Jenseits der Berlusconi-Affäre

Kapitalfraktionskämpfe in der Geschichte Italiens

Von David Noack

Auf Italien schaut die europäische Öffentlichkeit vor allem deshalb, da Silvio Berlusconi wieder einmal in Sex-Skandale und andere Affären verwickelt ist. Vergessen bleibt dabei eine lange Geschichte der Kapitalfraktionskämpfe in dem südeuropäischen Land, innerhalb derer auch Berlusconi bis heute keine geringe Rolle spielt.

Im Zuge dieser sogenannten Fraktionskämpfe zwischen Gruppen von Einzelkapitalien und deren politischen Repräsentanten, geht es um die Durchsetzung spezifischer Interessen hinsichtlich der ökonomischen Rahmenbedingungen, also um die Hoheit dieser Interessen in der politischen Sphäre (Außen-, Bildungs-, Steuer- und Konjunkturpolitik etc.).

Kalter Krieg

Bereits seit Beginn des Kalten Krieges gab es heftige Auseinandersetzungen über die Ausrichtung der italienischen Politik. Der atlantischen Fraktion stand die sogenannte mediterrane Fraktion des Kapitals gegenüber. Die politischen Atlantiker sammelten sich vor allem im atlantischen Flügel der großen christdemokratischen Partei DC und im Umfeld des Vatikans, des Malteserordens und der NATO-Strukturen im Land. Die Herausforderer der US-Dominanz sammelten sich im „linken Flügel“ der DC bzw. waren in der Sozialdemokratie und der sozialdemokratisierten Kommunistischen Partei anzufinden.

Die wirtschaftlichen Protagonisten der Herausfordererfraktion des italienischen Kapitals waren und sind der Autobaukonzern FIAT und das Erdölunternehmen ENI. Während die US-Politik auf Abschottung gegenüber dem Ostblock im Kalten Krieg setzte, überschritten diese beiden Konzerne die Grenzen der Ideologien und kooperierten auch mit dem Feind des Westens.

Seit 1955 produzierte FIAT gemeinsam mit der jugoslawischen Firma Zastava Autos im östlichen Nachbarn Italiens. In den 1960er Jahren nahm FIAT die Kooperation aus der Vorkriegszeit mit Polski FIAT wieder auf. Seit 1966 kooperierte die Turiner Automobilfirma mit der Sowjetunion, damit die Sowjets auch ein Volkswagen-Äquivalent für ihren Markt produzieren können. Es entstand der LADA – in der nach dem italienischen Kommunisten benannten Planstadt Togliatti. Produktionen gab es auch über den Eisernen Vorhang hinaus in der VR Bulgarien (Pirin-Fiat), Nasser-Ägypten (El Nasr Automotive Manufacturing Company) und Libyen. Seit den 1970er Jahren hält der libysche Staat Aktien an dem norditalienischen Autokonzern.

Der Erdölkonzern ENI wurde 1953 gegründet. Ihr erster Chef wurde Enrico Mattei. 1962 starb Mattei durch einen Flugzeugabsturz – Admiral Fulvio Martini, späterer Chef des italienischen Militärgeheimdienstes SISMI (1984-1991), und der mehrmalige Links-DC-Ministerpräsident Amintore Fanfani (1954/1958-1959/1960-1963/1982-1983 und 1987) erklärten beide, dass Matteis Flugzeug abgeschossen wurde. Wahrscheinlich war Mattei den USA ein Dorn im Auge und musste deswegen sterben. Die Politik ENIs widersprach US-amerikanischen Boykott-Interessen im Kalten Krieg – so kooperierte ENI mit Libyen, Äthiopien und der Sowjetunion bei der Ausbeutung von Ölfeldern und dem Vertrieb von Benzin.

Das Finanzkapital setzte in der Geschichte Italiens immer auf eine Mitte-rechts-Koalition und das Industriekapital auf eine Mitte-links-Koalition.[1] In einem Wechselspiel kamen mal die Einen und mal die Anderen an die Macht – die Grundfesten der Ordnung wurden jedoch nicht angegangen. Ein Ausbruch aus dieser Logik kam nie zustande. Ein solcher Ausbruch hätte der historische Kompromiss – eine Koalition der Christdemokratie mit den italienischen Kommunisten – sein können. 1978 wurde jedoch der linkschristdemokratische Koalitionsverhandlungsführer Aldo Moro unter Mitwisserschaft der CIA ermordet. Er wollte eine Koalition der DC mit der Kommunistischen Partei einleiten – und wurde wahrscheinlich deswegen beseitigt.[2] Ein wirtschaftlich im Mittelmeerraum verankertes Italien mit Kommunisten an der Macht hätte aus der US-Einflusssphäre ausscheiden können.

Nicht nur ein Teil der italienischen Wirtschaft, sondern auch die politische Entsprechung der Herausfordererfraktion des italienischen Kapitals agierte gegen US-Interessen. So stimmte Aldo Moro bei der Abstimmung über den NATO-Beitritt des Landes aus Überzeugung nicht mit ab. Moro war es auch, der eine gemeinsame Regierung mit den Kommunisten bilden wollte. Als die USA 1986 bei der “Operation El Dorado Canyon”  Libyen bombardieren wollten, verweigerte der sozialdemokratische Ministerpräsident  Bettino Craxi den USA die Überflugrechte. Darüber hinaus warnte Rom Tripolis vor der Bombardierung und rettete somit Oberst Gaddafi das Leben. [3] Eine Adoptivtochter Gaddafis starb nichtsdestotrotz bei dem Angriff.

