Agenda Konferenz des Tagesspiegel
Guter Journalismus gedeiht im Dreck

Wie der Tagesspiegel zur Avantgarde gehören will: Die Agenda-Konferenz in Berlin und die Zukunft der freien Presse.

Von Paul Simon

Was gehört als Nächstes auf die politische Agenda? Die Experten-Konferenz am 30. November 2015 mit Vizekanzler Sigmar Gabriel. Jetzt Frühbucher-Ticket sichern!

So schallte es mir vor kurzem aus meinem E-Mail-Postfach entgegen. Es weckte Erinnerungen an eine bizarre Veranstaltung vor gut einem halben Jahr: Die erste Agenda-Konferenz. Die Agenda ist eine wöchentliche Beilage des Tagesspiegels, die sich direkt an das politische Berlin richtet, an die „Politik-Entscheider“ und „Interessensvertreter“ beiderseits. Sie liefert nicht nur Berichte aus der politischen Szene – die „Hintergründe aus den Hinterzimmern“ – sondern versucht eine Zwischenöffentlichkeit zu etablieren, in der sich Journalisten vor allem an die „Eliten“ aus der Politik wenden, anstatt an die Öffentlichkeit allgemein.

Damit versucht der Tagesspiegel offenbar die perfekte Bühne für Anzeigen und Einflußnahme seitens Lobbyisten und Wirtschaftsvertretern zu schaffen, die ihre Botschaft genau dort platzieren können, wo sie die größte Wirkung entfalten: in der angeblichen Lokalzeitung des Regierungsviertels. „Wer den Politik-Entscheidern etwas zu sagen hat“, preist der Tagesspiegel die Agenda an, „hat jetzt ein passendes Forum.“ Und wer dabei Hilfe braucht, kann die Beratung zur „Kommunikationsstrategie und -umsetzung“ gleich bei der Zeitung mitkaufen.

Eine Atmosphäre des Insidertums versuchte auch die Konferenz zu schaffen, die ja im Gegensatz zur Zeitungsbeilage tatsächlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. 980 Euro sollte ein Ticket kosten, aber dafür kriegt man einiges geboten: Dieses Jahr, am 30. November, hat neben Sigmar Gabriel auch Gesundheitsminister Hermann Gröhe zugesagt. Auf der ersten Konferenz hatte der Kanzleramtschef Peter Altmaier eine Rede gehalten, eingerahmt vom Präsidenten des BDI und einer Reihe von anderen Lobbyisten. In „Politik-Briefings“ sollten diese in wenigen Minuten ihre Forderungen an die Politik stellen. Das ausgesuchte Publikum aus „Regierung, Wissenschaft, Parteien aber auch NGO’s und Medien“ (genannt „Policy Panel“ im hässlichen Neusprech der Konferenz) würde dann dann auf bereit liegenden iPads die Vorschläge bewerten.

Das Ganze wird als eine Möglichkeit beworben, um exklusiven Einblick in die aktuellen relevanten Politikfelder zu gewinnen – und um ein paar wichtige Menschen hautnah zu erleben. Warum sollte man auch sonst fast 1000 Euro dafür bezahlen?

Es war vor allem diese Zahl, die das Interesse in mir hervorrief, mich für ein kostenloses Studententicket zu bewerben – eine Bewerbung übrigens, die – das dachte ich, sei ich der Veranstaltung schuldig – aus komplett falschen Angaben bestand. Wenn ich mich recht erinnere, behauptete ich, ich interessiere mich für „innovative Konzepte der partizipativen Demokratie“ und könne es deshalb kaum erwarten, einen Haufen gelangweilter alter Männer auf einem iPad herumdrücken zu sehen.

„1000 Euro!“, so hallte es in meinem Kopf wider, als ich mich am Morgen der Konferenz vor dem Gebäude des Tagespiegels am Potsdamer Platz herumdrückte. Ein einschüchternder Betrag – genug um mein Konto auszugleichen. Auch äußerlich alles sehr eindrucksvoll und einschüchternd: Die schwarzen Limousinen vor der Tür, die Armada von schönen Frauen, die einen begrüßten. Das teuer aussehende Catering. Die Menge an Leuten im Anzug.

Doch ein Satz aus dem Mund von Tagesspiegel-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff, der die Konferenz moderierte, genügte, um die anfängliche Ehrfurcht zu relativieren. Was für eine Anspannung fiel von mir ab!

