Zwei Stimmen zu Griechenland (1)
Warum Syriza gescheitert ist

Die Hypothese: Mit der griechischen Regierung ist das Politikverständnis einer postmodernistischen Linken (kurz: Pomo-Linken) an praktische Grenzen gestoßen.

grexit

Foto: afilitos / flickr / CC BY-NC 2.0

Von Bernd Ladwig

Warum gingen die Verhandlungen mit der neuen griechischen Regierung so furchtbar schief? Manche mögen sagen: weil sich die Spieltheoretiker um Varoufakis verzockt haben. Aber das hätten gewiefte Spieler schneller merken müssen: Es zeichnete sich schon ab, als der frühe Versuch der Syriza-geführten Regierung, Deutschland im Euroraum zu isolieren, stattdessen mit einer Selbstisolierung Griechenlands endete. Wer danach genau so weiterspielte, war entweder Dilettant – oder hatte eine andere Agenda.

Eine zweite Antwort lautet: weil Merkel und die anderen neoliberalen Bösewichter die griechischen Streiter für ein solidarisches Europa unbedingt kleinkriegen wollten und diesen deshalb keinen Verhandlungserfolg gönnten. Nun mag das mit Blick auf Schäuble oder auch den IWF noch eine Spur von Glaubwürdigkeit besitzen. Aber zu den von der griechischen Verhandlungsführung Genervten gehören noch ganz andere; die Reihe wurde täglich länger. Gabriel, Steinmeier, Martin Schulz, Juncker, Dijsselbloem: alles neoliberale Merkel-Knechte? Oder eher Leute, die nichts mehr fürchteten als ein Platzen der Illusionsblase “Einmal im Euro, immer im Euro”? Leute, die Europapolitik als ein zähes Ringen um Kompromisse und Konsense kannten, als eine Veranstaltung, deren Drögheit garantierte, dass keiner von der Stange ging? Leute, die sich nun konfrontiert fanden mit der Sprunghaftigkeit und dem polternden Ton einer Truppe, die es fertigbrachte, die eigenen Verhandlungsangebote anderntags als unverschämtes Fremddiktat zu verdammen?

Diesem letzten Eindruck folgend, möchte ich eine andere Hypothese zur Diskussion stellen: Mit der griechischen Regierung ist das Politikverständnis einer postmodernistischen Linken (kurz: Pomo-Linken). an praktische Grenzen gestoßen. Wen ich damit meine? Jeder kennt die Pomo-Linke, der, wie ich, das zweifelhafte Vergnügen hat, in Gremien der Freien Universität Berlin zu sitzen. Das Studentische ist überhaupt ihr Lebenselixier. Nun aber durften auch die Europa-Profis mit ihr Bekanntschaft machen – und sie waren “not amused”. Sie erlebten eine Truppe, die den redelastigen, forderungsfreudigen und verabredungsscheuen Politikstil eines Allgemeinen Studierendenausschusses in die europäischen Institutionen trug.

Die Pomo-Linke geht aus von einer vernünftigen Grundeinsicht, die sie aber durch Übertreibung ruiniert. Die Einsicht lautet, dass das Soziale eine Konstruktion sei und also grundsätzlich auch anders sein könnte. So weit, so richtig, ja trivial. Also wiederholt die Pomo-Linke bis zum Überdruss: Alles könnte ganz anders sein, wenn wir es nur wollten. Alles ist eine Frage der Kräfteverhältnisse. Alles hängt davon ab, wie wir es betrachten und bezeichnen.

Nun ist richtig, dass soziale Tatsachen nicht unabhängig sind von den Einstellungen, die Menschen zu ihnen einnehmen. Ohne diese Einstellungen gäbe es keine Kanzlerinnen, keinen Wechselkurse und keinen Währungsfonds. Es gäbe nicht einmal Deutschland oder Griechenland. Trotzdem führt der Spruch “Alles könnte anders sein, wenn…” leicht in die Irre. Soziale Tatsachen sind nämlich nicht nur sozial, also durch uns entstanden, sondern auch Tatsachen, also mitnichten beliebig und auf einen Schlag änderbar. Zu den sozialen Tatsachen gehört zum Beispiel, dass Geld nicht auf den Bäumen wächst und man es auch nicht nach Belieben nachdrucken kann, ohne dass Menschen irgendwann am Wert der Währung zweifeln.

Zu den sozialen Tatsachen im Euroraum gehören auch Rechtsregeln, Vereinbarungen, Verfahrensvorschriften, eingespielte Erwartungen und Vetopositionen. Ein formeller Schuldenschnitt, dem erst noch neunzehn nationale Parlamente ihren Segen geben müssten, kann nicht mal eben auf Chefebene von Merkel und Tsipras für alle verbindlich verkündet werden. Sicher sind europäisches Regelwerk und Routinen auch nicht in Granit gehauen. Aber wer sie ändern wollte, müsste sich eben auf das mühselige Geschäft des Änderns sozialer Tatsachen einlassen. Dafür aber genügen keine metatheoretischen Pirouetten auf der Eisfläche “Kontingenz”, dafür reicht nicht das Abnudeln der Langspielplatte “Alles könnte auch anders sein”.

Damit kein Missverständnis entsteht: Die Pomo-Linke ist zum Glück nicht die einzige Linke, die es gibt. Es gibt auch Linke, die um die soziale Gemachtheit der sozialen Welt wissen und sich dennoch nicht im Wunschdenken verlieren. Einer solchen Linken fühle ich mich verbunden. Sie denkt, dass mit der Entscheidung für eine Währungsunion funktional wie normativ der Weg vorgezeichnet war zu einer Fiskalunion, zu einer Art europäischem Länderfinanzausgleich und letztlich zu einer politischen Union. Und sie hält in der Krise eher eine keynesianische Politik für angebracht als eine prozyklische Politik des forcierten Sparens. Aber die Syriza-Regierung hat nichts dazu beigetragen, die Basis für eine solche Politik in Europa zu verbreitern. Und sie hat zusätzliche Zweifel daran gesät, dass eine weitere Vertiefung der europäischen Integration mit diesem Griechenland und seinen extraktiven Institutionen möglich wäre.

