Über die unsägliche Rolle des deutschen Journalismus im Zuge der Entstehung des Movimiento 15-M
Eine Anklage. Von Florian Hauschild
Es war ein heißer Mai. Für die Spanier, für die Griechen, für die Portugiesen, für die Franzosen. Vor allem in den südlichen Ländern tritt auch die Hitze der Empörung zutage: Die europaweite Unzufriedenheit mit einem System, das immer mehr Menschen Zukunftsperspektiven und die Chance auf ein würdevolles Leben raubt. Wie Eiterbeulen auf einem kranken Leib quollen die protestierenden Massen hervor auf Europas Straßen und Plätzen, um zu sagen: „Es reicht. Wir sind dagegen. Wir werden künftig nicht mehr schweigen!“. Kann man es ihnen verübeln? Wohl kaum.
Doch wie präsent ist den meisten Deutschen die emotionale Lage der Menschen in den Ländern der europäischen Peripherie? Es gab Proteste, ja das weiß man. Die Lage ist ernst, auch das weiß man schon lange. Doch was sich seit dem 15. Mai 2011 wirklich in Spanien, Portugal und zunehmend auch in Griechenland abspielt wissen die wenigsten.
Wer kennt die Bilder von den basisdemokratischen Bürgerforen, die auf den spanischen Plätzen mittlerweile landesweit gegründet wurden? Wer kennt die Strukturen, die mittlerweile in ganz Europa entstehen? Strukturen, aufgebaut von einer Generation, die erkannt hat, dass der neoliberale Gesellschaftsentwurf ein Irrweg ist, dem keine weitere Chance gewährt werden soll.
Und während sich diese Generation höchst professionell vernetzt und ein Niveau des gegenseitigen Informationsaustausches erreicht, das die Machteliten völlig überrascht, sinnieren einige darüber, dass Internet und politische Teilhabe doch eigentlich nicht soviel miteinander zu tun haben. Das Gegenteil ist längst politische Realität: 14 Millionen Spanier – das sind 30 Prozent der Gesamtbevölkerung – nutzen Facebook. Mit Blick auf die jungen Spanier benennt das Handelsblatt gar 92 Prozent dieser als so genannte „Internauten“. So wundert es nicht, dass eine Analyse von tobesocial vom 30. Mai 2011 den Ursprung der „Spanischen Revolution“ in den sozialen Netzwerken sieht.
Natürlich: Die Manifestierung der „Bewegung 15. Mai“ wird nur gelingen, wenn die bereits entstehenden realen, nichtvirtuellen Strukturen weiter gefestigt werden; doch ist es kindlich und dumm zu glauben die Entstehung dieser Bewegung wäre ohne den Einfluss von Social Media möglich gewesen.
Genauso töricht ist es zu behaupten, die Bewegung wisse nicht was sie wolle. Die Anliegen der Demonstranten sind mehr als klar: Mit der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich, mit der immer größeren Umverteilung von unten nach oben, und mit der immer größeren Akkumulierung von Macht in der Hand einiger weniger kleptokratischer Eliten soll Schluss gemacht werden. Die Empörung hat ihren Ursprung in nicht mehr hinnehmbaren sozialen Verwerfungen, ausgelöst durch ein gescheitertes neoliberales Gesellschaftsmodell, missbraucht von Wirtschaftsmächten, akzeptiert und protegiert durch ein schwaches und korruptes politisches System, das sich durch Anbiederung und Willfährigkeit seit Jahren zunehmend selbst diskreditiert. Kurz: Die Bewegung will Demokratie – wirkliche Demokratie!
Auch den Parteien gilt die Empörung, denn vielerorts in Europa haben sie vergessen, dass Parteien die Interessen der Bürger zu vertreten haben, anstatt den hechelnden Schoßhund zu spielen für jene, die längst zum Herr im Hause geworden sind. Der Tsunami der Empörung, der durch Europa rollt, ist auf dem besten Weg zu einer handfesten Systemkrise zu werden. Und worüber redet Deutschland? Ehec! Bestenfalls noch über Atomstrom.
Fragt man sich nach der Ursache dieses sozialen toten Winkels, so ist es wohl die Tatsache, dass für die meisten Deutschen wohl immer noch folgender Leitspruch zu gelten scheint: Eine Realität die bei Springer, Spiegel online und vielleicht noch der Tagesschau nicht präsentiert wird, existiert nicht. Journalisten blicken noch auf den dpa-Ticker. Facebook? Das ist doch Kinderkram, so die gängige Meinung.
Die unglaubliche Naivität und ungeheure Blindheit dieses Denkansatzes lässt sich nicht in Worte fassen. Fakt ist vielmehr: Soziale Netzwerke – allen voran Facebook, aber auch Twitter – sind Medien. Sie transportieren Information von a nach b und wahlweise auch von a nach z, über p, vorbei an f, bereichert durch die Meinung von l und so weiter.