Casdorff musste nur den Mund aufmachen und damit anfangen, seine launigen Sprüche zu klopfen und mir wurde klar: „Keine Sorge, dies ist keine ernste Veranstaltung.“ Er trat eher wie ein Entertainer auf, ein echter MC eben, bloß mittelalt und mit einem teuren Kugelschreiber. Die meisten seiner Witze zielten darauf ab, die Anglizismen und PR-Begriffe ins Lächerliche zu ziehen, die der Konferenz einen ultra-modernen Anstrich geben sollten („Policy Panel“! „Keynote-Speaker“!). Es sollte wohl den neoliberalen catchphrases ein menschliches Antlitz geben und kam bei dem älteren Publikum auch gut an.

Selbstbewusste Ideologie…

Dann trat Peter Altmaier auf und die Atmosphäre änderte sich ein wenig. Die Sprecher, die vor ihm sprachen – zum Beispiel der Präsident des BDI – waren ziemlich langweilig. Das lag zum einen an dem absurden Fünf-Minuten-Limit, das jeder von ihnen haargenau einhielt, zum anderen aber an der Tatsache, dass sie ihre Forderungen zwar explizit im Namen ihrer „Interessen“ stellen durften, bei der Formulierung aber darauf achten sollten, dass es klingt, als seien ihre Forderungen im Sinne des Gemeinwohls. Wenn das dann zum Beispiel der Vertreter der Chemie-Industrie versuchte, kamen nur Phrasen heraus – handfeste Wirtschaftsinteressen freundlich verpackt.

Der Kanzleramtschef aber machte daraus große, selbstbewusste Ideologie. “Deutschland ist stark und sympathisch“, das war Altmaiers Zirkelschluss aus Profit und freundlichem Nationalismus. Er redete noch einiges Belangloses über die „Herausforderungen der Digitalisierung“ oder die angebliche Notwendigkeit einer start-up-Kultur in Deutschland – das wichtigste aber war das permanente Beschwören des Pathos’ der „Strategiediskussion“, die wohlige Simulation eines verantwortungsvollen Nachdenkens der Industrieeliten über die Frage, wie man den ‘Wirtschaftsstandort Deutschland’ für die Zukunft vorbereitet. Oder wie Altmaier es entwaffnend offen sagte: man müsse dafür sorgen, dass man „auch in Zukunft in Deutschland gut Geschäfte machen kann.“ Nachhaltig, solide, mit Vorraussicht. Und wenn eine der ‘Herausforderungen,’ denen man sich ‘stellen muss’, auch der Klimawandel ist, umso besser.

Man kann durchaus empfänglich für diese Minstrel-Performance eines freundlichen korporativen Staates sein. Für die Vorstellung, dass wir in der Deutschland AG alle an einem Strang ziehen und von einer soliden Elite in weiser Vorraussicht geführt werden. Gerade in einer sich globalisierenden Welt hat der Gedanke einer nationalen (wenn’s sein muss, sogar ein bisschen korrupten!) Wirtschafts- und Machtelite auch etwas beruhigendes – ist nicht das wunderbare an „Seilschaften“, dass sie nicht so anonym sind wie der Aktienmarkt? Besonders wenn diese Vorstellung an einen deutschen Chauvinismus andockt und man die deutsche Solidität und Verlässlichkeit (wie glücklich klang Altmaier bei der Erwähnung der „schwarzen Null“!) mit der Fadenscheinigkeit anderer Länder vergleicht.

Es bedarf nicht einmal den Verweis auf Südeuropa oder echte Oligarchien wie Russland. Der Vergleich mit amerikanischen oder englischen Eliten, die genüsslich und sorglos ihre Gesellschaften kannibalisieren, genügt schon, und der deutsche Kapitalismus wirkt plötzlich ganz okay. Ist das nicht das große Versprechen der Nachkriegszeit, das, wofür alle diese Begriffe wie „Rheinischer Kapitalismus“ stehen – Kapitalismus, nur in gut? Deutsche Wirtschaft und Wall Street – das ist wie ein Vergleich zwischen bescheidenem Ein-Familien-Haus in der Vorstadt und gated community: Das Grundprinzip mag das gleiche sein, nicht aber die Dimensionen. Und wenn schon keine echte Alternative zur Wahl steht, ist man schon mit der CDU zufrieden.

