Griechenlands Rückkehr an den Kapitalmarkt

Mit Griechenland ist Anfang April auch der letzte Euro-„Krisenstaat“ an den internationalen Kapitalmarkt zurückgekehrt. So weit, so gut. Die Frage ist nur – für wen?

Foto: Craxler/flickr.com/CC BY-NC 2.0

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Von Torben Fischer

Es kommt selten vor, dass eine sozialwissenschaftliche Theorie in der Lage ist, gesellschaftspolitische Phänomene und Problemstellungen passgenau zu erklären. Im Falle der öffentlichen Berichterstattung über die Rückkehr Griechenlands an den internationalen Kapitalmarkt bedarf es jedoch nicht einmal eines gesamten Theoriegebäudes. Es genügt das Konzept der „symbolischen Gewalt“ des französischen Soziologen Pierre Bourdieu.

Unter „symbolischer Gewalt“ versteht Bourdieu „[…] jene Gewalt, die, indem sie sich auf die ‚kollektiven Erwartungen‘ stützt, auf einen sozial begründeten und verinnerlichten Glauben, Unterwerfungen erpreßt, die als solche gar nicht wahrgenommen werden”[1]. Symbolische Gewalt ist gekennzeichnet durch die Anerkennung und gleichzeitige Verkennung von Herrschaftsverhältnissen.[2] Sie manifestiert sich in der Alltagssprache, den Kommunikationsbeziehungen sowie mittels spezifischer Sinn- und Bedeutungszuschreibungen und stellt eine “inkorporierte Form des Herrschaftsverhältnisses”[3] dar.

In seinen Arbeiten identifiziert Bourdieu den neoliberalen Diskurs als Mechanismus „symbolischer Gewalt“, da in ihm Herrschaftsbeziehungen in Sinnbeziehungen verkehrt werden. Dabei gibt sich der neoliberale Diskurs den „Anstrich einer Befreiungsbotschaft“[4]. Begriffe wie „dauerhaftes Wachstum“, „Vertrauen in Investoren“, „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Produktivität“ werden innerhalb des Diskurses positiv besetzt und in den „Erwartungshorizont“ der politischen Akteure, Journalisten und Bürger eingepasst (vgl. ebd.: 185).

Im Schatten “symbolischer Gewalt”: Die Bericherstattung zur vermeintlichen “Greecovery”

Nahezu idealtypisch zeigt sich dieser Mechanismus der Naturalisierung von Herrschaftsverhältnissen in der öffentlichen Berichterstattung über die Rückkehr Griechenlands an den internationalen Kapitalmarkt Anfang April 2014. Die Berichte der deutschen Qualitätsmedien folgten dabei alle einem ähnlichen dramaturgischen Muster: Zunächst wurde die Rückkehr Griechenlands an den Aktienmarkt als Erfolg dargestellt, um sodann Zweifel an der Signalwirkung und Nachhaltigkeit der Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen.

Diese Zweifel liegen in den wirtschaftlichen Fundamentaldaten begründet, die Griechenland heute noch schlechter dastehen lassen als im Frühjahr 2010. So sank die Wirtschaftsleistung von 233,2 Mrd. € (2008) auf 181,7 Mrd. € im Jahr 2013. Im gleichen Zeitraum stieg die Staatsverschuldung von 112,9 % auf 177,3 % des BIP. Zudem liegt die Arbeitslosenquote in Griechenland derzeit bei einem EU-weiten Rekordhoch von 26,7 %. Mit anderen Worten: Die wirtschaftlichen Realdaten geben keinen Anlass dazu, dass die Rendite für die griechischen Anleihen im April 2014 nur mehr bei knapp 5 % liegt, während der Risikoaufschlag vor einem Jahr noch rund 21 % betrug.

Dass es sich bei dem Vorstoß Griechenlands in erster Linie um einen Scheinerfolg handelt, zeigt allein der Vergleich mit den Renditen für die Staatsanleihen anderer Euro-Länder. Demnach kann Griechenland  zwar sehr viel billiger Staatsanleihen emmitieren als noch vor ein paar Monaten, jedoch sind die Kosten für die Rückkehr an den Kapitalmarkt noch immer sehr hoch – vor allem für die griechische Bevölkerung.