Ja, es gibt eine soziale Realität außerhalb derer, wie sie in den Blättern aufbereitet wird, es gab sie schon immer. In persönlichen Gesprächen, Debattenkreisen, am Stammtisch. Neu ist, dass durch die zunehmende Digitalisierung des Lebens ein soziales Gegenbewusstsein heranwächst, das im immer größeren Gegensatz zum ebenfalls wachsenden Kampagnenjournalismus vieler Leitmedien steht – eine Entwicklung mit gar revolutionärer Sprengkraft, sofern dieser Mechanismus auf Organisation und Unzufriedenheit trifft, wie man in diesen Tagen sieht.
Interessant ist ferner, dass die berechtigte und wichtige Kritik an PR-gesteuerten Politikkampagnen mit denen die bekannten Leitmedien immer wieder vergewaltigt werden, kaum hinterfragt wird. Die Tatsache, dass eine massive Falschdarstellung von sozialen Phänomenen nur dann möglich ist, wenn zuvor großes Schweigen bezüglich der Entwicklung dieser Ereignisse geherrscht hat, wird dabei nämlich vergessen.
Denn zu allererst sind es die politischen Blogger und die Journalisten der kleinen Blätter, die ihr Ohr an den Puls der Zeit zu halten haben, um gesamtgesellschaftliche Stimmungslagen aufzufangen und widerzuspiegeln. Stück für Stück finden diese Stimmungen dann auch in den Leitmedien Gehör. Aus revolutionärer Wut wird so im besten Fall ein demokratischer Diskurs.
Bleibt dieser Informationsfluss jedoch aus, geschieht zweierlei:
– Die Empörten werden zu Wütenden und suchen und finden ihre Agitateure und Scharfmacher die sie zuerst verstehen und dann im aller wahrscheinlichsten Fall missbrauchen
– Kampagnenjournalisten und PR-Strategen nutzen die Unwissenheit der Gesamtbevölkerung um interessengeleitete „Wahrheiten“ zu schaffen
Eine nachhaltige Teilung der Gesellschaft ist der Fall. Nicht mehr nur noch entlang der Linie von Besitz und Nichtbesitz, immer mehr auch in Bezug auf die Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit. Genau dies wird geschehen, wenn über die wachsende Welle der Empörung, die derzeit durch Europa rollt, nicht endlich in angemessener Form berichtet und gesprochen wird.
Und zwar nicht nur in den sozialen Netzwerken oder einzelnen Nebenmeldungen auf Seite 7, sondern in Debattenform in den etablierten Medien unter Einbeziehung unserer vertrauten Institutionen, Organisationen und Parteien. Es gilt die Systemfrage zu stellen, nicht über so genannte Rettungspakete zu plaudern.
Es war schon einmal eine schweigende Masse, die in Deutschland eine Katastrophe zu verantworten hatte. Hoffen wir, dass sich Geschichte nicht zwangsweise wiederholt.
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Zum Thema:
“Was soll man von solchen Politikern erwarten” – Interview mit einem spanischen Aktivsten auf TP
Arbeitszeitverkürzung – Ein Manifest
Buch der Woche: Freiheit statt Kapitalismus
Die Mafia in der globalen Welt – Schurkenwirtschaft
Kommentare zum Thema gibt es auch im Spiegelfechter, wo der Artikel zweitveröffentlicht wurde:
http://www.spiegelfechter.com/wordpress/6196/reden-ist-silber-schweigen-ist-schuld#comments
Was die angesprochene Bewegung stärken, oder bessser formieren würde wäre ein “Wir”. “Wir” müssen lernen unsere gleichen Interessen, unseren gleichen Beweggründe zu sehen um dann ein eigenes “Bilderberg” zu gründen.
Lasst uns Mittel und Wege finden, dass wir “Wir” werden. Sorry natürlich, dass wir “WIR” sind.
Die Medien drucken das was Auflage macht… wenn in 2 Wochen das große Gesprächsthema “die Einheit der EU” ist, wird das gedruckt. Manchmal würde ich mir wünschen die freie Presse würde wissen oder nur halbwegs erahnen was sie für Schaden damit anrichten.
@querdenker: Die Hauptmedien von Liz Mohn und Friede Springer drucken überhaupt nicht das was Auflage macht, sondern das, was die gegenwärtigen Machtstrukturen reproduziert. Zu glauben, da seien die Hauptverantwortlichen dumm ist völlig naiv, ebenso wie zu meinen, die Sache funktioniere nach Angebot und Nachfrage. Man weiß in den Medienzentralen genau, was man tut, wenn man die Zeitungen un das Fernsehen und das Web mit einem Erreger vollstopft, der unfassbarer Weise Menschen jenseits der 75 zu töten im Stande ist. Man weiß genau, was man tut, wenn man ein Moratorium als wieder einmal gewaltigen Durchbruch präsentiert. Man weiß genau, was man tut, wenn man so gut wie nie über Frontex berichtet. Man weiß genau, was man tut, wenn man die Proteste dieser Welt als irgendwie planlos, aber vielleicht nachvollziehbar beschreibt. Man weiß genau, was man tut, wenn man die BLÖHT drucken und vertreiben lässt. Masse ist erst gegen Ende eine wichtige Frage in den Spielen der Macht ebenso wie Angebot und Nachfrage.
