Weltmarkt, Globalisierung und bürgerlicher Staat
Als Weltmarkt wurde traditionell die Gesamtheit der externen Austauschbeziehungen der Volkswirtschaften (Importe und Exporte von Waren und Dienstleistungen sowie zugehörige Finanzströme) bezeichnet. Die „Globalisierung“ oder „Mondialisation“ soll demgegenüber etwas Neues darstellen (Conert 2002). Aus ökonomischer Sicht wird postuliert, dass sich, ausgehend von der Finanzsphäre, ein die Volkswirtschaften dominierender, politisch und kulturell „entbetteter“, völlig verselbständigter Weltmarkt gebildet habe, der von den ökonomischen Aktivitäten der transnationalen Unternehmungen, den „global players“ getragen werde und dem zwar verschiedene supranationale Institutionen – Weltbank, Internationaler Währungsfonds, Welthandelsorganisation – aber kein bürgerlicher Staat gegenüber stünden.
Insbesondere der vereinheitlichte Weltfinanzmarkt gebe faktisch die maßgeblichen ökonomischen Entscheidungskriterien vor, der sich die Volkswirtschaften, die Unternehmungen und auch die Staaten zu beugen hätten. Die nationalen bürgerlichen Staaten seien geschwächt, der Weltökonomie untergeordnet und zum betriebswirtschaftlich orientierten „Wettbewerbsstaat“ transformiert worden. Wenn selbst rentable Unternehmen geschlossen und verlagert werden, weil andernorts eine noch höhere Rentabilität erwartet werde, dann müsse dies hingenommen werden. Eine staatliche Lenkungsfunktion im keynesianischen Sinne sei nicht mehr denkbar. Einzig möglich sei nur noch die Herstellung wettbewerbsfähiger Rahmenbedingungen. Es gebe, und zwar unabhängig von der Frage, ob dies vernünftig sei oder nicht, nur noch eine einzige Möglichkeit, nämlich sich zu bemühen, in diesem weltweiten Wettbewerb möglichst erfolgreich zu werden.
Und dies ist tatsächlich das Credo der aktuellen Politik in Deutschland, sowohl seitens der traditionellen bürgerlichen Parteien als auch der derzeitigen Regierungsparteien, der Sozialdemokratie und der Grünen. Nuancierungen gibt es zwar, aber diese sind von nur begrenzter Bedeutung, und sie werden oft in irreführender Weise parteipolitisch aufgebläht.
Wesentliches Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass den Wählern eine wirkliche inhaltliche Wahlalternative fehlt; sie quittieren das weitestgehend ohne Verständnis und reagieren mit Frustration, Ratlosigkeit, Wahlenthaltung, oder mit Protestwahlverhalten. Kaum verhüllte Rat- und Hilflosigkeit ist aber allem Anschein nach quer durch die Parteien weit verbreitet; und es ist dies nicht das unbedeutendste Moment der politischen Krise.
Als eine der Alternativen wird seit langem gefordert, diesen Prozess der durch ökonomische Globalisierung bedingten Schwächung des bürgerlichen Staates rückgängig zu machen und/oder ihm auf einer höheren Ebene, etwa der der Europäischen Union, zu begegnen. Durch „Re-Regulierung“, die die tendenzielle Weiterentwicklung der EU zu einem Bundesstaat voraussetzt, wäre aus dieser Sicht der Versuch zu unternehmen, die Möglichkeiten der politischen Steuerung auf zentraler Ebene zurück zu gewinnen (Röttger 1997).
Allerdings geben die demokratischen Defizite der Europäischen Union in diesem Zusammenhang Anlass zur Skepsis. Wenn auch die Tatsache, dass nunmehr ein – mittlerweile wohl als gescheitert anzusehender – Verfassungsvertragsentwurf für die Europäische Union vorliegt (Winkler 2005), prinzipiell wohl positiv einzuschätzen ist, bleiben doch erhebliche Bedenken, einerseits wegen dessen einseitig neoliberaler Prägung, andererseits wegen der teilweise fehlenden Volksabstimmungen und damit der fehlenden Basislegitimation.
