Hundert Jahre war sie out, die Zusammenbruchstheorie. Doch jetzt denken sogar moderate Wissenschaftler wie Wolfgang Streeck über “das Ende des Kapitalismus” nach.
Von Robert Misik
Der Kapitalismus ist voll der inneren Widersprüche, die sich immer mehr zuspitzen – da ist sich die Linke seit Marx ganz sicher. Komischerweise ist sich die Linke aber überhaupt nicht sicher, was das eigentlich bedeutet: Zuspitzung der inneren Widersprüche. Über die Frage, ob Marx denn die Deutung nahelegte, dass der Kapitalismus vielleicht zusammenbrechen muss (oder ob er vielleicht sogar das Gegenteil nahelegte), darüber streiten Marxologen jetzt schon 150 Jahre und werfen sich Zitate an den Kopf. In jedem Fall aber hat sich der Kapitalismus in der Realität als weit robuster und überlebensfähiger erwiesen, als Marx das wohl angenommen hatte. Als das den Marxisten nach ein paar Jahrzehnten zu dämmern begann, wurde das, was man salopp die “Zusammenbruchstheorie” nannte, auf den Müllhaufen gekippt (gemeinsam mit der “Verelendungstheorie” und anderen etwas zu simpel-eindimensionalen Prognosen). Eduard Bernstein, der enge Freund des alten Marx-Buddies Friedrich Engels, verkündete: “Die Sozialdemokratie hat (…) den baldigen Zusammenbruch des bestehenden Wirtschaftssystems … weder zu gewärtigen, noch zu wünschen.”
Über die Erfolgschancen dieser sozialreformerischen Zähmung (und gleichzeitigen Stabilisierung) des Kapitalismus wurde zwar ohne Pause hitzig weiter debattiert, doch die Frage, ob dieses Wirtschaftssystem “notwendigerweise” seinem Kollaps entgegengehe, war jahrzehntelang bloß noch in halbesoterischen Politsekten ein Thema. Dass der “baldige Zusammenbruch”, wie Bernstein so schön schrieb, “zu gewärtigen” sei, daran glaubte niemand, der seine sieben Sinne beisammen hatte.
Doch nun kehrt sie plötzlich, kaum merkbar wieder zurück: Die Zusammenbruchstheorie. Zunächst in der Welt des Polit- und Ökonomiesachbuchwesens mit dramatischem Einschlag (“Der Crash ist die Lösung” und Ähnliches), zunehmend aber auch in vernünftigeren Kreisen. Nachdem sogar schon Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman die Möglichkeit eines “permanenten Niederganges” erörtert hat, warf nun ein so seriöser Wissenschaftler wie Wolfgang Streeck, der Direktor des Max-Plank-Instituts für Gesellschaftsforschung in einem großen Essay die Frage auf: “How will Capitalism End?” (erschienen in der jüngsten Ausgabe des britischen New Left Review). Streeck hält es für durchaus möglich, dass wir alle zusammen gerade Zeugen der “Todeskrise” des Systems werden, auch wenn uns das noch gar nicht richtig auffällt.
Ist es möglich, dass er recht hat? Der Kapitalismus ist eine stete Flucht nach vorne, der nur funktionieren kann, wenn alle Erlöse morgen höher sind als alle Erlöse heute. Denn alle Einkommen in der Periode X reichen gerade aus, um die Produkte, die in der Periode X hergestellt werden, verkaufen zu können. Nun wollen Unternehmen auch Profite machen und zudem investieren sie auf Pump – damit das für das System als ganzes möglich ist, also in der Periode X+1 mehr Geld im System ist, braucht es Geldausweitung durch Kredit. Solange es ordentliches Wachstum gibt, lassen sich die Schulden aber leicht bedienen. Der Kredit schafft also die Ausweitung der Produktion und die zusätzliche Nachfrage für dieselbe.