… und ständige ‘Reformen’

Man konnte auch nicht anders, als von dem Maße beeindruckt sein, in dem die deutsche Wirtschaft sich offenbar vom „Weltmarkt“ unter Druck gesetzt sieht. Dies war der Grundtenor fast eines jeden Vortrages: Wenn wir nicht wachsam sind, Disziplin und Härte zeigen und außerdem noch auf der Höhe des technologischen Fortschrittes bleiben, kann die glückliche Situation in der sich unsere Industrie momentan befindet, schnell vorbei sein.

Dass die Dominanz marktwirtschaftlichen Denkens in unserer Zeit auch damit zu tun hat, dass ‘normale Menschen’ von der augenscheinlichen Komplexität weltwirtschaftlicher Zusammenhänge und Zwänge eingeschüchtert sind – die Dimensionen internationaler Konzerne und ihrer „Wertschöpfungsketten“ übersteigen die Maßstäbe alltäglicher Anschaulichkeit so sehr, dass man einfach nicht anders kann, als sich respektvoll denen zu unterwerfen, die über diese Welt herrschen.

Und diese Welt beherrscht man nur, so hörte man von jedem zweiten Sprecher, wenn man sich permanent neu orientiert und in Bewegung ist. Linke nennen sich gerne progressiv – aber in Wirklichkeit ist es die ‘wirtschaftsfreundliche’ Politik, welche auf permanente Umgestaltung und Veränderung drängt, die den wirtschaftlichen Konkurrenzdruck, dem sie immer ausgesetzt ist, in gesellschaftspolitische Energie verwandelt – ewige ‘Reformen’. Konkurrenz schläft nie und also darf auch das Kapital niemals bequem werden, das ist die rauhe Wirklichkeit hinter der Phrase von der „Innovation“.

Wir sehn, wie so die Produktionsweise, die Produktionsmittel beständig umgewälzt, revolutioniert werden, wie die Teilung der Arbeit größre Teilung der Arbeit, die Anwendung der Maschinerie größre Anwendung der Maschinerie, das Arbeiten auf großer Stufenleiter Arbeiten auf größerer Stufenleiter notwendig nach sich zieht.
Das ist das Gesetz, das die bürgerliche Produktion stets wieder aus ihrem alten Geleise herauswirft und das Kapital zwingt, die Produktionskräfte der Arbeit anzuspannen, weil es sie angespannt hat, das Gesetz, das ihm keine Ruhe gönnt und beständig zuraunt: Marsch! Marsch!“ – Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital

Und diese Energie spürte man auf der Konferenz, von jedem der Verbände: Sie wussten, was sie wollen, sie hatten gründlich daran gearbeitet, ihre Botschaft effektiv zu präsentieren. Und sie wollten Ergebnisse. Aggressiv, gut organisiert, ohne Selbstzweifel – wer will dem noch was entgegen setzen?

Apologetik des Neoliberalismus

Es klingt so angenehm: Die solide deutsche Wirtschaft führt eine „Strategiediskussion“ um auch für die Zukunft den wirtschaftlichen Erfolg zu garantieren – gleichzeitig auf gesellschaftliche, technologische und ökologische Trends zukunftsorientiert und nachhaltig reagierend. Das klingt rational, vernünftig. In Wirklichkeit aber zeigt es nur die Grenzen der Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft in einem kapitalistischen System auf.

Es geht – und kann immer nur darum gehen – den aktuellen technologischen Trend mitzugehen, um immer im Konkurrenzkampf vorne zu liegen – die Parameter dieses Wettbewerbs zu verändern, oder sogar auf Entwicklung hinzuarbeiten, die nicht unmittelbar mit den aktuellen Entwicklungen im Wettbewerb zu tun haben, wird dann nicht das Ziel sein – ganz abgesehen von Entwicklungen, die den Gewinnen im Weg stehen könnten.

Das kann man dann Agenda 2010, 2020 oder 2030 nennen – die letzte Phrase vom Vertreter des Verbandes der Automobilindustrie –, sie kann sich in eine noch so verantwortungsbewusste, zukunftsorientierte Sprache hüllen. So zum Beispiel der Vorsteher des erwähnten Verbandes der Automobilindustrie, Klaus Bräunig, der „eine Diskussion [fordert], wie die Wirtschaftspolitik ausgerichtet werden kann, die den ‘Standort Deutschland langfristig stärkt und keine langfristig nicht-bezahlbaren soziale Geschenke macht’“ (sic! aus dem Protokoll des Tagespiegels). Die Phrase der Nachhaltigkeit von Entwicklungen also kann man für alles instrumentalisieren – am besten offenbar, um von der Bevölkerung Opfer zu verlangen, die noch heute die Aktienkurse steigen lassen werden.

