Das andere Russland
Limonow – oder von Faschisten, Machos und Rebellen

Das Leben und Denken des Dissidenten und Dichters Eduard Limonow gewährt einen tiefen Einblick in die russische Seele nach Glasnost und Perestroika

Bild: Ivan Simochkin / CC BY-SA 3.0 via wikimedia.org

Der folgende Text ist vor etwa drei Jahren entstanden. Vor der Ukrainekrise also, die den politischen Philosophen und Publizisten Alexander Dugin zu einiger Prominenz im Westen verhalf und in der Eduard Limonow – wenig überraschend – eindeutig Partei für die ostukrainischen Rebellen ergriff.

***

The Faction Confesses

We know the truth is otherwise:
pastel and peeling.
So the BLACK/RED/WHITE we tried
to smear on this lawnscape
was a lie, a salve, was
Love – because you must
Believe, beloved, we have
always loved you.

We knew the truth was otherwise;
less than a murder, more like a house
in a given suburb of LA:
on a hot day on a middle-middle street
– not one primary colour on the block, not one
that history could help you with –
that buzz: lawnmower
or small plane fading –

O Third Spirit! I fear you most of all!

Grant us the old stains of
blood, snow and raven
to soften the blow of
the beige mower drone
when we walk
if we must
down that mild
bright street.

John Dolan

***

Many people will want to join us. Possibly we will conquer the whole world. People will die young but it will be fun. We will burn the corpses of the heroes.

And what is the sense of making a revolution if the objective is just to seize the ministerial posts, the vulgar cabinets. We will have to change everything. And to invent us a New God, possibly some Tungusian meteorite or an iron planet in the cold universe. Our god will be the one who gave us death. Maybe our god will be death. So, like Martin Luther King, I have a dream. But his dream was poor, wretched…

Eduard Limonow – The Other Russia

* * *

Eduard Limonow ist ein russischer Dichter und Dissident, berühmt geworden durch autobiographische Romane, in denen er sich als kompromissloser, heroischer Rebell inszeniert. Sein Ticket zum Ruhm war Fuck off Amerika, das die Geschichte seiner ersten Zeit im westlichen Exil in New York erzählt; dort treibt er sich auf den Straßen rum, arm und unbekannt, wird Teil der Punk-Szene der späten 70er, entdeckt seine schwule Seite und hat anonymen Sex mit anderen Obdachlosen. Aufmerksame Leser mag aufgestoßen haben, dass es für ihn vor allem ein Beweis seiner heroischen Männlichkeit ist, sich auch einmal in den Arsch ficken zu lassen, aber sonst: Der feuchte Traum des liberalen Zeitgeistes der 80er.

Eduard Limonov ist ein reaktionärer, quasi-faschistischer Macho. Er ist Gründer der Nationalbolschewistischen Partei in Russland, und verstößt damit gegen die wichtigsten Tabus der Gegenwart: Zum einen ist er Kommunist, und zwar nicht so wie der durchschnittliche deutsche Theaterintendant, sondern als offener Verehrer der sowjetischen Vergangenheit, für den Gorbatschow ein Verräter war, der die Sowjetunion an den Westen verkauft hat. Er war 1993 mit den Gegnern der Jelzin Regierung im russischen Parlamentsgebäude, als es von der Armee belagert wurde und beteiligte sich am folgenden bewaffneten Aufstand.

Schlimmer noch: er ist ein nationalistischer Anti-Liberaler, der auch Jeltsin für einen Verräter des Vaterlandes hält und ein chauvinistischer Macho, der von (bewaffnetem) Heldentum und nationaler Erwachung träumt. Irgendwann zeigt der BBC ein Video, in dem er – während des Balkankrieges – mit serbischen Milizen und hochrangigen, verurteilten Kriegsverbrechern herumsteht, die ihm seelenruhig erklären warum die Moslems der Erbfeind sind, während er freundschaftlich zuhört. Schließlich kniet er sich vor ein Maschinengewehr und schießt auf das belagerte Sarajevo hinab. Case Closed.

Seine Nationalbolschewisten kleiden sich wie Skinheads und tragen Armbinden wie die Nazis, mit Hammer und Sichel statt Hakenkreuz: Die Verkörperung von allem, was dem liberalen Zeitgeist verboten ist.

