Sarrazins Steilvorlage

Die Debatte um Thilo Sarrazins Thesen wird instrumentalisiert – durch Wirtschaftsinteressen

Von Sebastian Müller

Thilo Sarrazins provokant-hetzerische Äußerungen zu muslimischen Migranten in Deutschland mögen zwar eine Projektion der Ängste und Vorurteile einer großen Zahl von Deutschen sein. Auch wenn man Sarrazin selbst – was die wohldurchdachte Art der Präsentation und die gewählte Zeit der Veröffentlichung betrifft – eher kommerzielle Motive unterstellen muss. Doch seine kruden Rassentheorien sind lediglich ein willkommener, medienwirksamer Aufmacher einer öffentlichen Debatte, die allmählich in eine ganz andere Richtung gelenkt zu werden scheint.

Immer wenn es um Randgruppen und sozial schwache Milieus, also um die sogenannten Unterschichten geht – die Sarrazin mit seinen Pöbeleien ohnehin regelmäßig attackiert – spielt die Frage der Nationalität oder Kultur in Wirklichkeit nur noch eine untergeordnete Rolle. Es ist lediglich eine perfide und populistische Methode, um im Rückenwind der Mehrheitsmeinung an einer Stelle zu schrauben, die oberflächlich gar nicht Gegenstand der Diskussion war: Wenn man es schafft, Stimmung gegen muslimische, “faulenzende” Einwanderer zu machen, dann ist es einfacher, um – diesmal mit der Rückendeckung des Volkszorns – den deutschen Sozialstaat weiter zu desavouieren. Nicht umsonst galten Sarrazins Tiraden gezielt immer den Schwächsten der Gesellschaft. Die medialen Meinungsmacher und Leistungsträger distanzieren sich zwar offiziell und brav von dem SPD-Mitglied – es regt sich aber der Verdacht, dass sich diese Eliten im Hintergrund die Hände reiben.

Denn der schwarze Peter im Bewusstsein der Öffentlichkeit – oder die mediale Aufmerksamkeit – lässt sich nun bequem von Finanzspekulanten, Investmentbankern und Politikern auf die “Sozialschmarotzer” lenken. Bei dem ganzen Hype um Thilo Sarrazin gerät das umfassende Versagen der Finanz- und Politik-Elite während der Finanzkrise in Vergessenheit. Stattdessen hat Sarrazin die Steilvorlage gegeben, um mittelfristig weiter an den sozialen Sicherungssystemen sägen zu können. Es ist ein brillanter PR-Gag der neoliberalen Meinungsindustrie, die das Bauernopfer Sarrazin von Anfang an instrumentalisiert haben dürfte. Denn die größte Angst der “volksdeutschen” Mittelschicht und des aufstrebenden self-made-Jungunternehmers (der 2009 noch FDP gewählt hat) ist es, Steuergelder für ausländische, ja schlimmstenfalls muslimische Transferempfänger zahlen zu müssen. Beweisen denn Sarrazins Thesen nicht, dass die Leistungsverweigerung von muslimischen Migranten symtomatisch für den Missbrauch des Sozialstaates insgesamt ist? Florida Rolf meets Üzgür Ö..

Bei der kollektiven Hatz vergisst aber diese von Existenzängsten geplagte Volksgruppe, dass als Konsequenz dieser etwaigen Transferverweigerung, eine Minderungen von Sozialleistungen ausnahmslos für alle gelten wird. So egalitär ist unsere schwarz-gelbe Führungselite, die sich – abseits vom empörten Gutmenschentum ob Sarrazins Thesen in der Öffentlichkeit – in Wirklichkeit nichts besseres Wünschen konnte, dann doch noch.

Den wichtigsten Verbündeten hat Thilo Sarrazin ohnehin im offiziellen deutschen Volksmedium, der rechtspopulistischen Bildzeitung. Und wenn sich die Bild auf Sarrazins Seite schlägt (“Klartext-Politiker”), dann spätestens sollte man wissen, aus welchem Loch der Wind pfeift. Die Bild ist die größte Blattform für Public-Relations und Wirtschaftsinteressen. Und wenn man gewisse Auszüge aus Sarrazins Buch liest, dann offenbart sich ein unheilvoller “Dreibund” – ein Schelm der böses dabei denkt. Was Sarrazin in simpler Sprache schreibt, und die Bild begeistert druckt, ist eine nationalistische, etwas hölzerne – aber der Meinungsmache der Neoliberalen verdächtig ähnliche – Argumentation:

In den wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch sehr erfolgreichen Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg wuchs in Deutschland der Stolz auf den Fleiß und die Tüchtigkeit seiner Bürger, auf den stetig steigenden Lebensstandard und den immer weiter ausgebauten Sozialstaat. Die Jahrzehnte des fast ungetrübten Erfolgs haben aber die Sehschärfe der Deutschen getrübt für die Gefährdungen und Fäulnisprozesse im Innern der Gesellschaft.