Nun funktioniert das alles schon seit Jahrzehnten nicht mehr wirklich gut. Mehrere “Krisensymptome”, schreibt Streeck, seien die Folge: “Das erste ist der anhaltende und dauerhafte Niedergang der Wachstumsraten, das zweite der stetige Anstieg der Verschuldung der führenden kapitalistischen Volkswirtschaften, und zwar der Regierungen, der privaten Haushalte und der Unternehmen (Finanzunternehmen und Nicht-Finanzunternehmen)…” Heute beträgt der Verschuldungsgrad aller Wirtschaftssubjekte in den führenden Industriestaaten zwischen 300 und 400 Prozent des BIP, vor ein paar Jahrzehnten lag der Wert gerade erst bei einem Viertel. Symptom Nummer Drei: “Die wachsende Ungleichheit.” Denn auch die Ungleichheit ist Symptom von Verschuldung, weil die einen Schulden auftürmen, die anderen Vermögen. “Immer geringeres Wachstum, immer höhere Ungleichheit und andauernd steigende Verschuldung sind nicht unendlich tragfähig”, formuliert Streeck und fragt: “Schlägt also jetzt die Todesstunde des Kapitalismus?”
Gewiss: Es ist kein sozialer Agent da (etwa das “revolutionäre Proletariat”, das sich der Marxismus vorstellte), der den Kapitalismus erwürgen würde. Im Gegenteil: Die meisten Leute wären eher froh, wenn die Eliten irgendeinen Plan hätten. Das Problem ist, dass niemand in den Technokratenzirkeln irgendeine Idee hat, wie die ächzende Maschine repariert werden könnte. Mit einem Wort, es geht nicht um Revolution, nicht um utopische Gesellschaftsveränderung, sondern darum, dass er möglicherweise einfach kaputtgeht, der Kapitalismus.
“Das Bild, das ich vom Ende des Kapitalismus habe – ein Ende, von dem ich glaube, dass wir mitten drin stecken -, ist das von einem Gesellschaftssystem im chronischen Verfall”, formuliert Streeck. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade sein Triumph den Kapitalismus möglicherweise in diese Lage gebracht hat. Der siegreiche Kapitalismus “wurde sein eigener schlimmster Feind”. Sozialistische Bewegungen, sozialdemokratische Reform und Keynesianismus hatten wenigstens einen gewissen sozialen Ausgleich gebracht, somit Verschuldungs- und Vermögenswachstum jahrzehntelang gebremst, für stetig wachsende Nachfrage und damit für die nötigen Wachstumsraten gesorgt. Erst mit dem Zusammenbruch der Opposition zum Kapitalismus ist dieses Erfolgsarrangement verblichen, weshalb der Kapitalismus jetzt auch sterbe – gewissermaßen “an einer Überdosis seiner selbst”.
Erstaunlich ist, dass es ja schon seit zwanzig Jahren kaum mehr nennenswertes Wirtschaftswachstum gibt, und das trotz aller schuldengetriebener Blasen-Booms. Die Zusammenbruchserscheinungen sind nun: Eine permanente Quasi-Stagnation mit allenfalls Mini-Wachstumsraten, explodierende Ungleichheit, Privatisierung von allem, endemische Korruption und Plünderei, da normale realwirtschaftliche Profitmöglichkeiten immer geringer werden, ein daraus folgender moralischer Niedergang (Kapitalismus wird mehr und mehr mit Betrug, Diebstahl und schmutzigen Tricks verbunden), ein schwächer werdender, ja, taumelnder Westen, was Desintegrationsprozesse an der Peripherie, Krisen und Brandherde schürt (man denke nur an die dramatischen Krisen alleine dieses Sommers!).
Nun ist all das ökonomisch völlig stimmig, ließe sich aber auch reparieren – durch massive Umverteilung von oben nach unten, Vermögens- und Schuldenreduktion, damit Stärkung der Nachfrage – also, kurzum, mit dem Instrumentarium des klassischen keynesianisch-sozialdemokratischen Arztkoffers. Aber selbst wenn das noch ökonomisch möglich wäre – wie realistisch ist es, dass ein solcher radikaler Sozialdemokratismus auf globaler Ebene durchgesetzt wird, und das noch dazu relativ bald, sagen wir: am kommenden Donnerstag? Sehr unwahrscheinlich, bedenkt man, dass sich die Eliten, blind und besoffen von Gier, schon gegen geringste Vermögenssteuern sperren. Eine “Nach-uns-die-Sintflut”-Mentalität hat sich längst ausgebreitet.