Eduard Limonow war einer der respektiertesten Oppositionellen Russlands, verbündet mit dem Vorzeigeliberalen und Schachweltmeister Garry Kasparow. Mit Kasparow führte er Other Russia an, die damals wichtigste demokratische Opposition im Land. Er war von Anfang an einer der schärfsten Kritiker der Putin-Autokratie und war deshalb zu Beginn von Putins Amtszeit für zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Auch danach setzte er durch seine oppositionelle Tätigkeit immer wieder sein Leben und seine Freiheit aufs Spiel. Die amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Olga Matitch aus Berkeley meint, er sei der anständigste Mensch, den sie je getroffen hat.

Es ist leicht jetzt nach den russischen Klischees zu greifen und Limonow als typisch russisches “enigma wrapped in a riddle” mit Seele und Irrationalität loszuwerden. Aber es ergibt alles einen Sinn. Unabhängig von meiner Meinung zu Limonow als Autor oder zu seinen abstrusen Ideen zum Balkankrieg, bin ich doch der festen Überzeugung, dass die Nationalbolschewisten auf der richtigen Seite stehen, den richtigen Kampf kämpfen, gut und ehrbar sind. Wie schaffe ich es also, eine Organisation, die “Nationalbolschewistische Partei” heißt, so zu verkaufen, dass sie in unserem liberalen Referenzrahmen als die Guten dasteht?

Der Abgrund der Nachwendezeit

Den meisten Menschen im Westen ist bis Heute nicht bewusst, was der Zusammenbruch der Sowjetunion für Russland bedeutete und das ist einer der Gründe, aus denen wir dem Phänomen Putin so ratlos gegenüberstehen. Wir haben Bilder im Kopf von der grauen, häßlichen Öde, die die UDSSR zum Ende hin war, von ihrer erbärmlichen technologischen Rückständigkeit und einem Land wo “nichts mehr funktionierte”. Die albernen Autos, die häßlichen Anzüge, Fabriken die still standen: ein Land, das der Kommunismus völlig ruiniert zu haben schien.

Im Gegensatz dazu stand Gorbatschow, ein freundlicher, netter Mann, der wie dafür geboren war, neben Bill Clinton, Nelson Mandela oder Kofi Annan Friedenspreise entgegenzunehmen. Dann waren dort die friedlichen Demonstranten, die Dissidenten und die “Zivilgesellschaft”, die alle Befürchtungen über das unverständliche, fremde Reich des Bösen beschwichtigten. Die höfliche Mittelschicht des Westens konnte sich in ihnen wiedererkennen, es waren zivilisierte, liberale Menschen, vor denen man sich nicht fürchten musste.

Ihre Verbündeteten waren die “Reformer”, die nichts anderes wollten, als zu modernisieren und zu befreien und dem maroden Sowjetsystem Genesung zukommen lassen, in der Form der genialen, unbesiegbaren Formel, die wir vor langer Zeit entdeckt hatten und die nur darauf wartete Wohlstand und Freiheit nun auch an die Russen zu liefern: dem liberalen Kapitalismus. Nur der Widerstand der “Hardliner” und der Ewiggestrigen stand noch im Weg, aber diese traurigen, schlechtgekleideten Gestalten, mit ihren Stalinplakaten und Militäruniformen, hatten nie die geringste Chance den unvermeidlichen Lauf der Geschichte aufzuhalten: Die Demokratie hatte gesiegt und es war gut.

Für viele Russen war diese Zeit aber vor allem eins: ein Unheil. Die meisten würden es vielleicht nicht wie Putin “die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhundersts” nennen, aber auch nur weil es für sie kein bischen eine geopolitische Angelegenheit war, sondern etwas, das sehr konkret über ihr eigenes Leben hereingebrochen ist.

Der Politikwissenschaftler Boris Kagarlitsky hat einige Bücher über diese Zeit geschrieben, darunter: “Restoration in Russia: Why Capitalism failed”. Er selbst war in Moskau politisch aktiv und Mitglied der Sozialistischen Partei. Man könnte ihm also unterstellen, er könne allein aufgrund seines politischen Standpunktes nur Negatives an den kapitalistischen Reformen erkennen. Doch selbst wenn das stimmen sollte, und ich denke es stimmt ganz und gar nicht, Zahlen können nicht lügen:

“Russia’s population declined by approximately two million people as a result of a sharp fall in the birthrate and a rise in mortality. The life expectancy of the average male fell below the levels in Indonesia, the Philipines and Pakistan. Diseases that had been regarded as conquered reappeared: these included diphteria and in some regions, cholera. The number of sufferers from scabies and lice rose sharply. Tyhpoid fever once again began spreading. […] In prereform years the average Russian family had spend a third of its income on food; in 1993 it was handing over 70 percents of its earnings for a significantly worse diet. According to figures released by the Chief Sanitary Inspector of Russia, Yevgeniy Belyaev, the majority of Russian citizens were chronically manlourished for the first time since the end of the Second Wold War. Effective consumer demand among the population fell to the levels of the 1950s.”(87)

Es gibt zwei Möglichkeiten diese ökonomische Katastrophe zu erklären. Die erste ist es, sie auf die marode Sowjetische Wirtschaft zu schieben, die nach Jahrzehnten der Ineffizienz und durch das Wettrüsten ausgelaugt schon bevor die UDSSR politisch zusammenbrach, vor dem Kollaps stand. Der Zusammenbruch der Wirtschaft wurde durch das Ende der Diktatur herbeigeführt, war aber schon immer unausweichlich.

Die zweite Erklärung – und sie ist kombinierbar mit der ersten – verbirgt sich hinter dem neoliberalen Begriff der “Schocktherapie” und lautet ungefähr so: Da der einzige Weg zu Fortschritt und ökonomischer Entwicklung in der Marktwirtschaft liegt, ist es unausweichlich, dass die russische Wirtschaft dem freien Markt ausgesetzt wird. Dass es dabei zu jeder Menge creative destruction kommen wird – mit Betonung auf destruction –, ist ebenso unausweichlich; die verhätschelten, behüteten sowjetischen Staatsunternehmen müssen sich entweder auf dem gnadenlosen Weltmarkt behaupten oder dem Fortschritt weichen, denn nur eine wettbewerbsfähige Wirtschaft kann auf Dauer Wohlstand schaffen. Wird dieser Prozess in sehr kurzer Zeit durch einen Liberalisierungsschock durchgeführt, ist dies zwar am Anfang “schmerzhaft” (das Wort benutzen ja sogar all die Leitartikler und Wirtschaftsexperten, vermutlich hat es für sie eine sehr abstrakte Bedeutung), aber auf lange Sicht “gesund”.

Man mag nun von dem wohlmeinendem Sadismus, der aus dieser neoliberalen Apologetik spricht, halten was man will; das Problem bleibt, dass sie nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Denn was damals Liberalisierung und Privatisierung genannt wurde, war vor allem eins: Raub. Die gewaltigen Reichtümer, die in den frühen 90ern in Russland angehäuft wurden, waren nicht einfach der hohe Gewinn, den freien Unternehmern in einer neoliberalen Wirtschaftsordnung eben zufällt, sondern Beute.

Privatisierung von Staatsbesitz, was seit Jahrzehnten fester Teil der konventionellen neoliberalen Reformagenda ist, bedeutet in einem westlichen Land, dass dieser Besitz zu seinem Marktpreis angeboten wird und alle die genug Kapital besitzen, darum bieten können. In Russland aber war diese westliche, “zivilisierte” Version der Privatisierung unmöglich, da es überhaupt kein privates Kapital gab. Kagarlitsky deutet auf diesen einfachen Sachverhalt hin und stellt dar, welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Es waren nicht junge, unabhängige Unternehmer, die den Kapitalismus aufbauten. Vielmehr war es gerade die alte Elite der Bürokratie und der sowjetischen Manager, die in der Lage waren von der Privatisierung zu profitieren.

Schon vor Verkauf der Staatsunternehmen war es ihren sowjetischen Direktoren erlaubt worden, sie wie private Unternehmen zu führen und man begann Staatsvermögen zu neu gegründeten privaten Firmen zu transferieren. Als man aber dazu überging, Staatsbetriebe vollständig zu privatisieren, hatte diese altsowjetische Elite sowie neu entstandene, illegale Schwarzmarktorganisationen nicht annähernd genug Kapital angehäuft, um die Reichtümer des Staates zu ihrem echten Preis zu kaufen: “Economics calculated that the effective demand for property stood at a level of 1.5 per cent of the value of state sector assets”. (84)

Die Reformen aber mussten weitergehen und eine Lösung wurde gefunden. Sie wird mit dem Namen Anatoliy Chubais verbunden, der die Privatisierungsbehörde leitete und die brilliante Idee hatte, an jeden Russen einen gleichwertigen Gutschein zu verteilen, der benutzt werden konnte, um Anteile an Staatsunternehmen zu kaufen. Das klingt fair auf den ersten Blick, doch das Ergebnis war nicht eine Nation von Kleinanlegern, sondern die Oligarchie. Die Verteilung der Gutscheine und die Auktionen wurden durch eine Allianz aus alter Elite, Finanzspekulanten und organisiertem Verbrechen manipuliert und der Reichtum der Sowjetunion wurde für lächerliche Preise verscherbelt.