Das erinnert an die Instant-These, dass die Deutschen über ihre Verhältnisse leben würden. Guido Westerwelles “spätrömische Dekadenz-Theorie” lässt grüßen. Doch Sarrazin versucht seine Sorgen zu begründen:

Vernünftig diskutiert haben wir über die demografische Entwicklung in Deutschland in den letzten 45 Jahren nicht. Wer nicht mit im Strom der Beschwichtiger und Verharmloser schwamm, wer sich gar besorgt zeigte, der musste bald frustriert erkennen, dass er alleine stand, und nicht selten fand er sich in die völkische Ecke gestellt. (…) Über die Folgen des Geburtenrückgangs durfte man Jahrzehnte überhaupt nichts sagen, wenn man nicht unter völkischen Ideologieverdacht geraten wollte. Das hat sich inzwischen geändert, da die Generation der Achtundsechziger Angst um ihre Rente bekommen hat.

Auch die Demographie-Debatte wurde – besonders vehement initiiert durch die Lobby der Privatversicherungen – mit der im Prinzip gleichen “Erkenntnis” breitgetreten. Mit dem Ergebnis, dass das staatliche Rentensystem demontiert wurde.

Die sozialen Belastungen einer ungesteuerten Migration waren stets tabu, und schon gar nicht durfte man darüber reden, dass Menschen unterschiedlich sind – nämlich intellektuell mehr oder weniger begabt, fauler oder fleißiger, mehr oder weniger moralisch gefestigt – und dass noch so viel Bildung und Chancengleichheit daran nichts ändert.

Dieser Blankocheck des Sozialdarwinismus ist eine schonungslos offene Aufforderung, den Sozialstaat komplett zu beseitigen, da er nutzlos sei. Hier trifft sich Sarrazins Menschenverachtung mit dem skrupellosen, ökonomischen Nutzenkalkül der Privatwirtschaft, die den Mensch lediglich als mehr oder weniger hochwertiges Humankapital kategorisiert. Es nichts anderes als die Legitimation für die Forcierung gesellschaftlichen Drucks in einer selektiven und pervertierten Leistungsgesellschaft, wie sie auch den Neoliberalen vorschwebt. Das bestätigt sich ein weiteres Mal hier:

Es war tabu, darüber zu reden, dass der Einzelne selbst für sein Verhalten verantwortlich ist und nicht die Gesellschaft. (…) Die Tendenz des politisch korrekten Diskurses geht dahin, die Menschen von der Verantwortung für ihr Verhalten weitgehend zu entlasten, indem man auf die Umstände verweist, durch die sie zu Benachteiligten oder gar zu Versagern werden.

Sarrazins in pseudonationalistisches Gewand gekleideten Thesen decken sich verdächtig gut mit der libertären Gesellschaftsauffassung des Neoliberalismus. Diese puritanischen Überzeugungen (jeder ist seines Glückes Schmied) als angebliches amerikanisches Erfolgsmodell hat zufälligerweise (?) erst gestern Thomas Straubhaar – Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – im Spiegel propagiert.[1] Es geht hier längst nicht mehr um eine krude Rassentheorie, der Neoliberalismus entlarvt sich einmal mehr als eine den Menschen diskriminierende Ideologie. Eine gefährliche Allianz hat sich hier gefunden: Während Thilo Sarrazin mit tatkräftiger Mithilfe der Bildzeitung zum Märtyrer der Deutschen stilisiert wird, werden sich die neoliberalen PR-Profis Sarrazins populäre Thesen in abgemilderter Form zu nutze machen, um den Sozialstaat weiter zu minimieren. Und der brave Michel merkt nicht, wie er hinters Licht geführt wird. Gute Nacht, Deutschland.

[1]  Die Thesen von Thomas Straubhaar sind eine verblüffende Ergänzung zu Sarrazins Ausführungen.