Ich muss gestehen, dass die meisten Forderungen der Industrie mir überhaupt nicht im Gedächtnis geblieben sind. Eine aber ließ mich aufhorchen, weil sie als einzige mehrmals wiederholt wurde (u.a. von der Private-Equity-Lobby) und weil sie nicht unmittelbar eine praktische Absicht verriet. Nein, sie war eher rein ideologisch motiviert: Die Forderung nämlich, man solle in der Schule das Fach „Wirtschaft und Finanzen“ einführen, „damit schon junge Menschen lernen, was Private Eqity und viele andere Begriffe aus der Finanzwelt eigentlich bedeuten“ (sic, s.o.).

Was hinter dieser Forderung steht, ist angesichts von Wirtschaftsunterricht, Politik- oder Gesellschaftskunde nicht gleich ersichtlich.

„(…) die Nationalökonomie sollte zum ‘Lehrgegenstand’ der ‘unteren Volksklassen’ werden: Mit ihrer Hilfe würden die Armen verstehen, dass die Ursache ihres Elends in der stiefmütterlichen Natur oder in ihrer eigenen Unvorsichtigkeit zu suchen sei. Dies ist auch die Meinung Tocquevilles, der es für nötig hält, ‘in den Arbeiterklassen […] einige der elementarsten und sichersten Kenntnisse der Nationalökonomie zu verbreiten, um ihnen zum Beispiel verständlich zu machen, was an Permanentem und Notwendigem in den ökonomischen Gesetzen ist, die den Lohnsatz bestimmen; diese Gesetze, die gewissermaßen von göttlichem Recht sind, weil sie aus der Natur der Menschen und aus der Struktur der Gesellschaft hervorgehen, stehen außerhalb der Tragweite der Revolutionen.’“ – Domenico Losurdo, Nietzsche – Der Reaktionäre Rebell, 635f

Was die Lobbyisten mit „Wirtschaftskunde“ meinten, ist die moderne, mathematisierte Version der klassischen Nationalökonomie – die neoliberale Neoklassik, die in deutschen Universitäten vor allem den Ton angibt. Was sie am Schulunterricht stört, ist dann auch nicht, dass man zu wenig über die Wirtschaft lernt, sondern auf welche Weise: nämlich von Gesellschaftswissenschaftlern, die sich nicht scheuen, sich auf Keynes oder Marx zu beziehen, anstatt die steinernen Dogmen der Marktwirtschaft nachzubeten.

Es wärmt einem fast das Herz, zu sehen, dass die Private-Equity-Lobby sich um den Schulunterricht sorgt – eben weil offenbar Unterricht und damit Ideen, Weltanschauungen noch von Bedeutung sind. Man stelle sich nur eine Welt vor, in der schon Kinder in Klassenarbeiten erklären sollen, warum der Mindestlohn der allgemeinen Wohlfahrt schadet.

Als Konferenz eine reine Simulation

Irgendwann wurde eine Pause eingelegt und alles stand herum. Ich erkannte Nikolaus Blome vom – ehemals – Spiegel und – noch mehr ehemals, aber irgendwie auch auf ewig – Axel-Springer. Peter Altmaier und seine Bodyguards waren längst weg und auch sonst sah man viele das Gebäude verlassen. Auf einem kleinen Podest redeten unterdessen Vertreter der Parteien-Stiftungen bei einer pausenfüllenden Podiumsdiskussion gegen das allgemeine Stimmengewirr an und wurden kaltschnäuzig ignoriert. Das Thema war – natürlich – die Zukunft. Von Politik dieses mal. Einer beklagte die Professionalisierung, die alles so langweilig mache – „es fehlen die Charaktere, die ideologischen Konfrontationen.“ Politik müsse wieder zur weltanschauliche Auseinandersetzung werden. Sein Gegenüber – Präsident der „Hertie School of Governance“ – nickte zustimmend.