Die neuen Besitzer des Landes waren nicht in der Lage, die Wirtschaft durch ensprechend große Investitionen zu modernisieren und sie waren daran auch nicht interessiert. Der Profit, der durch die immer weitergehende Inbesitznahme des Staatseigentums zu machen war, war gewaltig genug. Ein “normales” Wirtschaften wurde außerdem immer mehr zu einem Ding der Unmöglichkeit. Kagarlitsky schreibt:

“The bacchanalia-like plunder of state property and the collapse of the constituional order have undermined all respect for the law. Corruption has become a part of everyday life, crime has risen at catastrophic rates, and ‘normal’ entrepreneurship has become hard to distinguish from criminal activity. The links between the world of business and crime have become steadily closer; for example, there are now perfectly legal firms whose business consists entirely of acting as intermediaries in the payment of bribes.” (89)

In der Tat wurde das organisierte Verbrechen nicht nur ein bedeutender Akteur im Wirtschaftsleben Russlands, es war vielmehr ein essentieller Teil und absolut notwendig für das reibungslose Funktionieren der neuen Ordnung. In seiner Studie Violent Entrepreneurs: The Use of Force in the Making of Russian Capitalism untersucht der Soziologe Vadim Volkov die Rolle, die die Mafia im Russland der 90er spielte. Und die war gewaltig: für einige Jahre war es praktisch unmöglich, irgendeine wirtschaftliche Aktivität auszuüben, ohne Schutzgeld zu bezahlen. Jede unernehmerische Organisation, vom kleinsten Schwarzmarktstand zum größten Erdgaskonzern, brauchte ein sogenanntes “Dach”: eine Organisation die gegen regelmäßige Zahlungen Sicherheit garantieren konnte. So ein Dach konnte ebenso gut eine staatliche Organisation wie die Mafia sein, doch das Prinzip war in beiden Fällen das Selbe.

Ironischerweise aber boten die ‘Dächer’ tatsächlich das, was Schutzgelderpresser immer behaupten zu liefern, nämlich eine dringend notwendige Dienstleistung. Das lag zum einen daran, dass der kollabierende und völlig korrupte Staat effektiv das Gewaltmonopol verloren hatte und nur die handfeste Macht der Mafia einem Unternehmer garantieren konnte, nicht Opfer anderer Verbrecher zu werden.

Dazu kam aber noch, dass im Zuge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und des Chaos der Privatisierung der normale Zahlungsverkehr zum Erliegen gekommen war. Rechnungen wurden nicht bezahlt und Verträge nicht eingehalten und zwar in einer Dimension, die wirtschaftliche Aktivät fast unmöglich machte. Und so traten die “Dächer” in die Fußstapfen des Staates und wurden zu einem unabdingbaren Teil des Wirtschaftslebens: Immer wenn ein Unternehmen ausstehende Schulden oder einen juristischen Disput mit einem anderen Unternehmen hatte, wendete es sich an sein Dach. Das wiederum würde bei dem anderen Unternehmen anfragen, welches denn sein Dach sei. Hatte dieses noch kein Dach, musste es sich spätestens jetzt eins besorgen. Und dann konnten die beiden Dächer zu einem Verständnis kommen.

Sogar das Gewaltmonopol des Staates wurde also privatisiert. Nur waren die Verbrecher viel näher am kapitalistischen Ideal als die neue, korrupte Oligarchie, die ihre Marktmacht gestohlen hatte. Es waren modellhafte Unternehmer, die eine Nachfrage erkannten, durch ihre Dienstleistungen ein ensprechendes Angebot schufen und schließlich in freiem Wettbewerb um Marktanteile kämpften. Leider wird diese wahre kapitalistische Erfolgsgeschichte Russlands selten gewürdigt.

