“Liken” im Wahlkampf

Das fanatische Lechzen nach „Likes“ ist zum Merkmal der Trivialisierung von Politik in Online-Netzwerken geworden. Parteifunktionäre scheinen ihren kritischen politischen Sachverstand, so er denn vorhanden ist, nach dem Log-In abzugeben.

Liken

Foto: Katie Sayer / Flickr (CC BY-SA 2.0) / Modifiziert vom Original

Von Florian Sander

Wahlkämpfe sind stets besondere Herausforderungen für Parteien und deren Unterorganisationen. Es gilt, dem Volk Politik zu vermitteln und zu erklären. Da am Wahltag jede Stimme zählt, kann man dabei prinzipiell niemanden außen vor lassen und muss komplexe Sachverhalte unweigerlich auf leichter verständliche Formen der Darstellung reduzieren und vereinfachen. Anders geht es kaum. Oft jedoch nimmt die Art der Komplexitätsreduktion Ausmaße an, die nicht mehr im Bereich dessen liegen, was einer Demokratie gut tut.

In solchen Fällen geht es dann weniger um die Frage spezifischer Inhalte oder Programmatik, sondern vielmehr darum, wie und vor allem von wem diese auf welche Weise vertreten werden. Konkreter gesagt: In dem Bestreben, gewissermaßen auf-Teufel-komm-raus eine Form von „Übersichtlichkeit“ selbst für den am meisten undifferenziert denkenden potenziellen Wähler herzustellen, kristallisiert sich eine Art unterkomplexer Geschlossenheits-Fetischismus heraus, der, nüchtern betrachtet, in Teilen Formen annimmt, die man fast nur noch als albern bezeichnen kann.

Besonders gut lässt sich dieses Phänomen in sozialen Netzwerken wie natürlich insbesondere Facebook beobachten, wo sich gerade in Wahlkampfzeiten Parteien, Kandidaten, Abgeordnete und andere Politiker massenhaft tummeln und ihre Botschaften verkünden. Das alleine übrigens – man verstehe mich hier nicht falsch – ist nicht nur absolut legitim, sondern sogar sicherlich auch ein Kennzeichen lebendiger Demokratie im 21. Jahrhundert, keine Frage. Schaut man sich dann allerdings die konkrete Ausgestaltung dieser Online-Präsenz an, so fragt man sich dann doch gelegentlich, für wie blöd die betreffenden Akteure die Wähler eigentlich halten.

Den Phrasen keine Grenzen gesetzt

Signifikantestes Merkmal dieser gezielten Trivialisierung von Politik in Online-Netzwerken ist das beinahe fanatische Lechzen nach „Likes“. Nicht wenige Parteifunktionäre scheinen ihren kritischen politischen Sachverstand, so er denn vorhanden ist, nach dem Log-In abzugeben. Es wird auf „Gefällt mir“ geklickt, was das Zeug hält – keine noch so stumpfe Meldung ist dann zu schade. Die Sahne auf dem Törtchen: Der kurz-knackige Kommentar darunter, der dann auch nochmal Mit-Leser anlocken und diese zu einem „Like“ motivieren soll. Jemand postet ein Bild von einem Info-Stand? Klare Sache – da fehlt nur noch die richtige Überschrift! Darüber steht dann: „Heute Infostand gehabt. Viele Luftballons verschenkt, gute Gespräche gehabt. Es geht voran, eine runde Sache!“ Darunter glänzt sodann der obligatorische Kommentar des Parteikollegen: „Tolles Engagement!“. Schnell „ab-liken“, das Ganze. Und weiter posten. Die Sonne schien beim Infostand? „Das Wetter war mit uns, gutes Omen!“ Es hat geregnet? „Leider etwas kalt und nass draußen, aber wir lassen uns nicht beirren!“. Den Phrasen sind keine Grenzen gesetzt. Posten, posten, posten. Liken, liken, liken. Kommentieren. Den Kommentar liken. Und immer so weiter.

Dass die inhaltliche Aussage in all diesen politisch-philosophischen Leuchttürmen gleich null ist, dass die Wetterlage wohl nur die wahlweise schwitzenden oder frierenden Parteikollegen interessiert, dass „gute Gespräche“ alles und nichts bedeuten kann und nichts über das Ergebnis dieser und die Argumente in ihnen aussagt und dass „Engagement“ an sich auch erst dann toll sein kann, wenn klar wird, welchem Zweck es dient – egal. Inhal… was? Was war das noch? Posten nicht vergessen! Liken! Kommentieren! Kommentar liken!

Rückzug in die Gruppenidentität

Man bekommt den Eindruck, man hat es nicht mehr mit politisch (ja doch irgendwie… zumindest… manchmal…) denkenden Menschen zu tun, sondern mit Polit-Robotern, die in einem kollektiven Kurzschluss alle paar Jahre zu mit menschlicher Haut überzogenen Fließbandmaschinen mutieren, die in dem organisational verordneten Geschlossenheits-Wahn alles abnicken, loben und liken, was ihnen gerade so vorgesetzt wird.

Der Leser dürfte hier merken, dass selbst der politikwissenschaftlich geschulte Autor dieses Textes diesen Vorgängen noch immer und noch nach vielen Jahren politischen Engagements (!) mit einer gewissen Irritation begegnet. Dennoch gilt: Diese Vorgänge sind kein Zufall, sondern Ergebnis eines sozialpsychologischen Vorgangs, den der Psychologe Irving Janis als „Groupthink“ bzw. „Gruppendenken“ bezeichnet hat.