Für diese bedeutet der vermeintliche Coup zusätzliche Staatsschulden, da Griechenland die benötigten Milliarden auch aus der jüngst genehmigten Kredittranche der Troika hätte erhalten können und dies zum Nulltarif. Anstatt dessen wählt die griechische Regierung unter Premier Antonis Samaras den teuren Umweg über die Finanzmärkte, auch – so die Argumentation –, um sich wieder unabhängiger von der Troika und der durch sie überwachten Austeritätspolitik zu machen. Ernst nehmen kann man diesen Versuch aktuell jedoch kaum, denn es ist ein offenes Geheimnis, dass die Investoren nur aus zwei Gründen in griechische Staatsanleihen investieren: Erstens ist die Rendite weitaus höher als bei vergleichbaren Staatsanleihen anderer Euro-Länder und zweitens haben die Märkte noch immer EZB-Chef Mario Draghi im Ohr, der im Juli 2012 sein Versprechen gab, alles zutun um den Euro und die Eurozone in ihrer derzeitigen Konstellation zu retten. Dies bedeutet: Die EZB und Euro-Staaten, die über den Rettungsfonds ESM einen Großteil der griechischen Schuldtitel besitzen, würden bei einer Zahlungsunfähigkeit Griechenlands die entstandenen Verbindlichkeiten begleichen und zwar – so hat Bundeskanzlerin Merkel mehrmals bekräftigt – ohne eine Beteiligung privater Gläubiger wie beim ersten Schuldenschnitt im Jahr 2012.

Die Perspektivfrage als Machtfrage

Die Rückkehr Griechenlands an den Kapitalmarkt stellt für die griechischen und europäischen Bürger somit keine realwirtschaftliche Kehrtwende, sondern eine teuer erkaufte Werbekampagne um Investoren im Vorfeld der Europawahlen dar. In dieser Deutlichkeit werden die Sachverhalte in den Qualitätsmedien jedoch nur selten dargestellt. Vielmehr überwiegt ebenjene neoliberale Rhetorik, die Bourdieu in seinen Analysen als Form „symbolischer Gewalt“ identifizierte. Beispielsweise, wenn der Ökonom Prof. Martin Hellmich (Frankfurt School of Finance), in einem auf tagesschau.de veröffentlichten Interview, Griechenland ein „attraktives Risikoprofil“ für Anleger attestiert und bilanziert, dass die Finanzmärkte wieder dazu bereit seien, den südeuropäischen Ländern zu „attraktiven Konditionen“ Geld zu leihen. Es ist die Perspektive der Investoren, die hier dominiert und nicht der Blick auf die möglichen Konsequenzen für die europäischen Bürger.

Auch der Kommentar von Ellen Ehni für die “Tagesthemen” bleibt, trotz der Bezugnahme auf die Ambivalenz hinter den Anleihekäufen und die mit diesem Schritt verbundenen Risiken für die öffentlichen Gläubiger, im Duktus des neoliberalen Diskurses gefangen. Denn auch bei Ehni tritt der Souverän lediglich in Form des Steuerzahlers in Erscheinung. Im Mittelpunkt steht die Leistungsbilanz eines Staates, der noch immer nicht wettbewerbsfähig genug sei und dessen Bürger weiterhin durch eine „miese Steuermoral“ glänzen würden. Diese Einschätzung, so zutreffend sie auch sein mag, muss sich für die griechische Bevölkerung wie ein weiterer Schlag ins Gesicht anfühlen, denn selbst die als wirtschaftsliberal geltende OECD bescheinigte Griechenland 2013 eine noch nie gesehene Rekordkonsolidierung der öffentlichen Finanzen. Doch davon ist in dem Kommentar keine Rede. Unterm Strich bleibt der Eindruck bestehen, dass Griechenland seine Anstrengungen weiter erhöhen muss, da es sonst „Europa“ noch teuer zu stehen kommen wird.

Wirklich entlarvend ist das Interview des Investmentbankers Andrew Bosomworth auf Zeit Online. Darin stellt Bosomworth in einer wünschenswerten Deutlichkeit dar, für wen und in welchem Sinne sich die Austeritätspolitik als Erfolg erwiesen hat:

„Und sollte es trotz alledem noch einmal zu einem Schuldenschnitt [in Griechenland, Anm. TF] kommen, wird es höchstwahrscheinlich auch nur die öffentlichen Geldgeber –also letztlich die Steuerzahler – treffen. Das Risiko der privaten Investoren ist deshalb überschaubar.“

Die griechische Krise, die wir kaum sehen

Immerhin attestiert Bosomworth der griechischen Bevölkerung, einen “hohen Preis” für die Strukturanpassungen bezahlt zu haben. Wie hoch dieser Preis ist, hat der griechische Journalist und Autor Nick Malkoutzis in einem Blog-Beitrag („The Greek crisis we don’t see“) zusammengetragen:

„According to the latest figures from the Hellenic Statistical Authority (ELSTAT), 34.6 percent of the population was considered to be living at risk of poverty or social exclusion in 2012. This is the highest proportion in the European Union. This figure stood at 27.7 percent in 2010, when the crisis broke out. […] Greek household disposable income has dropped by more than 30 percent since the crisis began. […] Demand for mental health services has increased by more than 100 percent. According to a study by the University of Athens, 12.3 percent of Greeks are suffering from clinical depression at the moment, compared to just 3.3 percent in 2008.“

Man würde der deutschen Berichterstattung Unrecht tun, wenn man behaupten würde, dass sie die sozialen und politischen Kosten der Schuldenkrise völlig ignoriert. Portraits von Einzelschicksalen gibt es immer wieder. Dies scheint auch der einzig gangbare Weg, denn das Jonglieren mit Zahlen und Statistiken im Milliardenbereich ist selbst für die politisch Verantwortlichen kaum mehr in die eigene Lebenswelt zu überführen. Das menschliche Vorstellungsvermögen muss vor dem Abstraktionsgrad der Krise schlichtweg versagen. Denn wer kann wirklich beurteilen, welche Wirkung eine Jugendarbeitslosigkeit von ca. 60 % auf die Psyche einer ganzen Generation hat? Oder imaginieren, was es für das Schicksal eines Landes heißt, wenn die Staatsverschuldung bei 303,9 Mrd. € liegt?

