2010 – Das Jahr des Kahlschlags

Der etwas andere Jahresrückblick

Von Sebastian Müller

 

Was lässt sich über ein Jahr sagen, dass in jederlei Hinsicht durch eine Krise geprägt war? Wenn man das vergangene Jahr aus der Perspektive der großen Magazine und Boulevard-Blätter Revue passieren lässt, dann war 2010 vor allem geprägt durch die kollektive Begeisterung über den Grand-Prix Erfolg von Lena, das beherzte Auftreten der deutschen Multikultitruppe a la Özil bei der WM in Südafrika und zu guter Letzt über den Formel1-Weltmeistertitel von Sebastian Vettel.

Der mediale Hype, der Rausch ob der Erfolge oder der Beliebtheit (Guttenberg) deutscher Prominenz legte einen wohligen Schleier über den kranken Körper der Gesellschaft. Der dritte Platz des DFB-Teams am Horn von Afrika rettete nicht zuletzt ein sozial unausgewogenes Sparpaket der schwarz-gelben Koalition durch den Sommer.

Die Wahrheit aber – also das, was längst nicht mehr offensichtlich ist – liegt hinter dem patriotisch-inszenierten schwarz-rot-goldenen Glanz und euphorisierten Fahnenschwenkern zwielichtig verborgen. Die Wahrheit ist meist irgendwo zwischen Westerwelles spätrömischer Dekadenzthese, der neuen Begeisterung ob adeligen Blutes, den Protesten in Gorleben, in Stuttgart 21, den unablässigen Terrorwahrnungen und Wikileaks anzutreffen – sie liegt irgendwo zwischen den Zeilen.

Es war nicht umsonst ein Jahr der Bürgerproteste. In Gorleben blockierten die Menschen auch deshalb die Gleise, weil die Bundesregierung als einer ihren ersten Amtshandlungen den im demokratischen Konsens erarbeiteten Atomausstieg kassierte und die Laufzeiten für die Atommeiler verlängern lies. Ein Sieg der Atomlobby. Und nicht nur hier offenbarte sich 2009 und 2010, was für eine Koalition sich die deutschen gewählt hatten. Klientelpolitik und die Verwaltung von Wirtschaftsinteressen – das ist das Zeugnis, das zum Jahreswechsel ausgestellt werden muss.

Zyniker würden sagen, jedes Land hat die Regierung, die es verdient. Mit CDU und FDP wurden vor dem Hintergrund der Finanzkrise – als die fatalen Konsequenzen jahrzehntelanger Deregulierung für jeden offenbar wurden – zwei wirtschaftsliberale Parteien an die Macht gehievt. Ein Paradoxon, dass auf den ersten Blick kaum nachvollziehbar ist. Doch der bürgerliche Wähler tendiert zum Konservatismus, wenn er seine Felle davon schwimmen sieht.

Ebenso tendiert das Bürgertum in diesem Falle zur Entsolidarisierung und Fremdenfeindlichkeit. Thilo Sarrazins Generalangriffe auf Hartz IV-Empfänger und Migranten stiess auf breite Zustimmung in einer Gesellschaft, in der laut einer Studie eine “Vereisung des sozialen Klimas” stattfindet und in der von einer “Verrohung der Mittelschicht” die Rede ist. So gesehen ist auch eine Politik der sozialen Kälte nur folgerichtig – eine weitere Erkenntnis des Jahres 2010.

Die Politik der sozialen Kälte ist das herausragende Charakteristika des alten Jahres; nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Die radikalen Sparpakete der europäischen Regierungen sind eine Kapitulationserklärung an die Finanzmärkte. Ein beispielloser Enteignungsprozess der EU-Bürger, ein Kahlschlag öffenlicher Einrichtungen, Kommunen, Gemeinden und der Daseinsfürsorge insgesamt (siehe das Versagen des Winterdienstes) ist die Folge. Wir wurden Zeuge wie der Neoliberalismus angesichts seines Versagens erneut triumphierte. Eine Wahrheit zwischen den Zeilen, die Leitmedien werden sie zum Jahresrückblick verschweigen.