Dieser Ansatz zeigt auf, wie Gruppen aus verschiedensten sozialen Kontexten, seien sie politisch, wirtschaftlich, familiär oder Interaktionssysteme anderer Art, den Grad der Integration des Einzelnen in diese Gruppe mit steigender Abschottung nach außen erhöhen und sich innerhalb der Gruppe die Mitglieder an eine zugerechnete, d. h. erwartete Gruppenmeinung anpassen. Dies führt in der Konsequenz dann zu schlechten und falschen Entscheidungen, die mit der Realität außerhalb der Gruppe nichts oder wenig zu tun haben.

Dieses Phänomen erleben wir in und bei wahlkämpfenden Parteien geradezu in Reinkultur. Der Grad der Abschottung nach außen nimmt bei Parteien zu Wahlkampfzeiten logischerweise besonders ausgeprägte Formen an, da die anderen Parteien, selbst die potenziellen oder tatsächlichen Koalitionspartner, umso mehr als Gegner, teilweise gar als Feinde wahrgenommen werden, von denen es sich deutlich abzugrenzen gilt. Da Fremdbeschreibung schnell zur Selbstbeschreibung wird, ist dies schon bald nicht mehr nur Rhetorik, sondern tatsächlich für die Gruppenmitglieder prägend.

Je mehr diese Wahlkampf-Abschottung zunimmt, desto mehr steigt auch der Grad an Gruppen-Integration. Hier setzt der Geschlossenheits-Wahn ein: Wir gegen die. Die sind die Blöden, wir die Erleuchteten. Wir müssen zusammenhalten gegen die anderen. Eine soziale Dynamik, in der gemäß der Groupthink-These das unkritische Übernehmen scheinbarer Mehrheitsmeinungen Konjunktur hat. In dieser Situation wird nicht mehr hinterfragt. In dieser Situation gilt: Die Partei hat recht. Die Partei, das sind in diesem Fall die sie leitenden Gremien und deren Mitglieder auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Hinterfragen kann man später; jetzt gilt es, sich der dominanten Position anzuschließen und diese nach außen zu verkaufen. Posten. Liken. Kommentieren. Kommentar liken. Und so weiter.

Kugelschreiber-Dschihad

Die äußere Welt und sachliche Einwände dringen in diesen Phasen nicht mehr durch. Parteien und ihre Mitglieder steigern sich hinein in die ihnen vorgegebene Welt und sei diese noch so verschieden von der äußeren. Argumentation? Störend. Daher nur: „Gute Gespräche“. Wer nicht sagt, wie und mit wem und worüber diese verliefen, muss sie auch nicht rechtfertigen, hinterfragen oder potenzielle Gegenargumente in diesen Gesprächen darstellen. Oberflächlich bleiben. Kein Risiko eingehen – könnte dem Gruppendenken schaden!

Intelligenz ist gemeinhin gleichzusetzen mit differenziertem Denken. Intelligenz bedeutet nicht zuletzt, Dinge (Daten, Wissen, Informationen) auseinanderhalten und dann an den richtigen Punkten wieder verknüpfen zu können. Groupthink bzw. Wahlkämpfe wirken organisational und schließlich auch individuell entdifferenzierend: Man trennt nicht mehr, hinterfragt nicht mehr, differenziert nicht mehr nach Inhalten. Etwas ist entweder gut (wenn es der Partei dient) oder schlecht (wenn es dies nicht tut). Das Parteimitglied im Wahlkampf fällt zurück auf einen primitiv anmutenden Gut-Schlecht-Dualismus, der sich im Kern von dem eines Taliban bestenfalls dadurch unterscheidet, dass der Wahlkampf-Aktivist als solcher Kugelschreiber verschenkt und keine Menschen tötet. Dies allerdings dafür genauso überzeugt und auf die gleiche Weise „motiviert“. Der Kugelschreiber-Dschihad des deutschen Infostand-Taliban schlägt alle paar Jahre gnadenlos und unausweichlich zu.

Die sozialpsychologischen Mechanismen hinter dem „klassischen“ islamistischen Taliban und dem glühenden Wahlkampf-Aktivisten unterscheiden sich voneinander nur marginal. In beiden Fällen führen sie zu kollektiver und in der Konsequenz dann zu individueller mentaler Entdifferenzierung und Trivialisierung des Denkens, was man populär ausgedrückt auch einfach als politische Verblödung umschreiben könnte.

Man kann im Grunde nur darauf hoffen, dass sich die Anzahl der Wahlkämpfe in der Zukunft – evtl. durch verstärkt zusammengelegte Wahltermine – häufiger in Grenzen hält als dies bisher der Fall war. Es würde dem Niveau der politischen Auseinandersetzung gut tun. Sehr.

So und nun: Posten. Liken. Kommentieren. Kommentar liken. Und so weiter. Sie wissen schon.

Florian Sander ist Politikwissenschaftler, Promotionsstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) und politisch für die FDP aktiv.

Artikelbild: Katie Sayer / Flickr (CC BY-SA 2.0)/ Modifiziert vom Original

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Ein Kommentar zu "“Liken” im Wahlkampf"

  1. Karl sagt:

    Schön beobachtet.
    Ja, diese Vermassungs-Erscheinungen können in die Hölle führen (Faschismus, Stalinismus) un d sie gibts abseits der Wahlkämpfe bei jedem Fußballspiel etc.

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