Je weiter der Tag voranschritt, desto rätselhafter wurde mir die Veranstaltung. Ein Kamerateam ging herum und fragte mich, warum ich hier bin. Ich erfinde spontan und gut dressiert eine klug klingende Lüge wie in einem Bewerbungsgespräch. Warum war überhaupt jemand hier? Warum gab es diese Veranstaltung? Als Konferenz war es eine reine Simulation – das Format ist viel zu flach, als dass irgendein interessanter Satz fallen könnte. Die meisten Menschen waren wohl wirklich geschäftlich hier: Entweder selbst Lobbyisten, oder aber einer der Personen aus „Regierung, Wissenschaft, Parteien aber auch NGO’s und Medien,“ die dem Tagesspiegel den Gefallen getan hatten und als geladene Gäste der Konferenz Legitimation verliehen.

Da der Tagesspiegel Teil eines großen Medienimperiums ist (u.a. sah ich Giovanni di Lorenzo in der Pause Kuchen essen, Mitherausgeber des Tagesspiegels und Chefredakteur der ZEIT) und der Chefredakteur sich die Mühe gemacht hatte, alle möglichen „Entscheider“ persönlich anzuschreiben, tut man ihm wohl gerne etwas Gutes, und das Essen war auch nicht schlecht. Eine Hand die andere.

Es ist kaum zu glauben, dass überhaupt eine einzige Person den Preis für ein Ticket bezahlt hat. Eingekauft haben sich nur einige der Lobbies, was man in einer freundlichen Rundmail einige Tage nach der Konferenz erfuhr, ausgelöst durch eine Recherche des Cicero und eine abschätzige Pressmitteilung von lobbycontrol. Einzelne Lobbies konnten nämlich auf der Konferenz werben – d.h. ihre Botschaften in einem Kontext platzieren, wo sie als „Diskussionsbeiträge“ auf einer „Konferenz“ erscheinen würden – und erhielten im Gegenzug auch Freikarten.

Auf diese Weise mussten die unglamouröseren Lobbies die Konferenz subventionieren, während Finanzen, BDI, Rüstung, Ärtzekammer, oder auch die Alibis vom Mieter- und Gewerkschaftsbund kostenfrei präsentieren durften. Petra Sorge schrieb im Cicero: „36.000 Euro haben der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) für das Fachforum ‘Energiewende-Agenda 2015’ bezahlt. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl (WSV) und der Verband der Chemischen Industrie (VCI) haben sich den Betrag geteilt und gemeinsam das Panel ‘Grundstoffindustrie-Agenda 2015’ initiiert.“

„Panel“: Das ist eine 30-minütige Bühnen-Diskussion, moderiert von einem Journalisten des Tagesspiegel. 36.000 Euro kostet es also, um auf einer simulierten Konferenz gemeinsam mit einem ‘echten’ Journalisten vor einem mühsam zusammengebetenen Publikum eine Diskussion zu führen – Ambivalenz zwischen „eingekauften“ und „echten“ Panels, auf denen auch Politiker oder Vertreter von NGOs auftraten, inklusive. Um den Unterschied festzustellen, dafür brauchte man schon sehr gute Augen, wie auch beim Blick auf die von den „Partnern“ der Konferenz eingekauften „Anzeigen“ in der gewöhnlichen Agenda-Beilage. Diese waren nämlich nicht als solche gekennzeichnet, sondern unterschieden sich nur durch die Schriftart und ein Logo vom Rest der Zeitung.

Zumindest Edda Müller, die Vorsitzende von Transparency International, die sich ja mit der Materie auskennen sollte, musste erst von der Journalistin des Cicero darauf hingewiesen werden, dass viele der „Auftritte“ gekauft waren – und bereute sogleich in diplomatischen Worten, sich für diesen Scheiß hergegeben zu haben: „Ich fühle mich verschaukelt.“

Journalistische Selbstprostitution

Was also ist die Agenda-Konferenz? Selbst am Ende des Tages, als ich im Regen zur U-Bahn lief, war es mir nicht ganz klar geworden. Die ganze Veranstaltung wirkte unehrlich und geschauspielert. Weder war es eine echte Konferenz – niemand interessierte sich für die „Inhalte“ der „Politikbriefings“ – noch würde jemand Hinterzimmergespräche in solch einer Halb-Öffentlichkeit führen. Also wozu das alles? In Wirklichkeit war niemand wirklich bei der Sache: Die Politiker nicht, die wohl vor allem aus Gefälligkeit mitmachten, und auch die Lobbyisten nicht, die ihre teuren Einzelveranstaltungen wohl mehr als Gastgeschenk beim Tagesspiegel gekauft hatten, als in dem Glauben, irgendjemand würde sich über Espresso und Kuchen für ihre Botschaften interessieren. Nein, der wirkliche Akteur war die Zeitung selbst, die ja die ganze Show angeleiert hatte.