Zum Thema:

Sarrazins inoffizieller Buchtitel: „Der Sozialstaat schafft sich ab. Wir müssen unser Land aufs Spiel setzen“

Print Friendly, PDF & Email
Filed in: Diskurse, Gesellschaft, Ökonomie Tags: , , ,

Ähnliche Artikel:

<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Debatte</span><br/>Die “Neue Rechte” II: Identität und Herrschaft Debatte
Die “Neue Rechte” II: Identität und Herrschaft
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Mark Zuckerbergs PR-Coup</span><br/>Die “Spenden” der Reichen Mark Zuckerbergs PR-Coup
Die “Spenden” der Reichen
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Agenda Konferenz des Tagesspiegel</span><br/>Guter Journalismus gedeiht im Dreck Agenda Konferenz des Tagesspiegel
Guter Journalismus gedeiht im Dreck

10 Kommentare zu "Sarrazins Steilvorlage"

  1. dasrefugium sagt:

    Mit allem nötigen Respekt frage ich, ob das Druckwerk ganz gelesen wurde.

    Ferner ist es vor allem eins, was zu Tage tritt: Das Versagen der Politiker in der Integrationspolitik

  2. @ dasrefugium

    Nein, das wäre mir dann doch zu viel Aufmerksamkeit für Sarrazin. Meines Erachtens recht es gerade bei so einem Werk völlig, wenn man seine zentrale Thesen registriert (zudem beziehe ich mich nicht ausschließlich auf das Werk, um Sarrazin zu beurteilen). Ich brauche auch keine komplette Lektüre der Twilight-Saga, um zu wissen, dass es sich um kitschig – kommerziell aufgebauschte Vampierromane handelt.

    “Ferner ist es vor allem eins, was zu Tage tritt: Das Versagen der Politiker in der Integrationspolitik”

    Da gebe ich Ihnen völlig recht.

  3. dasrefugium sagt:

    Bei aller Liebe, das ist eine sehr schlechte Diskussionskultur. Man kann dann Vermutungen äußern, aber keine Urteile fällen. Dazu muss man die Materie dann einfach kennen. Alles andere ist m.E. sehr unangemessen.

    Ausserdem ist es wirklich so, dass es nicht erlaubt war, die Frage, warum z.B. Muslime ein größeres Problem mit der Sprache auch in der 2. oder 3. Generation haben als andere Migrantengruppen zu stellen. Oder warum ist die Kriminalitätsrate bei arabischen männlichen Jugendlichen so viel höher?
    Das sind ja wirklich brisante und vor allem delikate Fragen. Mit schnellen Schüssen – seien sie von den chatting classes oder von Thilo Sarrazin – kommt man einfach nicht weiter.

  4. Sinn ist und war es – zumindest von meiner Seite – auch nicht eine Debatte um Migrantengruppen zu stigmatisieren. Darum geht es in meinem Kommentar auch nicht, um noch einmal darauf hinzuweisen. Doch bei aller Liebe, sind Sie denn nicht selber der Meinung, dass sich Sarrazin völlig im Ton vegriffen hat. Was Sarrazin da betreibt, ist doch keine seriöse, demokratische Diskussionskultur. Eine solche würde ich willkommen heißen. Vielmehr ist das in meinen Augen populistische Stimmungsmache, egal wieviele Statistiken in seinem Buch letztenendes auch richtig sein mögen. So kommt man nicht weiter.
    Und wollen sie die Auszüge Sarrazins, die in meinem Artikel zu lesen sind, leugnen? Hier geht es doch, wenn man zwischen den Zeilen liest, um Stigmatisierung und Sanktionen. Nicht zuletzt will er doch Sozial- und Integrationspolitik, die Sie ja auch fordern, als unnütz abstempeln. Um das zu erkennen, brauch man nicht das ganze Buch zu lesen. Wir reden hier ja nicht von Habermas oder Foucault. Auch wenn sie im Großen und Ganzen natürlich recht haben.
    Doch bin ich ganz und gar nicht ein freund von schnellen Schlüssen.

  5. Und noch einmal: es geht hier weniger um Sarrazins Thesen an sich, sondern vielmehr darum, wie diese als Angriff auf unseren Sozialstaat instrumentalisiert werden. Denn dahin wird sich die Debatte wohl unweigerlich hinbewegen, wenn die ganze Aufregung um die Person Sarrazin wieder abgeebbt ist.

  6. dasrefugium sagt:

    Es geht ja in der Debatte momentan eben nicht um eine Kürzung im Sozialbereich. Dass die Pausenclowns der freien Marktwirtschaft so ziemlich alles nutzen, wo irgendwie steht, dass die Steuern runter müssen und die Sozialleistungen ebenso in den Keller ist kaum eine Überraschung und hat glaube ich mit der Überzeugung der Deutschen wenig zu tun.

