekrutieren werden.

Wie sich die Situation in Tunesien und Ägypten aber langfristig entwickelt, ist längst nicht entschieden. Vor allem, weil die arabischen Revolten eben nicht primär durch den Ruf nach Freiheit und Demokratie in Gang gesetzt wurden, sondern – ganz banal – durch den Ruf nach sozial gerechteren Zuständen, sprich besserer Lebensqualität. Nicht die Aussicht auf das westliche Demokratiemodell, sondern sozioökonomische und demographische Verschiebungen haben die Zustände in diesen Ländern unerträglich werden lassen. In den vergangenen 10 Jahren sind die Kinder des arabischen „Babybooms“ ins arbeitsfähige Alter gekommen. Diese in großen Teilen gut ausgebildete Generation stößt nun – im Übrigen wie in vielen anderen Regionen der Welt auch – auf einen Arbeitsmarkt, der keine Perspektiven bietet.

In den arabischen Ländern lebt heute ein Drittel der Erwerbsbevölkerung von Gelegenheitsjobs, – wie der tunesische Student Mohamed Bouazizi, der sich am 17. Dezember 2010 in einem Akt der Verzweiflung selbst verbrannte – meist im informellen Sektor. Ein weiteres Drittel ist zwar offiziell im formellen Sektor beschäftigt, doch auch hier handelt es sich hauptsächlich um Arbeitskräfte auf Tageslohn- oder Honorarbasis, die weder einen Arbeitsvertrag noch Anspruch auf Sozialleistungen noch gewerkschaftlich abgesichterte Arbeitnehmerrechte haben. [3]

Der Ruf nach Freiheit (wie sie der Westen definiert) dürfte daher – wie viele andere, oft einander widersprechende spezifische Forderungen, die im Laufe der Aufstände laut wurden – nur die Begleitmusik der Forderung nach gerechter Verteilung des Volksvermögens sein. Eine nennenswerte Sozialpolitik wurde den Arabern bisher von den oligarchischen Machteliten ebenso verwehrt, wie sie auch in Europa immer stärker in den Misskredit gerät. Die Umverteilung des Reichtums von oben nach unten wurde in den letzten Jahrzehnten weltweit auf ein Minimum begrenzt oder vollständig aufgehoben.

Dass also nicht nur für die Revolten im arabischen Raum, sondern auch für Unruhen und Proteste weltweit die zentrale Ursache die soziale Frage sein dürfte, legen auch die panischen Reaktionen der arabischen Machthaber nahe: Die Regierungen von Nordafrika, Nahost und der arabischen Halbinsel erhöhten nach dem Sturz Ben Alis allesamt ihre sozialen Ausgaben. In Marokko wurde unter anderem die staatliche Subventionierung von Konsumgütern um etwa 1,5 Milliarden Euro aufgestockt und damit verdoppelt. Die algerische Regierung bewilligte für neue Sozialprogramme Haushaltsgelder in Höhe von 20 Milliarden Euro. Jordanien senkte die Steuern für Benzin und Grundnahrungsmittel. Die syrische Staatsführung bewilligte 187 Millionen Euro zur Unterstützung der Armen. Die Steuern auf Kaffee und Zucker wurden gesenkt, andere Grundnahrungsmittel dadurch verbilligt, dass die Einfuhrzölle reduziert wurden. [4]

Des weiteren wird die Auffassung, dass die soziale Frage die Triebfeder der Aufstände ist, durch eine andere Analyse gestützt: Die Explosion der Lebensmittelpreise, die zu rund 15 Prozent auch durch die Spekulationen auf den Finanzmärkten verursacht wurden, haben bereits seit 2008 zu weltweiten Hungerrevolten geführt. An allen arabischen Brennpunkten wurden stets auch die hohen Lebensmittelpreise angeprangert. Das Welternährungsprogramm wies schon vor einem Jahr auf die sich deutlich zuspitzende Lage im Jemen hin, einer der besonders aktiven Brennpunkte der anhalten Revolten und Unruhen. Laut WFP sind ein Drittel der jemenitischen Bevölkerung unterernährt, mehr als 7 Millionen Menschen hungern.

Es ist bezeichnend, dass diese Aspekte in der europäischen Medienlandschaft kaum zu Sprache kommen; passen sie doch weder ins Bild einer arabischen Kulturrevolution, noch werfen sie ein gutes Licht auf die Rolle, die der EU bei diesen Zuständen zukommt. Die arabische Revolution als das anzuerkennen, was sie ist, nämlich eine Hungerrevolte die sich gegen soziale Verwerfungen stemmt, würde unweigerlich Fragen zur Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik aufwerfen. In Griechenland und Frankreich brannten die Innenstädte aus ganz ähnlichen Gründen wie in Tunis oder Kairo.

Leugnen lässt sich zweierlei nicht: Demokratie wird es in Arabien nur geben können, wenn sie sich auch die sozialen Bedingungen grundlegend bessern und die Oligarchen an Macht verlieren. In Europa dagegen sind genau die gleichen Bedingungen nötig, damit sich die Demokratie wird halten können.