Das war die story: Der Versuch der journalistischen Selbstprostitution.

Die Geschichte spielt in einer Welt aus PR-Consultants, pseudo-journalistischen Lakaien und gängigen Phrasen. Im Journalismus bricht ein neues Zeitalter an und der Tagesspiegel will zur Avantgarde gehören. Offenbar hat die Massenzeitung ausgedient – das neue Geschäft liegt im Schaffen aufgesplitterter Nebenöffentlichkeiten, in denen ein bestimmtes Publikum direkt adressiert werden kann. Auf die Agenda (für „Politik-Entscheider“) folgte im März die Causa („Journal für Multiplikatoren“), die sich an Medienleute richtet – damit aber nicht vor allem andere Journalisten meint, sondern die „Kommunikations-Branche“, also PR oder Lobbying. Auch mit Spezialbeilagen für „Ärzte, Kreative und Gründer“ droht der Tagesspiegel bereits. Es gibt außerdem schon die Morgenlage, eine früh-morgendliche Pressschau-e-mail für „Politik- oder Wirtschafts-Entscheider“ und den Checkpoint, einen täglichen Newsletter des Tagesspiegel-Chefredakteurs.

Kernstück der Strategie ist aber die Ausrichtung auf die Zielgruppe der Berliner „Top-Entscheider“ und „Top-Multiplikatoren“, die auch auf der Agenda-Konferenz versammelt werden sollte. Für den Tagesspiegel, der lange Zeit Geld verlor, ist es eine zwingende Kalkulation: Er hat zwar keine größere Auflage als irgendein ost-westfälisches Provinzblatt, aber kann sich dafür rühmen, von der Berliner Elite gelesen zu werden. Und um die zu erreichen, bezahlen einige sehr viel Geld.

Aber damit nicht genug. Um wirklich sein Geschäftsmodell neu auszurichten, versucht der Tagesspiegel, sich eine Mittlerrolle zwischen privaten Interessen und der Politik zu verschaffen – mit anderen Worten: sie wollen aus ihrer Zeitung nicht nur ein Medium, sondern auch einen Dienstleister für Lobbyismus machen.

Begonnen hat das alles vermutlich mit Sebastian Turner. Turner ist Fachmann für Werbung und PR. Bei der Agentur Scholze & Friends wurde er nicht nur zum Millionär, sondern war auch an der Propagandaaktion „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ beteiligt, der Mutter aller verdeckten Lobbykampagnen. Anfang 2014 stieg er in den Tagesspiegel ein, in dem er viel ungenutztes Potenzial sah und wurde – neben Giovanni di Lorenzo – Herausgeber. Kurz darauf begann der Tagesspiegel seine Kooperation mit polisphere, einem „Think Tank“ für Lobbyismus, PR und politische Kampagnen, der auch Zugang zu seinen Netzwerken und Kontakten verkauft. Die Leiterin der polisphere, Sandra Busch-Janser, ist nun beim Tagesspiegel „Chefin vom Dienst für politische Informationsdienste“.

2014 kaufte die Zeitung ihren Berliner Informationsdienst, der nun vom Tagesspiegel und von polisphere gemeinsam herausgebracht wird. Dabei handelt es sich um ein „politisches Monitoring für Politikberatungen, Unternehmen, Verbände, NGOs, aber auch politische Entscheidungsträger“, also eine Art Gebrauchswochenzeitung für Lobbyisten – gerne nach Branche gegliedert und zum wöchentlichen Bezug abonnierbar. Er bildete das Kernstück, um den sich schließlich die anderen Angebote für „Politik-Entscheider“ gruppierten – inklusive natürlich dem „Konferenz- und Veranstaltungsportfolio“, also der Organisation etwa der Agenda-Konferenz.

Erklärtes Ziel, nach wie vor: Eine Atmosphäre zu schaffen, in der Unternehmen, Lobbyisten und Politiker direkter, effizienter und freundlicher zueinander finden – eine mediales Ökosystem also, das sich – so geht die Kalkulation – die deutsche Wirtschaft einiges wird kosten lassen, sie es durch direkte Beratungspartnerschaften mit dem Tagesspiegel, dem Kauf von meinungsbildenden Anzeigen – oder ganz direkt mit 36.000 Euro für eine angebliche Diskussionsrunde auf einer angeblichen Konferenz.