Die Strategie der Demokratisierung
In der heutigen Ära der „Dominanz der Vermögensbesitzer“, einer wirtschaftlichen Stagnation, einer dauerhaften Massenarbeitslosigkeit und der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben haben sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse so verändert, dass nicht nur ein Prozess der Reallohnsenkung und ein Rückbau des Sozialstaats vorangetrieben werden kann, sondern auch die Demokratie selbst unter Druck gerät. Denn der langfristig anhaltende Umverteilungsprozess von unten nach oben setzt tendenziell voraus, dass die betroffene große Minderheit oder sogar Mehrheit darin gehindert wird, eine demokratische Gegenmacht zu bilden, mit der dieser Prozess gestoppt
werden könnte.
In Deutschland lässt sich empirisch feststellen, dass die Freiheitsrechte der Staatsbürger gegenüber dem Staat einem langfristigen Erosionsprozess unterliegen, und dieser Prozess wird durch jede neue, in der Regel durchaus reale Gefährdung der Sicherheitslage verstärkt, eine Tendenz, die besonders von linksliberaler Seite völlig zu Recht immer schon kritisch beobachtet und bekämpft worden ist (Probleme z.B.: Großer Lauschangriff; z. Zt. geplante Zusammenführung von Polizei und Geheimdienst).
Die Aushöhlung der staatsbürgerlichen Schutzrechte schafft, nicht unbedingt der Absicht nach, wohl aber faktisch die Voraussetzungen für einen erneuten Verlust der Demokratie, vielleicht in der Weise, dass die Demokratie zwar nominell noch bestehen bleiben mag, der Inhalt aber ersetzt sein wird durch eine ebenso elitäre wie autoritäre kapitalorientierte politische Herrschaft; die jüngere bildungspolitische Entwicklung mit ihrer charakteristischen Beseitigung der Partizipation in den Hochschulen deutet beispielsweise klar in diese Richtung (Buchholz/Hellweg/Schiller 2004).
Als anderes Beispiel mag uns der höchst bedenkliche derzeitige Zustand der italienischen Demokratie warnen, in der eine dubiose Parteienkonstellation unter Einschluss der Neofaschisten die Regierung stellt und sich im permanenten Konflikt mit der eigenen Justiz befindet: angesichts der Massenarbeitslosigkeit und der ökonomischen Stagnation handelt es sich hierbei um ein Menetekel auch für andere europäische Demokratien.
Im Freiheitsinteresse, aber auch im ökonomischen Interesse der großen Mehrheit der Staatsbürger muss daher vor allem dieser Tendenz eines weiteren Substanzverlustes der Demokratie entgegengewirkt werden, indem zuerst Widerstand gegen die weitere Aushöhlung von Grundrechten geleistet wird, und sodann, indem die Funktionsweise der repräsentativen Demokratie basisdemokratisch reformiert wird, z. B. im Hinblick auf den abgehobenen Status der Abgeordneten und die verselbständigte Rolle der Parteien, das zu wenig basisdemokratische Wahlrecht und die Bewahrung der vorhandenen institutionellen Partizipationsrechte, insbesondere der Mitbestimmung. Es ist das Verdienst des Staatsrechtlers Hans Herbert von Arnim, hierzu in zahlreichen Publikationen Kritik vorgetragen und konkrete Vorschläge unterbreitet zu haben, an die jederzeit angeknüpft werden kann.
Voraussetzung für den Erfolg wird jedoch sein, dass der passive, sich überwiegend nur in Wahlenthaltung manifestierenden Widerstand des Wahlvolks in Lernprozesse und aktivere Formen des Widerstands übergeht. Gegen den medial vermittelten Schein der angeblichen Alternativlosigkeit der Politik müssen aber, um die Desorientierung und die Resignation zu überwinden und um populistische Risiken zu vermeiden, erst einmal neue und zukunftsfähige Wege der Politik öffentlich aufgezeigt werden.
Der bürgerliche Rechtsstaat muss nicht notwendigerweise auch ein demokratischer sein. Er wird vielmehr überhaupt nur demokratisch, oder er bleibt es, soweit der Anspruch auf Demokratie von der Bevölkerung in der politischen Praxis zur Geltung gebracht wird. Dieser fundamentale demokratische Gestaltungsanspruch muss, um eine fortschrittliche gesellschaftliche Entwicklung zu ermöglichen, nicht nur aufrechterhalten, sondern offensiv verfochten werden.