Das Europaparlament als zentrales Korrektiv

Im Sinne des Bourdieu’schen Konzepts der „symbolischen Gewalt“ ist die hier punktuell dargestellt Kritik an der medialen Berichterstattung in eine generelle Kritik des neoliberalen Diskurses zu übersetzen, die sodann in der eigentlich sehr simplen Frage mündet: Wem nützt der jetzige Gang Griechenlands an die Kapitalmärkte denn wirklich?

Im Europäischen Parlament nahmen sich dieser Frage zuletzt indirekt gleich zwei Ausschüsse – der ECON-Ausschuss und EMPL-Ausschuss – an. In den von den Ausschüssen vorgelegten Berichten wurden einerseits die makroökonomischen und andererseits die sozial- und beschäftigungspolitischen Auswirkungen der von der Troika überwachten Anpassungsprogramme  untersucht. Das Fazit der beiden Berichte ist, man kann es kaum anders sagen, vernichtend. Sie decken die zerstörerischen Auswirkungen der „vertrauensbildenden“ Reformpolitik auf und zeigen wie nachhaltig die soziale und wirtschaftliche Substanz nicht nur in Griechenland, sondern auch in den anderen vier Programmstaaten (Spanien, Irland, Portugal und Zypern) beschädigt wurde. Die Empörung der EU-Parlamentarier über das Ausmaß der sozialpolitischen Selbstamputation Europas klingt auf Seite 25 des EMPL-Ausschussberichts hörbar nach, wenn es in einer der zentralen Empfehlungen heißt:

„Die Troika und die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die Programme schnellstmöglich zu beenden und Mechanismen zur Krisenbewältigung einzurichten, mit denen die Transparenz bei der Entscheidungsfindung verbessert wird und die es den Organen der EU, einschließlich des Parlaments, erlauben, die in den Verträgen und der Europäischen Sozialcharta sowie den Kernnormen der IAO enthaltenen sozialen Ziele zu erreichen, und es wird darauf verwiesen, dass die mangelnde Einhaltung einen Verstoß gegen das Primärrecht der EUdarstellt, dem abgeholfen werden muss, in dem die individuellen und kollektiven Rechte uneingeschränkt wieder eingesetzt werden.“

Man sollte allen EU-Bürgern diese Empfehlung per Briefpost nach Hause, per Email auf den Computer oder als Twitter-Nachricht auf das Smartphone senden. Ein besseres Argument für die existenzielle Bedeutung des Europäischen Parlaments und die hochgradige Relevanz der aktiven Beteiligung an der Europawahl kann und wird es bis zum 25. Mai 2014 nicht geben.

Der Artikel ist ein Crosspost vom Blog Opni.eu

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[1] Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft: Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 174.

[2] Vgl. Moebius, Stephan/Wetterer, Angelika (2011): Symbolische Gewalt, in: ÖSZ 36, S. 2 f. URL: http://download.springer.com/static/pdf/739/art%253A10.1007%252Fs11614-011-0006-2.pdf?auth66=1398112979_dde0a2527279b58eafc00373941dde8c&ext=.pdf (21.04.2014)

[3] Bourdieu, Pierre (1997): Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling und Beate Krais (Hrsg.): Ein alltägliches Spiel: Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 164.

[4] Bourdieu, Pierre (2007): Das Modell Tietmeyer, in: Joseph Jurt (Hrsg.): Absolute Pierre Bourdieu, Freiburg: Orange-Press, S. 186.

Foto: Craxler/flickr.com/CC BY-NC 2.0

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2 Kommentare zu "Griechenlands Rückkehr an den Kapitalmarkt"

  1. Toralf sagt:

    Der Darstellung zustimmend muss nun zur Kenntnis genommen werden, dass die Wahlentscheidung der Bürger für die Staatsregierungen bei der Vergabe der Spitzenposten in der EU-Verwaltung erst einmal uninteressant scheint. Das Parlament ist gewählt, aber über den EU-Vorsitz entscheiden die Regierungen der Länder. Insofern kann nur von einem geringen Einfluss des Korrektivs EU-Parlament ausgegangen werden, was die Attraktivität des Wählens für EU-Bürger noch weiter beschränkt.

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