Folgt man Streeck, dann sind wir gerade Zeitgenossen, beteiligte Zuschauer eines Zusammenbruchs. Wobei wir vielleicht unser Bild von “Zusammenbruch” korrigieren müssen, malen wir uns einen solchen vor unserem inneren Auge üblicherweise als Ereignis, als krachenden Kollaps aus, und nicht als Prozess, der aus vielen Ereignissen besteht. Wobei natürlich auch die chronische Katastrophe in einem finalen Ereignis kulminieren kann, etwa, dem Zusammenbruch eines systemrelevanten Finanzinstituts, Schockwellen und Dominoeffekten, bis am Ende nirgendwo mehr Kohle aus dem Geldautomaten kommt. Kann sein, muss nicht sein.
Was danach kommt? Weiß der Geier. Aber vielleicht haben wir ja alle zusammen dann eine chillige Zeit. Verlassen sollte man sich darauf freilich nicht. Vielleicht ist das die finale Gemeinheit des Kapitalismus: Dass man sich nicht einmal auf sein Ende freuen kann.
Der Artikel erschien ursprünglich auf misik.at und steht unter einer CC-Lizenz
Gut, gut. Danke. Nun, Marx kniff die Augen zu, wenns um den wahren Kapitalismus ging, der Arbeiter wie Fabrikanten belastete: die Zinsen-für-nix.
Lenin besetzte und verstaatlichte alles – bloß nicht die Banken.
Und Fräulein von Ditfurth widerspricht nicht dem Papst, der die Schädlichkeit des Wirtschaftssystem geißelt – und sagt doch: nehmt die Hände weg vom System! – sonst sag ich, Ihr wärt Antisemiten.
Dass der Zinskapitalismus explodieren muss, könnte jeder Schüler errechnen – und wird jedem Wirtschaftsstudenten verschwiegen. Das nennt man Wissenschaft.
Nun die Frage ist: Haben wir heute überhaupt noch einen Kapitalismus.?
Im Grunde schon….aber einen völlig entarteten. Eine Art Lobby- und Finanzfaschissmus der sich in einer planwirtschaftlichen Staatssozialismus bequem eingerichtet hat.
Echter Kapitalismus sieht anders aus.!
Ganz treffende Beschreibung des Kuckuckskindes, namens Kaputtalismus. :-)
Geld regiert die Welt? Nicht mal das… Fiktives Geld, eingebildete Schulden, als Mittel zum realen Faschismus. Traurig aber wahr.
Einen Zusammenbruch des Kapitalismus sehe ich nicht. Das Denken in Warenkategorien erlebt immer exzessivere Ausmaße.
Der Mensch selbst sieht sich heute vornehmlich als Ware die sich bestmöglich verkaufen können muß. Alte und junge Weiber gehen deshalb zum Schönheitsklempner. Jungakademiker häufen dutzendweise akademische Titel und Qualifikationen an ohne einen Deut inhaltlich mit den entsprechenden Fachgebieten verbunden zu sein. Und so weiter.
Was folgt daraus? Es existiert nicht mal ansatzweise eine innerliche Distanz zur Marktwirtschaft. Stattdessen ist man selbst bereit sich diesem Wirtschaftssystem (eben der Marktwirtschaft) als Opferlamm darzubieten. Der Mensch hat die Kontrolle übers Wirtschaften verloren und wird zum jämmerlichen erbärmlichen Opfer seiner selbstentwickelten Kategorien. Denn: Beim Wirtschaften geht es ja darum die Güterversorgung zu gewährleisten und nicht darum sich selbst zur Ware zu degradieren um dann auf dem Opferaltar als hübsches Steak zu enden.
Erst wenn man sich vorstellen kann, nicht mehr auf der Basis einer Tauschwirtschaft zu wirtschaften, erst dann wird das nötige Bewußtsein vorhanden sein um sich aus dem gerade beschriebenen Kontrollverlust befreien zu können. Erst dann kann man wieder von der Ware zum Menschen werden.
@QuestionMark
Ihrem Kommentar kann ich durchaus zustimmen…nur eine Frage:
Erst wenn man sich vorstellen kann, nicht mehr auf der Basis einer Tauschwirtschaft zu wirtschaften, erst dann wird das nötige Bewußtsein vorhanden sein
Wie soll man dies verstehen…..”Ich gegen Ware” oder “Ware gegen Ware”.?
