Eine europäische Sache

Nicht die Politiker, sondern die Demonstranten kämpfen für Europa

Von Sebastian Müller und Florian Hauschild

Donnerstag, 19. Mai 2011, 13:36: Indignaos! Empört euch! Die Spanier sind nicht zufällig durch einen Mann inspiriert, der mit seinem Pamphlet genau dies im Sinn gehabt haben dürfte: der Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel, ausgerechnet ein glühender Verfechter der europäischen Idee. Jetzt sind sie auf den Straßen, zehntausende Demonstranten, in Madrid, Barcelona, Granada und etlichen weiteren Städten; wie viele es genau sind, vermag momentan noch niemand zu sagen – ohnehin scheint noch vieles in Bewegung zu sein.

Die Demonstranten, die mit ihrer Democracia ya!-Bewegung in die Innenstädte und auf den Plaza Puerta del Sol maschieren, rekrutieren sich aus den gleichen Schichten wie auch in Griechenland, und protestieren auch aus den gleichen Gründen. Eine oft gut ausgebildete Jugend ohne Perspektive, alleine gelassen vom Staat und einer entfremdeten, korrupten politischen Klasse, bangt um ihre Zukunft. Doch es sind nicht nur Jugendliche, sondern auch Rentner, Bauarbeiter, Arbeitslose und Akademiker, die sich der Bewegung anschließen.

Die europaweiten Kürzungen im sozialen Bereich und der Abbau der öffentlichen Dienstes, ferner die einseitige Aufbürdung der Kosten der Bankenrettung zulasten der einfachen Bevölkerung, sind eine Kriegserklärung seitens der Regierungen an selbige. Durch eine schonungslose Austeritätspolitk, bis heute das Patentrezept des Internationalen Währungsfonds, wird die Wirtschaft stranguliert. Ein Ende der ökonomischen und finanziellen Krise ist weder in Spanien noch in Griechenland in Sicht. Und just zu diesem Zeitpunkt echauffierte sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in populistischen Tiraden über angebliche Annehmlichkeiten der südeuropäischen Länder. Man könnte zu Recht meinen, diese Generation hätte genug von Europa.

Wenn die Griechen, Franzosen und jetzt auch die Spanier gegen diese Politik aufbegehren, dann tun sie dies natürlich für ihre Zukunft auf einem Arbeitsmarkt, in dem es wie überall in Europa an Jobs fehlt. Im Grunde aber leisten sie damit der europäischen Sache einen größeren Gefallen als die Bürokraten in Brüssel, denen nichts besseres einfällt, als die Streichung von Arbeitslosengeldern gut zu heißen, den Finanzmärkten aber weiterhin freies Spiel zu gewähren. Dem europäischen Einigungsgedanken wird mit dieser Anmaßung ein Bärendienst erwiesen.

Wenn sich nun in Europa junge Menschen für den Ausbau politischer Gestaltungsmöglichkeiten und europäischer Errungenschaften aussprechen sowie dem Abbau der sozialen Sicherungssysteme in den Weg stellen, sollte diese Stimme auch gehört werden. Denn damit kämpft diese Generation nicht nur den zentralen politischen Kampf unseres Jahrzehnts, sondern letztendlich auch für die Zukunft Europas. Die Jugend in Madrid, Athen und Paris beweist sich womöglich als die wahre Heldin des Einigungsprozesses.

Es ist absehbar, dass nur ein Europa, das im Stande ist, seinen Bürgern die Aussicht auf eine bessere Zukunft zu gewähren, das Perspektiven und nicht neoliberale Restauration zu bieten hat, eine Identifikation mit der Sache erreichen wird. Brüssel und die nationalen Regierungen, die sich – für immer mehr Menschen offensichtlich – in einem Interessenskonglomerat mit den Finanzmärkten und Konzernen befinden, sind immer weniger imstande, eine solche Vision anzubieten.

Die Proteste, die am 15. Mai in Madrid begannen, folgen einem Trend, der Ende des vergangenen Jahres in Tunesien begann, und wohl als „arabischer Frühling“ in die Geschichtsbücher eingehen könnte. Zum ersten Mal werden auch die neuen Informationstechnologien als politische Waffe benutzt, fernab von klassischer gewerkschaftlicher Organisation. Auch die Motive der Bewegung ähneln sich denen in Nordafrika. Letztendlich wird in beiden Fällen gegen eine abgehobene politische Elite und ein ökonomisches Machtkartell vorgegangen, der man jegliche Gestaltungskompetenz aberkennt. Die Idee überschreitet die Meerenge von Gibraltar.

