Flexibilisierung
Der Plan

Die Denkweise, die die Flexibilisierung der Lebensrealität den Menschen eingepflanzt hat, ist nicht nur demokratiezersetzend, sondern auch unsolidarisch.

Der Plan

Foto: Stephen Chipp / Flickr / CC

Von Roberto de Lapuente

Der Streik der Lokführer ist ein glänzendes Beispiel dafür, wie diese Gesellschaft mit dem reibungslosen Ablauf des Alltagsgeschäfts umgeht. Ist der auch nur für einige Tage behindert, rollen ganz große Geschütze zum Erhalt der Störfreiheit an. Selbst demokratische (Grund-)Rechte ist man bereit aufzugeben.

Diese Gesellschaft liebt ihre Routine. Die Tretmühle, die jeden Arbeitstag gleich ablaufen lässt. Da weiß man gleich, was man hat. Alles geht glatt, man muss geistig nicht flexibel sein und ruht sich in der Struktur der Wiederholung aus. Das ist an sich ja auch nicht schlecht. Gewohnheit tut gut. Gibt Sicherheit. Nur gibt es im Leben keine Garantien. Für so gut wie nichts. Manchmal kann die Routine nicht eingehalten werden. Dann verkleistert die Tretmühle. Nichts mehr klappt wie am Schnürchen. Es gibt Zwischenfälle, die es im menschlichen Miteinander geben kann, weil es nicht kalkulierbar ist.

Diesen Umstand muss der Mensch hinnehmen. Er muss hinnehmen, dass er keinen Anspruch auf absolute Reibungslosigkeit hat. Eine Gesellschaft kann zwar weitestgehend ihren gewohnten Trott einhalten, aber hin und wieder bricht er auf. Sinnvoll wäre es, mit diesen Einschnitten cool umzugehen. Wenn man sich vor Augen führt, dass es die vollkommene Planbarkeit nicht gibt, kann man abgeklärt und gelassen an die Sache rangehen. Wenn nicht, droht wütender Aktionismus.

Diese Gesellschaft scheint sich tatsächlich des Anspruchs verschrieben zu haben, dass alles bis in die kleinste Nische planbar zu sein hat. Tag für Tag. Jeden Monat. 365 Tage lang. Immer derselbe Schematismus. Die Effizienzmaschine brummt. Die Gewohnheit scheint ein Grundrecht zu sein. Denn in dem Augenblick, wo der Plan durchbrochen wird, mal etwas nicht so klappt, wie man es gewohnt ist, fährt der öffentliche Diskurs schwere Geschütze auf. Dann geht es immer um die Deinstallation von demokratischen Spielregeln. Um Beschneidung von Rechten zur Wahrung einer Monotonie, die die herrschenden materiellen Verhältnisse entworfen haben.

Natürlich kann man verstehen, dass viele Menschen erzürnt sind, wenn ihr Trott unterbrochen wird. Sie brauchen ihn. Viele Lebensentwürfe sind heute maßgeschneidert. Durchstrukturiert. Wenn nur eine tägliche Verrichtung nicht im Soll bleibt, purzeln alle anderen Komponenten durcheinander und der Tag wird ein Terminchaos. Familien leben nach Stundenplan. Und es ist lästig, wenn er nicht eingehalten werden kann. Dennoch sind Forderungen, die mit allen Mitteln die Einhaltung der Struktur in den Mittelpunkt stellen, völlig überzogen und gefährlich.

Dass man die Demokratie gegen die Ökonomie auswechseln will, ist ja kein Geheimnis mehr. Wir wissen mittlerweile, dass die Demokratie marktkonform zu sein hat. Aber man darf sich heute nicht mehr vorstellen, dass Konzernbosse und Politiker alleine an dieser Neuausrichtung arbeiten und das Volk nur zusieht. Gerade solche Ereignisse wie Streiks, die auch immer Eingriffe ins Leben von Kunden und Unbeteiligten sind, zeigen auf, dass die Ökonomie auch das Denken ganz unbedarfter Bürger bestimmt. Auch sie beteiligen sich mit an den demokratischen Abrissarbeiten. Ihre Denkweise ist so weit gereift, dass sie ökonomische Lösungen von gesellschaftlichen Fragen demokratischen vorziehen. Und plötzlich debattieren sie über das Streikrecht.

Alle, die den Ablauf stören, sollten demnach auf die Ökonomie verpflichtet werden. Hauptsache, der Laden läuft weiter wie gehabt. Immer weiter. Ohne Unterbrechung. Demokratie ist zuweilen ein unkalkulierbarer Faktor. Die Denkweise, die die Flexibilisierung der Lebensrealität den Menschen eingepflanzt hat, ist nicht nur demokratiezersetzend, sondern auch unsolidarisch. Streikende und die Benachteiligten des Streiks, die ökonomisch betrachtet im gleichen Boot sitzen, verbindet nur noch wenig miteinander. Heute solidarisiert man sich mit dem Trott, der einen bestimmt. Der ist der Nächste. Und dann kommen Sätze dabei heraus wie: »Es gibt kein Recht, andere Menschen zu terrorisieren.«

Wo alle ihrem lückenlosen Ablauf nachlaufen, bleibt keine Zeit mehr, sich mit der Situation anderer auseinanderzusetzen. Es gibt nur noch das eine Ziel: Erledigung der Planung. Und da der Plan so vollgepackt ist, kann man nichts noch so Demokratisches akzeptieren, das die straffe Lebensplanung irgendwie aus dem Takt bringen lassen könnte. Das ist unsere Art zu Leben geworden. Der Plan unserer Existenz. Gerechtigkeitsfragen haben genau deshalb keinen Auftrieb. Das sieht man ganz besonders an den Debatten über die Streikmoral. Gerechtigkeit ist ja keine ökonomische Maßeinheit. Sie kostet eher Zeit. Ist aufwändig. Lästig. Störend. Gerechtigkeit kann man durchaus als nicht effizient einstufen.

Wir haben es nicht nur ständig eilig. Wir vergessen auch in der Eile, was einer Gesellschaft wichtig sein sollte. In der Eile ist die Ökonomie die sicherere Lösung. Denn sie verspricht eine gewisse Ordnung. Die Demokratie ist hingegen ein potenzieller Gefährder. Sie rüttelt manchmal am Plan. An den der Leute und an den, den diese schöne neue Ökonomie die Menschen als alternativlos aufzwingt. Nur die Entschleunigung demokratisiert. Aber wer hat heute noch die Zeit, das Gaspedal seines Lebens nicht ganz durchzudrücken?

Dieser Artikel erschien zuerst auf Ad Sinistram.

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