Die Güter werden heute über Tausch vermittelt. Typischer Fall wäre der Tausch Geld gegen Ware. (Beispiel: Man geht also in einen Supermarkt und kauft sich eine Packung Vollmilch.)
In diesem System müssen die Mittellosen irgendwie zu Geld kommen. Da diese Leute nichts anderes haben als sich selbst (!Vereinfachung) müssen diese sich am “Arbeitsmarkt” (eigentlich sollte man sagen: “Sklavenmarkt”) verkaufen.
Zusammenfassend: Die Güterversorgung wird über Tausch vermittelt. Das führt zu den ganzen Problemen, da im Rahmen des Tauschprozesses auch die Güter bewertet werden.
Beispiel: Kann man den Liter Vollmilch nicht verkaufen, dann ist er wertlos (und wird dann auch vom Supermarkt weggeworfen). Kann sich ein Mensch auf dem Arbeitsmarkt nicht verkaufen, dann ist er wertlos und wird von der Gesellschaft weggeworfen. (Deutschland ist hier übrigens mit seinen Sozialsystemen ein AUSNAHMEFALL)
Um letzteres zu verhindern (das man weggeworfen wird) putzt sich der Mensch immer mehr raus. Er häuft Titel und Ehren an, setzt den Ellenbogen gegen die Konkurrenten ein und versucht sich so auf dem Markt durchzusetzen. Er sieht sich also als Ware und ist zum Opfer der Warenkategorie geworden. All der materielle Reichtum der ihn umgibt nutzt ihm nichts. Denn er ist ständig bedroht. Schließlich könnte er am Markt entwertet werden (da eine andere Ware beispielsweise begehrenswerter erscheint oder schlicht ein Überangebot an entsprechender Ware existiert).
Nun zu deiner Frage: Wie soll man das verstehen? Rational bedrachtet würde in einem echten sozialistischen System kein Geld mehr vorkommen. Die Güterversorgung wird NICHT mehr über Tausch vermittelt. Also weder Ware gegen Ware. Noch Geld gegen Ware. Die Gesellschaft würde das produzieren was sie braucht. Dazu würden die Produktionsmittel allen zur Verfügung gestellt werden. Du wärst als Einzelner also nicht mehr mittellos. Du hättest ein Recht auf Produktionsmittel und könntest auch auf diese zugreifen ohne das du dich am Arbeitsmarkt gegenüber den Reichen prostituieren müsstest. (Tatsächlich gäbe es letztere nicht mehr; so ein Konstrukt würde keinen Sinn mehr machen)
Die Details eines solchen Systems sind nicht ausgearbeitet. Soweit mir bekannt arbeitet auch niemand daran. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung ist korrumpiert und ignoriert auch nur Denkansätze die in diese Richtung verweisen.
Wieder ein sehr guter Artikel, danke!
Wenn dieser Kreditzyklus zu ende geht kommt so wie immer der nächste… (davor allerdings diese problematische weil (noch) unregelbare Umverteilung von oben nach unten).
“Chillige Zeit” wird es wohl nicht werden. Eine chillige Zeit hätte die Deutschen auch haben können von 1930 bis 1945, sie waren aber lieber rund um die Uhr “fleissig”, in Waffenfabriken oder in Stalingrad und dann beim Wiederaufbau.
Der Mensch kann positiv tätig sein, oder negativ tätig sein, aber er kann scheinbar nicht untätig sein. Da läuft ein genetisches Programm ab welches ihn zwingt etwas “zu tun”, Arbeitslosigkeit als schrecklich zu empfinden und 2 Wochen Urlaub auf jeden Fall mit Stress zu füllen.
Hoffnung gibt die Alterspyramide, ältere Menschen tun sich leichter zu “entspannen”, die Jungend könnte sich in Computerspielen austoben.
Ich glaube fest daran das die “digitale Revolution” mindestens solche Umbrüche bringen wird wie die industrielle Revolution, und das ist gut so!!! (und irgendwann gibts dann einen “ausgreiften nachhaltigen ausgleichenden digitalen Geldfließalgorithmus”, und natürlich Marktwirtschaft!)