Die Protestwelle in Spanien
Ein Gastkommentar von Axel Weipert
Die Empörung der „Bewegung 15. Mai“ richtet sich zunächst einmal gegen die eigene Regierung. Denn Ministerpräsident Luis Zapatero fährt ein massives Sparprogramm, um zu verhindern, dass das Land von auswärtigen Hilfskrediten und damit auch einhergehender Einflussnahme abhängig wird. Griechenland und die portugiesischen Nachbarn sind da abschreckenden Beispiele. Unter anderem sieht das Programm Lohnkürzungen bei Staatsbediensteten, Streichungen im Sozialbereich und bei den Renten vor. Allerdings scheinen die beschlossenen Maßnahmen bisher nicht zu greifen, die Wirtschaft kommt kaum in Tritt. Das wird sich vermutlich auch nicht nachhaltig ändern lassen ohne eine Kehrtwende der europäischen Wirtschaftspolitik. Hier ist vor allem Deutschland in der Pflicht. Denn die Schieflage der Finanzen und am Arbeitsmarkt geht wesentlich auf die Ungleichgewichte im innereuropäischen Handel zurück. Nicht von Ungefähr gab es bei den Protesten auch Stimmen, die sich kritisch zu Angela Merkel äußerten. Die hat mit ihren platten – und unzutreffenden – Statements über angeblich faule Südeuropäer das Klima jedenfalls zusätzlich vergiftet.
Gerade Jugendliche und Studenten, ganz offensichtlich die Basis der Bewegung, leiden schon seit Jahren unter schlechten Berufsaussichten, die Arbeitslosigkeit ist traditionell die höchste in der ganzen Europäischen Union. Und wenn sie einen Job finden, ist der meist befristet oder schlecht bezahlt. Aber auch andere soziale Gruppen leiden unter der Misere. Endet der Bezug des Arbeitslosengeldes, erhält man noch für sechs Monate 400 Euro – und danach überhaupt nichts mehr. Man kann sich vorstellen, was das für die 1,4 Millionen Familien im Land bedeutet, von denen kein einziges Mitglied mehr eine Arbeit hat. Schon jetzt ist etwa eine Million Menschen komplett aus dem sozialen Netz gefallen. Gleichzeitig werden die Milliardenhilfen für Banken als alternativlos deklariert, was auch die Wut auf »Banker« erklärt.
Nicht nur in Madrid um die Puerta del Sol, auch in Dutzenden weiteren Städten haben sich die Protestler versammelt. Erste Ansätze zu festeren Strukturen sind zu erkennen: Kommissionen arbeiten Konzepte aus, wie es weitergehen soll, Versammlungen stimmen ganz basisdemokratisch darüber ab. Begleitet wird das alles von zahlreichen kreativen Aktionen wie Konzerten, Umbenennungen von Straßen und Plätzen oder Menschenketten. Auf diese Weise soll die Bewegung gefestigt und verbreitert werden. Nicht zuletzt kümmert man sich auch um eine Koordination der einzelnen lokalen Gruppen. Eine wichtige Rolle spielte dabei von Anfang an auch das Internet – insbesondere Facebook und Twitter. Anders ist die explosionsartige Ausbreitung auch kaum zu erklären.
Es liegt natürlich auf der Hand, Parallelen zu den Ereignissen in der arabischen Welt zu ziehen: Die informelle Organisation über soziale Netzwerke und Mund-zu-Mund-Propaganda, die schnelle Ausbreitung, der völlig unerwartete Beginn, das Campieren auf zentralen Plätzen. In der äußeren Erscheinung sind die Ähnlichkeiten geradezu frappierend. Dennoch sollte man vorsichtig sein, beides vorschnell gleichzusetzen. Denn die sozialen Bedingungen sind in den arabischen Ländern ganz andere, die Notlage sehr viel dramatischer. Und das politische System ist wohl kaum mit europäischen Maßstäben vergleichbar. Entwicklungen wie in Bahrain, Syrien oder Libyen sind hier völlig undenkbar, das sollte man nicht vergessen. Immerhin wurden die Demonstrationen offiziell für illegal erklärt. Denn in Spanien darf einen Tag vor Wahlen nicht demonstriert werden. Aber die Regierung kündigte umgehend an, trotzdem nicht dagegen vorzugehen. Das mag wahltaktischen Erwägungen geschuldet sein, denn gestern fanden Regional- und Kommunalwahlen statt. Es spricht aber auch zugleich für einen anderen Umgang mit Opposition.