Auch diese Reform des Verbrechens ging ineressanterweise mit einer “Modernisierung” einher: Die ehrwürden “Diebe im Gesetz” (vor v zakone), eine Art Gilde des Verbrechens, hatte in der Sowjetzeit die Fackel des Organisierten Verbrechens hochgehalten. Sie verfügten über komplexe Codes, Traditionen und Hierarchien und waren einer Sekte ähnlicher als einer profanen Mafia. In den blutigen Kriegen, in denen in den frühen 90ern die Terretorien der Mafias aufgeteilt wurden, mussten sie sich zu einem großen Teil den “Sportlern” geschlagen geben, die so genannt wurden, weil sie oft aus Kampfsportgruppen hervorgegangen waren. Diese waren frei vom altmodischen Kodex der Diebe im Gesetz und entsprechen eher unserem Bild der Russenmafia. Es waren skrupellose Jogginganzugträger ohne kriminelle Vergangenheit, die mit hoher Disziplin und Flexibilität sehr schnell ganze Verbrechensimperien errichteten. Sie glichen damit den sogenannten “Neuen Russen”, die ohne ideologischen Ballast und mit moderner, westlicher Einstellung die alten sowjetischen Eliten ausstachen.

Das organisierte Verbrechen war aber nur die offensichtlichste Facette der zynischen Gesetzlosigkeit, die, zusammen mit der totalen Inkompetenz und ideologischen Blindheit der politischen Klasse die Transformation zum Kapitalismus auszeichnete. Das Ergebnis war Chaos und totaler wirtschaftlicher Zusammenbruch. In kurzer Zeit war das, was trotz aller Schwächen und Rückständigkeit mal eine funktionierende Industriegesellschaft gewesen war, in Trümmern, um Jahrzehnte zurückgeworfen:

“More than half of the volume of industrial output was lost, and the technological level of production declined. Privatization did noct assist in creating a competitive market, instead giving birth to uncontrolled monopolies that exploited the consumer. Enterprise performance deteriorated. In the privatized sector the productivity fell steadily, losses increased, the competitiveness of production declined, and foreign markets were lost.” (85)

All das war eine direkte und vorhersehbare Folge der Art und Weise, auf die die Privatisierung durchgeführt worden war. Rückblickend jedoch lässt sich schwer vorstellen, wie es anders hätte laufen können. Nicht weil dieser Kurs der einzige “praktisch mögliche” war, sondern weil das ideologische Momentum auf der Seite der Reformer war. Als aus der Perestroika der Zusammenbruch und die totale Niederlage der Sowjetunion wurde, setzte sich in Russland die Ansicht durch, dies sei ein Sieg der erfolgreichen Ideologie des Westens und eine totale Annahme des fremden Systems sei nötig, um die Rückständigkeit Russlands aufzuholen.

Dazu kommt, dass das Propagieren der neoliberalen Reform exakt den Interessen der neuen wie alten Eliten entsprach, stütze sich ihre Macht doch vor allem auf die durch die Privatisierung eroberten Besitztümer. Auch für Jelzin war es eine politisch notwendige Strategie, sich als “ökonomisch Radikaler” im Kampf gegen die alte Nomenklatura zu profilieren, wollte er den frühen Machtkampf gegen Gorbatschow gewinnen. Die Schocktherapie wurde alternativlos, schreibt Kagarlitsky:

“In 1990 the television, newspapers and magazines, in most cases still controlled by the Communist Party, unleashed a powerful campaign in support of privatization. Anyone who doubted the new wonder-working recipe was simply not allowed to be heard. No one discussed the advisability of the suggested measures, nor the scale on which they were to be applied, nor the possible consequences; the discussion was conducted on a purely ideological level.” (83)

Das Russische Volk spürte allerdings am eigenen Leib, dass etwas an der Ideologie nicht ganz stimmen konnte. Während der mediale Konsens und jede der politischen Alternativen, zwischen denen ihnen erlaubt war zu wählen (bis zur Präsidentschaftswahl 1996 zumindest, wo zum ersten Mal ein Kommunist eine wirkliche Alternative zu Jelzin darstellte), ihnen ununterbrochen erklärte, die Reform sei der einzige Weg aus der Not, wurden sie in ein bis dahin unvorstellbares Elend gestoßen.