Das Vorbild ist dabei offenbar die USA, Pionierland des Lobbyismus: Auf jeden Journalisten kommen dort bereits 4,6 Angestellte im PR-Bereich – die ganzen Think Tanks, Stiftungen und bezahlten Wissenschaftler noch nicht mitgerechnet. In Deutschland muss man sich bisher auf Schätzungen verlassen, aber Gerhard Pfeffer schreibt im pr-journal, hier sei die Lage noch nicht derart dramatisch: „das Verhältnis sei zwei Drittel zu einem Drittel – noch ‘zugunsten’ der Journalisten.“ „Noch,“ wohlgemerkt.

Inzestuöses politisches Dorf

Auch die Methode, die Machtelite direkt als Zielgruppe für Werbung und Beeinflussung anzusprechen, hat man sich aus Washington abgeschaut: In D.C. ist selbst die U-Bahn voller Werbung für Kampfflugzeuge, Raketensysteme oder einfach Kohleenergie. Seit 2007 gibt es auch Politico: Eine Tageszeitung aus, über, und für Washington – jeden Tag kostenlos in Washington und Manhattan verfügbar, vollkommen durch Anzeigen, vor allem von Lobbygruppen, finanziert. Gegründet von Veteranen der Washington Post, besticht Politico vor allem dank seiner Insiderposition im inzestuösen politischen Dorf D.C.

Dank bester Kontakte berichtet kaum jemand so unmittelbar aus dem Inneren der Macht – ein erfolgreiches Modell, das Politico gemeinsam mit Axel Springer jetzt auch in Brüssel umzusetzen versucht. Und wie der Tagesspiegel auch, wirbt Politico damit, dass ihr Blatt wie kein anderes von den politischen Eliten gelesen wird.

Genauso wie der Chefredaktuer des Tagesspiegels, betreibt auch der Chef des Politik-Ressorts von Politico, Mike Allen, seinen persönlichen e-mail newsletter, Playbook, in dem er nicht nur die wichtigsten Themen des Tages kommentiert, sondern oft auch – dank seiner exzellenten Vernetzung – Insiderinformationen zu bieten hat. Das echte Geschäftsmodell aber besteht darin, einen zwischenöffentlichen Raum zu schaffen, in dem die Standards des journalistischen Tagesgeschäfts nicht gelten und der Journalist keine Hemmungen haben muss, sich direkt zum Dienstleister derer zu machen, die über Anzeigen sowieso sein Gehalt bezahlen. 35.000 $ kostete vor zwei Jahren noch eine Anzeige für eine Woche – in einem e-mail-newsletter, wohlgemerkt. Mittlerweile dürfte es noch mehr sein, denn es wird sich herumgesprochen haben, dass man mehr als nur eine Anzeige dafür erhält: Bei Playbook geht es nämlich darum, die Grenze zwischen Werbung, „native advertising,“ und nominal unabhängigem, unterwürfigen Journalismus aktiv zu verwischen.

Wie Erik Wemple in der Washington Post beißend feststellte, lassen sich die Werbeanzeigen von Chamber of Commerce, dem Ölkonzern BP, oder Goldmann „vampire squid“ Sachs (die alle auch Politico finanziell unterstützen) inhaltlich und im Ton so gut wie gar nicht von Mike Allen’s eigenen Texten unterscheiden. Die Brüsseler Playbook-Variante hat ebenfalls fast jeden Tag einen neuen Sponsoren – zuletzt zum Beispiel General Electric oder Google.

Mittlerweile wird Allen, auch darauf weist Erik Wemple hin, besser mit Informationen versorgt, als die Journalisten, die bei Politico für ihn arbeiten, denn sowohl Industrie und Politik wissen, dass ihre Informationen bei ihm im Playbook ohne Gefahr einer kritischen Kontextualisierung einfach straight veröffentlicht werden. Der PR-Arm geht dabei mit der Zeitung eine symbiotische Beziehung ein, denn das Geld geht letztlich an die gleiche Stelle. Gleichzeitig würden die Anzeigen im newsletter wohl kaum ihren Marktwert haben, hätte man nicht gleichzeitig die Absicht, die Berichterstattung in der Zeitung zu beinflussen. “Playbook has become the place where Politico gives long hugs to powerful Washington interests, including advertisers,“ schreibt Wemple – und damit ist es eines der lukrativsten neuen Medienformate, während traditionelle Zeitungen nach wie vor in der Krise stecken. Die Washington Post ließ nicht lange auf sich warten und bietet jetzt mit PowerPost ihren eigenen newsletter an – anstatt „Nachrichten für Politik-Entscheider“ wie beim tagesspiegel heißt es hier etwas schnittiger formuliert: „Intelligence for Leaders.“

Wer redet so?