Aber nicht nur die Regierung, die ganze etablierte politische Klasse steht im Fokus der Bewegung. Das spanische Wahlsystem bevorzugt schon lange die beiden großen Parteien und regionale Gruppen wie in Katalonien. So wechseln sich die konservative PP und die sozialdemokratische PSOE traditionell als bestimmende Kraft ab, andere Parteien haben nur wenig Macht, auch wenn sie wie aktuell an der Regierung beteiligt sind. Hinzu kommt, dass die großen Medien eng mit einer der beiden Parteien verbunden sind und die staatlichen Sender der jeweils amtierenden Regierung zu willen sind. Die landesweit agierende Izquierda Unida aber erhält regelmäßig weniger Sitze im Parlament als sie Stimmen erhält. Doch der Unmut richtet sich pauschal gegen „die Politiker“, welche korrupt seien und nur ihre eigene Bereicherung im Sinn hätten. Gleiches gelte für „die Parteien“. Dementsprechend ist auch ein Mehr an politischer Teilhabe eines der wichtigsten Anliegen der Protestler.
Damit kommen wir auch schon zum Kern der Sache: Vieles an dieser Bewegung wirkt, der anscheinend gut durchdachten Organisation zum Trotz, wenig reflektiert. Natürlich ist es sinnvoll und notwendig, sich in einer Notlage zur Wehr zu setzen. Oder sich gegen das Establishment zu stellen, wenn man erkennt, dass die eigenen Interessen dort nicht mehr vertreten werden. Aber muss das im Umkehrschluss bedeuten, gleich in platten Populismus abzugleiten? Kann man nur dann eine signifikante Anzahl von Menschen mobilisieren, wenn man auf den kleinsten gemeinsamen Nenner setzt?
Es bleibt also die spannende Frage, ob sich aus der eher emotional getragenen Empörung tatsächlich so etwas wie eine politische Bewegung entwickeln wird. Das ist durchaus denkbar – und wünschenswert wäre es allemal, nicht nur in Spanien. Allerdings hat die Bewegung in Deutschland offenbar bis jetzt noch kaum Fuß gefasst, erste Demonstrationen blieben eher kläglich. In Portugal oder Italien könnte sie aber sehr viel eher wirksam werden – und in Griechenland gab es ja auch schon in der Vergangenheit heftige Proteste. Mittelfristig ist es notwendig, ein stimmiges Programm zu entwickeln, das über populistische Allgemeinplätze hinausgeht:
Einige von uns bezeichnen sich als aufklärerisch, andere als konservativ. Manche von uns sind gläubig, andere wiederum nicht. Einige von uns folgen klar definierten Ideologien, manche unter uns sind unpolitisch, aber wir sind alle besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich uns um uns herum präsentiert: die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- als auch sprachlos.
Das ist zweifellos ein Anfangspunkt. Mehr aber auch nicht. Sicher, eine Bewegung, die gerade erst entsteht, die vielleicht auch selbst von ihrer Dynamik überrascht wurde, kann wohl erst einmal nicht mehr sein. Sie sollte es jedoch werden, wenn sie wirklich Einfluss nehmen will auf politische Entscheidungen. Wenn sie mehr sein will als ein kurzes Strohfeuer der Enttäuschten und Perspektivlosen.
Der Artikel wurde im Dossier erstveröffentlicht.
Zum Thema:
– Für eine andere Welt: Die Globalisierung der Aufstände
Kein Job, kaum Geld, keine Zukunft – die Perspektivlosigkeit der Jugend zählt zu den größten Problemen. Weltweit ist die Not der Jungen ein gigantisches Problem, warnt Unicef in einem Report. Die Lage dürfte sich weiter verschärfen, neue Aufstände drohen.
Die Freiheit ist nur ein eitles Hirngespinst, wenn eine Klasse die andere ungestraft aushungern kann.
Je mehr Menschen vom Wohlstand ausgeschlossen werden, je mehr Kinder sterben, weil keine Nahrung da ist, während andere Nationen im Überfluss leben, desto instabiler werden politische und wirtschaftliche Systeme.
“Ich habe einen Traum”, sagte Martin Luther King.
Er träumte davon, dass Schwarz und Weiß, Christen und Nichtchristen, Bürgerrechtler und Kriegsgegner, Gewerkschafter und Arbeitslose g e m e i n s a m für eine friedliche, gerechte Welt streiten. Und träumen wir nicht alle diesen Traum? Ist er realistisch? Haben nicht jene Zweifler und Fatalisten recht, die sagen, es habe ja doch alles keinen Zweck? Zweifellos muss der Mensch Träumer, aber auch Realist sein.