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[1] http://www.dasdossier.de/presseschau/macht/staat/bilanz-und-ausblick

[2] http://www.dasdossier.de/presseschau/macht/staat/bilanz-und-ausblick

[3] Aita, Samir: Freiheit für den Staat. Die Hauptgegner der arabischen Demokratie sind die Oligarchen, in: Le Monde diplomatique, April 2011, S. 4.

[4] http://www.guardian.co.uk./world/interactive/2011/mar/22/middle-east-protest-interactive-timeline

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Noch keine Kommentare zu "Freiheit auf arabisch
Schein und Sein der arabischen Revolutionen"

  1. profiprofil sagt:

    Sebastian Müllers politisch-ökonomisch orientierte Analyse ist der richtige Zugang zum Thema und seine Schlussfolgerungen sind dementsprechend diskussionswürdig: “Demokratie wird es in Arabien nur geben können, wenn sie sich auch die sozialen Bedingungen grundlegend bessern und die Oligarchen an Macht verlieren. In Europa dagegen sind genau die gleichen Bedingungen nötig, damit sich die Demokratie wird halten können.”

    Hier meine Denkanstöße: was wird hier unter “Demokratie” verstanden und warum sollten die Oligarchen ihre Machtposition aufgeben, und zwar die in Nordafrika ebenso wie die bei “uns”?!

    In punkto “Demokratie” stimme ich mit der Synthese von Chantal Mouffe in diesem BLOG überein, wenn sie schreibt: “Eine der zentralen Thesen in den aktuellen Diskussionen über „Postdemokratie“ besagt, dass moderne Demokratien hinter einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien zunehmend von privilegierten Eliten kontrolliert werden. Die Umsetzung neoliberaler Politik habe zu einer „Kolonisierung“ des Staates durch die Interessen von Unternehmen und Verbänden geführt, so dass wichtige politische Entscheidungen heute außerhalb der traditionellen demokratischen Kanäle gefällt werden. Der Legitimitätsverlust demokratischer Institutionen zeige sich in einer zunehmenden Entpolitisierung.” https://le-bohemien.net/2011/03/09/postdemokratie/

    Diese “privilegierten Eliten” – pauschal formuliert: die akademisch qualifizierten Leitungs- und Führungskräfte in Politik, Bildungssystem und Massenmedien – sind aber ihrerseits nur die “Fassade”, sprich: die Lautsprecher der Herrschenden im Lande und weltweit, zu denen ich nicht das Kapital an sich, sondern federführend das von mir auf den Begriff “raffendes Kapital” http://profiprofil.wordpress.com/2009/06/11/raffendes-kapital-1/ gebrachte spekulativ “arbeitende” Finanzkapital rechne.

    Sicherlich weiß gerade ich die rechts- und sozialstaatlichen Errungenschaften in Deutschland sehr zu schätzen, doch ich lasse ich mich gerade deshalb nicht von den Fassademalern blenden, die – zwecks Rettung ihrer privilegierten politisch-ökonomischen Positionen – unkritischer, willfähriger, feiger geworden sind bei der Verteidigung der verfassungsmäßigen Grundlagen „unserer“ Freiheit.

    Wie aber könnte das aussehen, dass auch – und gerade – die Oligarchen in Europa und in den USA “an Macht verlieren”?!

    Ich befürchte, dass die Zustimmung des Gros der Wähler in Europa zum Herrschaftssystem “unserer” Oligarchen erst dann ins Wanken kommen wird, wenn der unvermeidliche “Haircut” zwecks Sanierung des Bankensystems so tief angesetzt werden muss, dass auch die “Plappernde Kaste” gegen die von ihr momentan noch mit Hingabe zelebrierte Ideologie von “Freiheit als Konsumfreiheit” rebelliert, ein Evangelium, das ja nicht nur die nordafrikanischen Prekariatsrevolten, sondern auch bereits die Revolten in Polen, DDR, Ungarn etc. entscheidend mit ausgelöst hatte.

    Wie also könnte er aussehen: der Abschied von „unserer“ Lebenslüge namens “akkumuliere, akkumuliere: das ist Moses und die Propheten!” (K. Marx)?

    • profiprofil sagt:

      Höchst informativ ist der Link auf eine Plattform von Akademikern, die sich selbst als “Elite” im Bereich Außen- = Sicherheitspolitik verstehen, und von denen ihr “Mitglied” J.D. Bindenagel in der heutigen SZ eine Außenansicht veröffentlicht hat, die ich demnächst auf http://www.blogfighter.de kritisieren werde.

      Hier der Link zum Thema “privilegierte Eliten” – “Plappernde Kaste” am Beispiel “The World Security Networ”:: http://www.worldsecuritynetwork.com/corp/index3.cfm

      Drei Dependancen werden genannt: World Security Network UK (London), World Security Network – Deutschland e.V. (Berlin), World Security Network Foundation USA (New York)

le-bohemien