Auch wollte ich nicht gesagt haben, dass die Pomo-Linke immer und überall nur Verwirrung stiften und Schaden anrichten kann. Sie hat ihr relatives Recht und ihren sozialen Ort. Sie spielt eine wichtige, vielleicht unverzichtbare Rolle in sozialen Bewegungen wie Blockupy, die außerinstitutionell Druck machen, (auch) damit sich innerinstitutionell etwas ändern kann. Das Elend mit der Tsipras-Regierung ist nur, dass sich hier die Pomo-Linke ins europäische Verhandlungssystem verirrt hat. Das erklärt teilweise die Verwirrung und Verärgerung der anderen und ihr eigenes Scheitern. Und es wird wohl leider schlimme Folgen vor allem für Millionen Griechen haben – Folgen, die wir zu den sozialen Tatsachen über unser Europa werden addieren müssen, an denen sich nichts ändert, nur weil manche sie nicht wahrhaben wollen.

Bernd Ladwig ist Professor für politische Theorie und Philosophie an der Freien Universtität Berlin, sein Kommentar über die Zukunft Griechenlands ist Teil einer Debatte mit Christian Volk, dessen Replik Sie hier lesen können.

Beide Texte stehen unter einer CC-BY-SA-Lizenz und erschienen ursprünglich auf dem Theorieblog.

Artikelbild: afilitos / flickr / CC BY-NC 2.0

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6 Kommentare zu "Zwei Stimmen zu Griechenland (1)
Warum Syriza gescheitert ist"

  1. Holger sagt:

    “Alles könnte ganz anders sein, wenn wir es nur wollten. Alles ist eine Frage der Kräfteverhältnisse. Alles hängt davon ab, wie wir es betrachten und bezeichnen.”
    “Zu den sozialen Tatsachen gehört zum Beispiel, dass Geld nicht auf den Bäumen wächst und man es auch nicht nach Belieben nachdrucken kann, ohne dass Menschen irgendwann am Wert der Währung zweifeln.”

    Die einzigen zwei Absätze in denen Herr Ladwig zumindest den Kern des Übels streift.
    Der neuen Regierung Schuld am griechischen Drama zu geben…

    da muss ich schon alle meine Hühneraugen zudrücken.

    Die zivilisierte westliche Wertegemeinschaft ist im Schwitzkasten der expotentiell wachsenden Geldmenge durch Zins und Zinseszins.

    Gruß Holger

  2. Beate sagt:

    Die Auflage der Zeitungen bricht immer mehr ein.
    Jetzt verschmutzen sie hier alles.

    Die griechische Regierung hat nie ein Spiel gespielt.

    Es geht ums überleben.

    Merkel hat den NSA-Skandal an der Backe.

    Ihre Berater: “Kochen wir die Griechen ein um abzulenken.”

    Merkel: “Könnten Menschen Sterben?”

    Berater: “Es geht um ihr politisches Überleben.”

  3. Idahoe sagt:

    Nein, es könnte nicht alles anderst sein, es IST anderst.

    Geschaffene Realitäten, wie Geld, Nationen, Staaten, Märkte usw. sind nicht existent, sie sind lediglich ein Konstrukt. Der Mensch kann nur so tun, als ob sie existieren würden. Darauf wird ein Mensch von klein auf konditioniert.
    Sobald der Glaube an diese Konstrukte aufgegeben wird, lösen sie sich SOFORT auf.

    Geldscheine und -münzen sind lediglich die Symbole für Geld, vom Buchgeld ganz zu schweigen. Geld sind Eigentumsrechte, die ein höheres Wesen zur Manipulation aus dem Nichts schöpft, Bei Bedarf in unendlicher Größe.

    Geld ist und war niemals ein Tauschmittel, denn zum Tausch reicht Vertrauen völlig aus, er benötigt keinen Glauben.

    Nur mit massiver Manipulation funktioniert Umverteilung. Kirchentum statt Christentum.

    DAS ist eine Tatsache.

  4. Christoph Stein sagt:

    Nein Herr Ladwig!

    Ich denke, sie projizieren Ihre sicherlich unerfreulichen Erfahrungen aus den FU-Gremien vorschnell auf die griechische Regierung.

    Es gibt keinerlei Hinweise darauf dass etwa Varoufakis an irgendeinen sozialen Konstruktivismus glaubt. Im Gegenteil.
    Ich empfehle Ihnen die Lektüre seines Buches “Der globale Minotaurus”. Er beschreibt dort sehr instruktiv, dass die globalen Geldströme und Kreditverhältnisse alles andere als beliebige soziale Konstrukte sind. Sie sind objektive soziale Tatsachen, die man nur sehr begrenzt und nur schrittweise verändern kann.
    Sein Versuch während der Verhandlungen war, solche schrittweisen Veränderungen in die europäische Debatte einzuführen. Damit ist er gescheitert, da jegliche Veränderungsvorschläge konsequent abgeblockt wurden.

  5. R.N. sagt:

    Zitat:
    Gabriel, Steinmeier, Martin Schulz, Juncker, Dijsselbloem: alles neoliberale Merkel-Knechte?

    Ja, neoliberale Knechte – auch ohne Merkel.

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