Neu ist auch, dass die anscheinend perfekt organisierte Democraciá ya! gezielt ein überschwappen der Proteste auf andere Länder forcieren will. Auch hier sieht man sich bewusst in der Tradition der arabischen Massenproteste. Insofern ist die Hoffnung auf einen „europäischen Frühling“ nicht nur legitim, sondern dürfte auch angesichts der demokratiefeindlichen Bewegungslosigkeit des Systems mittelfristig absehbar sein. Die brennenden Straßen und Krawalle in den europäischen Städten lieferten schon vor Monaten einen Vorgeschmack auf das, was kommen mag, wenn ein grundlegender Politikwechsel ausbleibt. Die Spanier sprachen in den letzten Tagen bereits von ihrem Tahir-Platz, in Anspielung auf das Zentrum der Revolution in Ägypten.

Zum Thema:

– Freiheit auf arabisch

– Spaniens Jugend auf der Straße – Mit Liveticker

– Hintergrundberichterstattung aus Spanien:

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5 Kommentare zu "Eine europäische Sache"

  1. Mark sagt:

    Es wundert mich, dass man in den Medien doch recht wenig über dieses Thema zu hören bekommt. Ich denke auch, dass das Internet ein großer Teil dieser Demonstrationen ist und den Bewegungen hilft, sich zu organisieren und Druck auszuüben.

  2. Warum Du in den Medien so wenig gehört hast bisher, erklären wir in unserem Ticker: https://le-bohemien.net/2011/05/18/spaniens-jugend-auf-der-strasse/

  3. ohne sagt:

    Vielen Dank für die wichtige Berichterstattung hier!!

  4. julia sagt:

    Hier eine aktuelle und passende Online-Petition von Attac: “Nein zum Angriff auf das soziale und demokratische Europa! — an die Mitglieder des Europäischen Parlaments.” unter http://www.attac-netzwerk.de/eu-ag/euro-krise/online-aktion/?L=2

  5. Knurrhahn sagt:

    Zeichen der Zeit

    Die Menschen beginnen sich gegen die verheerenden Auswirkungen der oligarchischen Machtausübung der Wirtschaft in den westlichen Staaten von den Rändern Europas her, wo die sozialen Auswirkungen am stärksten zu spüren sind, zu wehren.

    Zusammenfassung meiner Interpretation:
    Durch die Konzentration der wirtschaftlichen Macht im Rahmen der industriellen Revolution übernahm in den westlichen Staaten die Wirtschaft um 1900 in immer stärkeren Maße die politische Macht von den bis dahin herrschenden klassischen politischen Mächten und es bildete sich unabhängig vom jeweiligen nationalen Staatssystem eine Oligarchie der stärksten wirtschaftlichen Kräfte der jeweiligen Nation.
    Dieser Prozess begann sich durch die Existenz der Sowjetunion zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg zu verlangsamen, und er verlangsamte sich noch mehr nach dem Ende des zweiten Weltkriegs durch den Machtzuwachs der UdSSR und des von ihr beherrschten sozialistischen Weltsystems (Wettkampf der Systeme).
    Mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus verschwand diese zeitweise Machtbalance zwischen der Oligarchie der Wirtschaft in den westlichen Staaten und dem sozialistischen Lager.
    Seit dem Wegfall dieser Machtbalance verstärkt sich die oligarchische Herrschaft der Wirtschaft in den westlichen Staaten wieder ungehemmt mit den bekannten gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen, wie Verbreiterung der Kluft zwischen den sehr Reichen und dem Rest der Gesellschaft innerhalb relativ kurzer Zeit, sowie Finanz- und Wirtschaftskrisen. Die sozialen Auswirkungen dieser gesellschaftlichen Entwicklungen bergen das Potential der Instabilität des gesellschaftlichen Systems in sich.

    Meine Lösungsvorschläge:
    Anerkennung der faktischen politischen Macht der modernen Wirtschaft als vierte politische Macht im Staat neben legislativer, exekutiver und judikativer Macht.
    Einbindung dieser vierten Macht in das demokratische System und Wiederherstellung der Checks und Balances zwischen den politischen Mächten im Staatsgebilde.
    Die Realisierung dieser erweiterten Machtbalance auf europäische Ebene bietet dabei die Möglichkeit, wirtschaftliche Einheiten zu behalten, die in der Weltwirtschaft konkurrenzfähig sind.

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