Überhaupt, was geht mit diesem Slang? „Kommunikationsökonomie“, „Top-Entscheider“, „Multiplikatoren“, „Leadership“, „Monitoring“? Wer redet so? Ist das vielleicht das gefährlichste an dieser gut finanzierten Blase, welche Kommunikationsdienstleister, Politikberater und „kreative Reputationsmanager“ für ihre Kunden spinnen – dass sie irgendwann anfangen, ihren eigenen bullshit auch zu glauben?

Wenn die Grenze zwischen PR und Journalismus einreisst – wer will dann bald noch den Unterschied kennen zwischen Wahrheit und Phrase? Ist nicht vielleicht sowieso alles gleich – alles Bausteine der Konversationsökonomie, Wahrnehmungen, die gemanaged werden können? Und wenn eine politische Elite schon so immerzu droht, sich nur an sich selbst zu orientieren und sich gegen radikale Denkanstöße durch Behäbigkeit, Hierarchien und Gruppenloyalität abzuschließen – wird das nicht nur noch schlimmer, wenn die Elite bald auch noch ihre eigenen Medien hat? Und wenn diese Medien sich als Dienstleister verstehen, die der zahlenden Kundschaft wie ihren Lesern nur Zuspruch spenden wollen und endlos die Allgemeinplätze des Establishment recyclen? Das alles in dem quälend-unterhaltsamen Tonfall einer launigen Rede auf der Sommerparty des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller? (So liest sich nämlich der Checkpoint-newsletter.)

Ich muss zugeben, meine größte Sorge gilt dabei nicht dem öffentlichen Wohl, oder der Zukunft unserer Demokratie oder dergleichen. Meine größte Sorge gilt mir selbst, als Zeitungsleser. Wie langweilig war es auf der Agenda-Konferenz. Soll das die Zukunft sein? Ich erinnere mich noch an die pausenfüllende Podiumsdiskussion, bei der die professionelle Glattheit des Polit-Nachwuchses beklagt wurde. Auch das, dieser karrieristische Konformismus des politischen Nachwuchses – mag vor allem schlecht für das Gemeinwohl sein, weil er dazu führt, dass grundsätzliche, schmerzhafte Debatten immer mehr aus der Öffentlichkeit verschwinden. Aber ist es nicht vor allem auch furchtbar langweilig?

Das betrifft genauso den Journalismus, der sich an die Kommunikationsdienstleistung heranwanzt und immer vorsichtiger werden muss, um den Klienten nicht auf die Füße zu treten: Korrupt und konformistisch, klar, aber vor allem auch: öde.

Anzeigenkunden, Kampagnen-“Partner“ und Eventkunden, die immer mehr unsere Presse finanzieren, jetzt wo alle ihre Nachrichten umsonst im Internet kriegen, wollen vor allem eine langweilige, konformistische Presse – unaufregend, voller Marketing-Euphemismen, und vor allem nicht feindselig, sondern nett und freundlich. Wer als Bundestagsabgeordneter schon darüber nachdenkt, wie er am besten mal als Politikberater Kohle machen kann, wird ebensowenig ein guter Politker sein, wie die Zeitung, die nebenbei „Kommunikationsstrategien“ für „corporate clients“ entwirft, noch lange für ihre Leser interessant bleiben wird.

Wer interessant sein will, darf nicht zum Club gehören. Frei nach Mach-One: Guter Journalismus gedeiht im Dreck.

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3 Kommentare zu "Agenda Konferenz des Tagesspiegel
Guter Journalismus gedeiht im Dreck"

  1. leser sagt:

    Danke für den Bericht zu dieser Veranstaltung.

    Ich lese als Quintessenz: Der Tagesspiegel gehört zu Lügenpresse und dient sich als Medienhure an.

  2. linneweber sagt:

    bei dem blatt macht mich jeden verdammten morgen das mini-editorial des emailers mit seinem tonfall fertig. toll, wenn der tagesspiegel das bevorzugte blatt der politikentscheider ist.

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