Es ist keine Apologetik der Sowjetdiktatur, auf diese einfache Tatsache hinzuweisen: für den Großteil der Bürger Russlands war das Ende der Sowjetunion ein Abstieg in Armut und Unsicherheit. Und das ist nicht der einzige Grund, aus dem viele Russen den Zusammenbruch der Sowjetunion als Katastrophe wahrnehmen. Hinter dem, was wir gerne als das “es war nicht alles schlecht” der Ewiggestrigen verlachen, kann auch unschuldige Nostalgie für eine Gesellschaft stecken, in der für alle gesorgt war, in der man von seiner Arbeit leben konnte und noch dem niedrigsten Arbeiter eine gewisse Würde zuteil war.

In der postsowjetischen Gesellschaft wurde die (im wirklichen Sinne des Wortes!) schöne, ideologische Lüge der Vergangenheit lediglich ersetzt durch kalten Zynismus und die brutale Herrschaft des Stärkeren. Zu dem materiellen Elend kam die Demütigung all derer hinzu, die bis dahin stolz auf ihre Identität als Arbeiter in der Sowjetunion gewesen sein konnten. Die, die einmal das Gefühl gehabt hatten, ein wertgeschätztes Mitglied der Gesellschaft zu sein, waren jetzt das, was arme Menschen in der kapitalistischen Freiheit eben sind: Verlierer. Ihr Land versank in Chaos und Verbrechen, während ihnen die reichen, modernen Menschen im Fernsehen immer wieder erklärten, jetzt sei alles besser und all das, wofür sie Jahrzehnte gearbeitet und gelitten hatten, war nicht nur schlecht und rückständig, sondern auch böse gewesen.

In diesem Kontext entstand 1993 die Nationalbolschewistische Partei, deren jugendliche Anhänger in strenger Formation unter ihrer unheimlichen Flagge demonstrierten und martialisch brüllten: “Für die Reformer: Stalin! Beria! Gulag!”

Die Nationalbolschewistische Partei spielt mit rot-braunen Symbolen. Sind die Nazbols Faschisten? Adoleszente Rebellen? Mehr dazu in Teil 2

Artikelbild: Ivan Simochkin / CC BY-SA 3.0 via wikimedia.org

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7 Kommentare zu "Das andere Russland
Limonow – oder von Faschisten, Machos und Rebellen"

  1. Klaus Menke sagt:

    Hallo Herr Simon, da Sie die Situation nicht selbst erlebt haben können, es sei denn Sie haben sich augenscheinlich gut “gehalten”, bitte ich um Nennung aller Quellen. Vielen Dank. Gruß, Klaus Menke

  2. Johannes Simon sagt:

    Hallo Herr Menke, neben den genannten Quellen (Volkov und Kagarlitzky) hab ich meine Informationen über Limonow und die Nazbols vor allem aus der hervorragenden Biographie von Emanuelle Carrierre. Die hätte ich vielleicht echt erwähnen sollen.
    http://www.amazon.de/Limonow-Emmanuel-Carr%C3%A8re/dp/344274718X/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1463697812&sr=8-1&keywords=limonow

    Welche anderen Quellen ich benutzt habe – müsste ich nachschauen. Ist lange her. Die englische Zeitschrift The Exile aus Moskau gehörte sicher dazu.
    Warum möchten Sie denn alle Quellen genannt haben? Erscheint Ihnen irgendwas unplausibel?

    Was ich damals noch nicht kannte ist die Dokumentation “The Revolution that didn’t happen”, in der man die Nazbols in all ihrer wahnsinnigen Größe aus der Nähe bewundern kann:

    Sehr empfehlenswert. Vielleicht einen Hinweis dazu einbauen, Sebastian?

    • Klaus Menke sagt:

      Lieber Herr Simon, vielen Dank. Mich interessiert das Thema. Daher meine Frage.

      • Johannes Simon sagt:

        Ah cool. Ja, sorry, außer Sankya von Prilepin (siehe Teil 2) fällt mir nicht mehr viel ein.

      • Paul Simon sagt:

        “Virtual Politics – Faking Democracy in the Post-Soviet Space” von Andrew Wilson finde ich auch ein spannendes Panorama der politischen Landschaft Russlands bis ca. 2005, das ein Gefühl dafür gibt, in was für einem teils ziemlich grotesken politischen Ökosystem die Nazbols überhaupt nur entstehen konnten. Ansonsten sind für Limonow seine Romane, von denen einige auch auf Deutsch erschienen sind, vielleicht die beste Quelle.

      • Paul Simon sagt:

        Und als eine Art poetische Quelle, dieses Lied des sowjetischen Punks Yegor Letov aus der Perestroika-Ära : “Alles Geht nach Plan”.

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