Auf der anderen Seite wurde nicht nur in Gorleben, sondern auch in Stuttgart die Unzufriedenheit der Deutschen mit der Bundesregierung und dem Regierungsstil im Allgemeinen deutlich. Die Stuttgarter demonstrierten gegen mehr, als die Umwandlung des Kopfbahnhofes in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof. Sie demonstrierten ihre Ablehnung gegen den Regierungsstil der politischen Klasse schlechthin. Dennoch, gegen die wirklich zentralen Verwerfungen wurde in Deutschland einmal mehr nicht auf die Strasse gegangen. Man verweigert sich zunehmend der sozialen Frage – was die Linkspartei vor Probleme stellt . Neben der Vereisung des sozialen Klimas auf der einen, ist ein wiedererstarken der Proteste auf der anderen Seite zu konstatieren – und das weltweit. Neue Konfliktlinien in den westlichen Gesellschaften werden offenbar.

Für die Regierungen ist all dies ein Grund mehr, den Sicherheitsstaat weiter auszubauen, der – wie die unablässigen Terrorwahnungen eines Bundesinnenministers De Maiziere beweisen sollen – angeblich immer mehr auf die Probe gestellt wird. Ob es hierbei aber tatsächlich nur um den islamischen Terrorismus geht, sei einmal dahingestellt. Auch durch Julian Assanges Wikileaks wurde und wird der Rechtsstaat einmal mehr einem Lackmustest unterzogen – in der Frage nämlich, inwieweit das Recht auf Informationsfreiheit in zunehmend repressiven Systemen noch gilt.

Wer 2010 erstmals einen kritischen Blick auf die Medien geworfen hat, dem wird auch die unablässig voranschreitende Banalisierung, Kommerzialisierung und Beschneidung der ehemaligen Informations- und Bildungsinstitution aufgefallen sein. Aus Information wird Infotainment. Es scheint jedes Jahr schlimmer zu werden. Doch das muss es auch. Warum?

Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges diente der Wohlfahrtstaat und die Entertainmentindustrie dem Zweck, den Kapitalismus im Kampf der Systeme konkurrenzfähig zu halten. Heute dient die Entertainmentindustrie vor allem dazu, den Kapitalismus vor dem Hintergrund des Abbaus des Wohlfahrtstaates und der damit verbundenen Vermögensverteilung von unten nach oben am Leben zu erhalten. Auf Kosten der Informations- und Pressefreiheit muss diese Industrie dafür weiter aufgerüstet werden.

Der Kabarettist Hagen Rether konstatierte jüngst, wenn all die Fernsehsendungen, die heute ins Nachtprogramm verbannt werden, zur besten Sendezeit laufen würden, hätten wir schon längst eine Revolution in Deutschland.

In diesem Sinne leisten unsere Leitmedien schon einmal patriotische Vorarbeit, wenn Spiegel und Bild als Meinungsführer der deutschen Enter- und Infotainmentindustrie dem deutschen Michel ins Ohr schreien, dass 2011 alles besser wird – oder, “alles wird Gutt”. Wir wandeln grausigen Zeiten entgegen – Prost Neujahr!

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2 Kommentare zu "2010 – Das Jahr des Kahlschlags"

  1. Udo sagt:

    Toller Artikel!
    Aber: Warum differenziert eigentlich niemand zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus/Geldsystem???

    Marktwirtschaft mit einem gerechten Geldsystem sprich Ohne Kapitalismus sollte diskutiert werden. sihehe:

    http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/onken/mokonk.htm

    Aloha

  2. Daniel Nolting sagt:

    Da sieht man einfach, wie sehr alle von allem möglichen profitieren, bloß man selbst ist nie dabei. Die Schere geht immer weiter auseinander und der Nutzen von dem unsere Regierung in Zusammenhang mit Euro, Afghanistankriegt etc. immer spricht wird eine Hälfte nie erreichen.

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