    1. Eine “demokratische” Diskussionskultur kann eigentlich nur heissen, dass alle Meinungen Raum finden müssen.
    Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Das mag man nicht mögen (ich mag das übrigens auch nicht) aber es gehört dazu.
    2. Es mag meine Bibliophilie sein, aber nach der Lektüre ist man schlauer. Man kennt die abstrusen und unfreiwillig komischen Lösungsvorschläge Sarrazins genauso wie die vernünftigen, z.B. intensivere(!) Bildungsangebote (was mehr Geld bedeutet)

    Ich lese doch selten zwischen den Zeilen. Eine Interpretation hin zu mehr Eigenverantwortung ist aber sicher stimmig. Eigenverantwortung kann und muss aber nicht immer im totalen Auflösen sozialer Verantwortung enden (auch, wenn es die angesprochenen Pausenclowns es gerne hätten)

  7. Ja, es geht immer um die Defintion und Deutungshoheit von Begriffen. Ich habe das Wort “Eigenverantwortung” bis jetzt nur als neoliberale Pervertierung kennengelernt. Und als solches wird es von den Pausenclowns in die Debatte geworfen. Unvoreingenommen denkt man sich: ja klar, Eigenverantwortung ist ja etwas ganz natürliches und notwendiges. Doch den Neoliberalen geht es darum, das man für jedes Glück und Unglück selbst verantwortlich ist (siehe im übrigen Sarrazin) und keinen Anspruch auf jedwede Form von Hilfe hat. Denn es geht ja nicht um Verantwortung (!), die man auch seinen Mitmenschen gegenüber hat, sondern eben nur um Eigenverantwortung. Im übrigen ist das die Legitimation für 25% Rendite. Daher ist dieser Wort für mich zum Widerwärtigen mutiert.

    Ihrer Argumentation entnehme ich, dass Sie das Buch komplett gelesen haben?

  8. “1. Eine „demokratische“ Diskussionskultur kann eigentlich nur heissen, dass alle Meinungen Raum finden müssen.
    Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Das mag man nicht mögen (ich mag das übrigens auch nicht) aber es gehört dazu.”

    Richtig, und ich mag das sogar;-) Ich will Herrn Sarrazin auch keinesfalls den Mund verbieten. Aber selbstverständlich kann man dann auch die Freiheit haben, Sarrazin angemessen zu kritisieren. Doch lehne ich seine Wahl der Semantik ab. Doch selbst wenn er sein Buch stilistisch nüchterner geschrieben hätte, würde es ein rechtes Werk bleiben.

  9. ole sagt:

    Ich würde mir mal eine solch aufgeregte Debatte über Herrn Ackermann wünschen. Die in Deutschland lebenden Muslime sind doch nicht das Problem, an dem unser Land erkrankt ist. Hier soll der kleine Ausgebeutete den kleinen Ausgebeuteten jagen, auf allen Sendern läuft dieser ekelhafte Spinner und seine Thesen, der Springer-Verlag und Bertelsmann sind am abfeiern und selbst hier viel zu viel Aufmerksamkeit für so einen Depp. Welche provokative These hat er denn aufgestellt? Dass Deutschland ein Problem hat in Form von zu vielen “Kopftuchmädchen” ? Sorry, da kenn ich eintausend andere vorher, bei denen dann “Maulkörbe” und “Zensur” einsetzen.

    • Anonymous sagt:

      Ich glaube, dass über Herrn Ackermann auch schon viel diskutiert wird. Außerdem beobachtet man, wie an anderer Stelle von mir behauptet, die wundersame Logik der Linken hier. Es wird einfach gesagt, er sei es nicht wert, dass man sich mit seinen Thesen auseinandersetze. Das hat dann mit Meinungsfreiheit rein gar nichts zu tun. Der Respekt vor Andersdenkenden gehört zwingend(!) zur Meinungsfreiheit dazu. Denn, wenn die Linken erst bestimmen, was einen Diskurs wert ist, dann ist das nichts anderes als Zensur. Falls die Linken ferner keine sachlichen Argumente gegen Sarrazin vorbringen können, ist es mehr als logisch, dass sie sich nur noch durch Diffamierung zu helfen wissen.

      Außerdem ist es nicht zwingend, dass ein Migrationskritiker ein Neoliberaler ist. Das mag schwer vorstellbar sein, aber auch das geht tatsächlich. Noch nicht einmal ein Sozialstaatskritiker muss ein Neoliberaler sein. Da würde ich mir schon mehr Differenzierung wünschen. Zwischen Ordo- und “Neoliberalismus” liegt noch etwas.

Einen Kommentar hinterlassen

Kommentar abschicken

le-bohemien