Die Konzernmedien funktionieren nach dem Prinzip des als alternativlos aufoktroyierten Denkens und nicht nach dem einer freien Nachfrage. Freie Nachfrage würde die Machtmechanik nämlich nicht so reproduzieren, das alles so bleibt, wie es ist.
Was man aber sicherlich behaupten kann ist, dass die Konzernmedien inkl. all ihrer Partner und Mitspieler auf Seiten der Macht zuehmend planloser werden, wie sie den Widerständen gegen sich selbst begegnen soll. Diese Oma-Killer-Virus-Kampagne ist Ausdruck dieses durchaus verzweifelten Versuchens den Widerstand noch irgendwie umzulenken. Wogegen diese Medienkonzerne und ihre Unterwürfigen zunehmend weniger machen können ist der recht banale Umstand, dass ein einmal (persönlich) gesetztes Misstrauen oder ein als zunehmend grundlegender geführter Skeptizismus so etwas wie eine Impfung gegen Propaganda-Kampagnen aller Art erzeugt, soweit sie aus den klassichen Quellen kommen. Und ebenfalls nachteilig war die Strategie der Macht, die jeweils bekannten dienstbaren Gesellschaftsinstanzen für diese Kampagne zu benutzen (zb. die Ärzte, die Ökonomen) die sich dadurch selbst geoutet haben und daher mit ebenso viel skeptischem Widerstand bekämpft werden. Die Entscheidung, sich von diesen Konzernmedien und dessen weitgespanntem Netz nicht mehr für dumm verkkaufen zu lassen ist deswegen zunehmend fataler (und am Anfang vielleicht unterschätzt worden!), weil diese Entscheidung nur schlecht rückgängig gemacht werden kann (“Ich vertraue jetzt doch wieder der BLÖHT” sagt sich kaum einer).
Die Empörten sind in diesem Sinne vor allem auch die Entschlossenen, nämlich entschlossen die Angstmache der Konzernmedien (denen alternativlose Handlungskonzepte folgen, die alle zu be-folgen hätten) nicht mehr mitzutragen.
Wenn also Angebot und Nachfrage, dann überhaupt Angebot und Nachfrage-Zurückweisung und eine solche Zurückweisung, die erst enden wird, wenn sich diese Medien wirklich verändert haben werden.
Und nebenbei brauchen die Konzernpamphlete auch nicht unbedingt die dicken Auflagen, da sie solange von gütigen Quellen gesponsert werden werden, wie sie ihre Aufgabe in den Machtspielen zu erfüllen im Stande sind (sie sind finanziell nicht total vom Verkauf abhängig, deswegen ist das mit der Nachfrage differenziert zu betrachten, weswegen auch die Strategie des Angebots differenziert betrachtet werden muss). Solange sie eine Illusion relativer Normalität und wohl gelenkter Homöosthase erzeugen können, ist alles in Butter. Die Empöörten, die Entschlossene sind, sind aber gerade dabei genau diese Strategie zu durchkreuzen und diese Durchkreuzung wurde in ihren Effekten von den Dienstbaren und Verliebten der Macht definitiv unterschätzt. Aber deswegen sind die noch nicht blöde oder dumm, sondern irgendwas zwischen überrascht mit den Armen rudnernd und übrigens zunehmend selbst zorniger und empörter.
Die Macht ist weder dumm noch naiv, sondern intelligent und zynisch.
dem kann ich zustimmen. wobei mir noch eindeutiger fehlt, welchen anteil die wirtschaft bzw. industrie dazu beigetragen hat. allgemein behaupte ich, will doch niemand mehr die (soziale) verantwortung für seine taten übernehmen. die wirtschaft wälzt die folgen ihres versagens unter berufung auf verlust von arbeitsplätzen auf den staat ab, der sieht sich mangels mieserabler – wenn denn überhaupt stattgefundener – reformen in jeglichen bereichen dazu veranlasst, die schuld daran einer anderen partei in die schuhe zu schieben und kümmert sich lieber um ehec. die seit jahrzehnten überfälligen reformen und anpassungen in den bereichen familien-, bildungs-, steuer- und rentenpolitik wird lieber noch nicht angefasst. zu heiß das eisen. denn sie wissen es alle: deutschlands bürger müssen den gürtel enger schnallen, wenn sinnvolle und vom system tragbare reformen auf lange sicht erfolgreich sein sollen. nur traut sich niemand, das den menschen zu vermitteln. wie auch? wenn wir überhaupt wählen gehen, wählen wir beim nächsten mal sicher niemanden, der mehr steuern von unserem geld haben will, um damit oben genannte bereiche zu sanieren. denn für “renovieren” ist es sowieso schon längst zu spät.