Neue Weltordnung

Mit der Durchsetzung der Atlantiker in Deutschland [4] und dem nachfolgenden Sieg des US-Neoliberalismus in Polen und der Tschechischen Republik begann der Siegeszug des Finanzkapitals in Europa. In Italien geriet das alte Gleichgewicht aus den Fugen. Mit Silvio Berlusconi, dem größten Wirtschaftsboss des Landes, kam 1994 zum ersten Mal ein direkter Vertreter des Finanzkapitals an die Macht. Berlusconi zerlederte die wirtschaftliche Grundlage des südeuropäischen Landes und führte eine bedingungslos pro-amerikanische Außenpolitik.

Doch auch unter Berlusconi gelang der Herausfordererfraktion des italienischen Kapitals ein besonderer Coup: Seit 2002 produziert FIAT – basierend auf den Modellen Fiat Siena und Fiat Doblò – in Nordkorea Autos. Pyeonghwa Motors ist die einzige Firma, die in Nord- und Südkorea Autos vertreiben darf. Der „Sonnenschein-Politik“ von Kim Dae-jung – der südkoreanischen Variante des “Wandels durch Annäherung” wie er von Willy Brandt formuliert wurde – wurde somit ein ökonomischer Unterbau gegeben.

Die FIAT-Gruppe protegierte den Aufstieg der Lega Nord, um im weiter nach rechts gerückten Italien weiter einen Hebel in der Politik zu haben. FIAT führte so den Sturz der ersten Berlusconi-Regierung durch und vertrat auch in der zweiten Berlusconi-Regierung teilweise US-kritische Positionen.[1] Als von 2006-2008 die von der Schwerindustrie favorisierten Sozialdemokraten wieder an der Macht waren, gelang der Herausfordererfraktion des italienischen Kapitals ein besonderer Coup: 2007 kündigten ENI und der russische Monopolist Gasprom die Konstruktion der South Stream-Pipeline an.[5] Der norditalienische ENI-Chef Paolo Scaroni unterzeichnete das Abkommen. US-Globalinteressen, die vor allem auf die Nabucco-Pipeline und Baku-Ceyhan setzen, wurde erneut ein Strich durch die Rechnung gemacht.

Derzeit wird der Sturz Silvio Berlusconis erneut betrieben. Zu seinen wirtschaftlichen Herausforderern zählen der Versicherungskonzern Unipol, die italienische Großbank Monte dei Paschi di Siena, FIAT und ENI sowie diverse Schwerindustrien Norditaliens. Sie dürften vor allem auf die Demokratische Partei setzen, da der Rest der Mitte-links-Landschaft der italienischen Politik verloren gegangen ist. Die Lega Nord ist im Norden Italiens mit der Abwehr des Einflusses des transatlantischen Südens beschäftigt.[6] Lega Nord-Führers Bossi hat erklärt: „Jetzt greifen wir uns die Banken!“ [7] „Wichtigstes außenpolitisches Ziel der [herausfordernden] Kapitalkreise ist, einen klaren Schulterschluß mit der EU, besonders mit ihrer Hegemonialkraft Deutschland herzustellen.[1]

Das italienische Industriekapital dürfte sich in die Ecke gedrängt fühlen, da nun in Frankreich ein mit dem Geldadel verbandelter Präsident regiert [8], in Deutschland und Großbritannien liberal-konservative pro-atlantische Koalitionen und in Irland, Griechenland und Spanien mit dem IWF neoliberale Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden, die diese Länder restlos ruinieren werden.

[1] Gerhard Feldbauer: Berlusconis Klemme, in: junge Welt, 22.09.2010, S. 10/11. Hier abrufbar.

[2] Gerhard Feldbauer: Aldo Moro und das Bündnis von Christdemokraten und Kommunisten im Italien der 70er Jahre, Essen 2003. Hier abrufbar.

[3] Italy Warned Libya of Bombing, Saved Qaddafi’s Life, bloomberg.com, 30.10.2008. Hier abrufbar.

[4] Kees van der Pijl: What Happened to the European Option for Eastern Europe?, in: Bieler, Andreas/Morton, Adam D.: Social Forces in the Making of New Europe – The Restructuring of European Social Relations in the Global Political Economy, Hampshire 2001.

[5] Pipeline unter dem Schwarzen Meer, manager-magazin.de, 24.06.2007. Hier abrufbar.

[6] Kapitale Destabilisierung, german-foreign-policy.com, 24.09.2010. Hier abrufbar.

[7] Kordula Doerfler: UniCredit-Chef Profumo tritt zurück, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 22.09.10. Hier abrufbar.

[8] Thierry Meyssan: Die Operation Sarkozy, voltairenet.org, 21.08.2008. Hier abrufbar.

Ergänzung: Als „contender“ bezeichnet Kees van der Pijl Herausforderer der US-Globaldominanz.

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– Die Deutsche Einheit und das Ende des Rheinischen Kapitalismus

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