Perspektivisch gilt, dass die halbierte Demokratie weiterentwickelt werden muss, indem – entgegen der gegenwärtigen Tendenz – Demokratisierungsprozesse auf die gesamte Gesellschaft und auf alle ihre Ebenen ausgedehnt werden. Es geht erstens darum, der Tendenz zu einer autoritären Herrschaft, vielleicht in Gestalt eines „Verordnungstotalitarismus“, entgegen zu wirken, zweitens die Gesellschaft zu befähigen, den sie – zu ihrem materiellen und kulturellen Schaden – praktisch wie ideologisch beherrschenden Ökonomismus zu überwinden, und drittens einen Entwicklungspfad in Richtung auf den Abbau politischer, sozialer und ökonomischer Ungleichheit zu öffnen.
Foto auf der Startseite: Jesus Solana, “Go Spanish revolution! / Indignados!”
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Quelle: www.piqs.de
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Literatur
Anderson, Perry (1979), Die Entstehung des absolutistischen Staates, Frankfurt/Main
Bofinger, Peter (2005), Wir sind besser, als wir glauben, München
Buchholz/Hellweg/Schiller (2004), Geschichte der Fakultät Wirtschaft (Hildesheim) an der Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen, in: Jahrbuch 2005 des Landkreises Hildesheim, S.145 ff.
Conert, Hansgeorg (2002), Vom Handelskapital zur Globalisierung, Münster, S. 340 ff.
Galeano, Eduardo (1989), Die offenen Adern Lateinamerikas, 7. Aufl., S. 20 ff.
Gerstenberger, Heide (1990), Die subjektlose Gewalt: Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster
Hödl, Erich (1986), Der Staat in der keynes´schen Theorie, Wuppertal, Arbeitspapiere des FB Wirtschaftswissenschaft der Universität – Gesamthochschule Wuppertal, Nr. 101.
Hoffmann, Jürgen (2000), Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur – Grundzüge deutscher Gesellschaftsgeschichte, 2. Aufl., Münster, S. 14 ff.; Hoffmann stützt sich auf Gerstenberger (1990).
Huber, J./Kosta J.(1978), Wirtschaftsdemokratie in der Diskussion, Frankfurt/Main
James, Harold (200), Der Rückfall, München
Keynes, J. M. (1936 [1974] ), Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin; vgl. zur langen Frist: Kap. 24
Krieser, Hannes (1990), Gesellschaftsordnung, feudale, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, Hg. Hans Jörg Sandkühler, Hamburg, S. 405 ff.
Marx, Karl (1890 [1972] ), Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie, Erster Bd., 13. Kapitel., S. 391 ff.; 24. Kapitel, S. 741 ff.; vgl. ferner Marx, Karl / Engels, Friedrich (1974), Staatstheorie, Frankfurt/Main – Berlin – Wien
Motteck, Hans (1973), Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, Berlin, S. 119 ff.
Müller/Neusüß (1971), Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, in: PROKLA, Juni 1971, S. 7 ff.
Naphtali, F. (1928 [1977] ), Wirtschaftsdemokratie, 4. Aufl., Frankfurt/Main
Neumann, Franz (1984), Behemoth – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 44
Poulantzas, Nicos (2002), Staatstheorie, Hamburg, S. 154 ff.
Reinhard, Wolfgang (1999), Geschichte der Staatsgewalt, München, S. 479
Röttger, Bernd (1997), Neoliberale Globalisierung und eurokapitalistische Regulation, Münster; ergänzend zur Entwicklung der Staaten der Peripherie: Zerfallende Staaten, Aus Politik und Zeitgeschichte(APuZ), Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 28-29/2005.
Zu beobachten ist, dass sich in den Metropolregionen einzelne Staaten mehr oder weniger imperial etablieren und viele andere geschwächt werden, während zugleich Staaten der Peripherie vielfach sogar einem Zerfallsprozess unterliegen.
Rotermundt, Rainer (1997), Staat und Politik, Münster, S. 174
Winkler, H. A.,(2005): Grundlagenvertrag statt Verfassung, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni 2005, S. 8
Der Blick nach Italien verstellt meines Erachtens den Blick darauf, dass sich die Verhältnisse dort nicht so wesentlich von den hiesigen unterscheiden. Colin Crouch prägte den Begriff der Postdemokratie im Hinblick auf einen Italienaufenthalt, wenn ich mich recht entsinne, meinte aber damit durchaus auch den Zustand der übrigen Demokratien in Europa.
Der Neoliberalismus hat insofern ganze Arbeit geleistet, wollte er doch die Entthronung der Politik (Hayek) vorantreiben. Dem die Stärkung der Demokratie entgegenzuhalten, erscheint nur folgerichtig, allein es fehlt an interessierten Demokratinnen in diesem Lande. Wer wäre denn die Zielgruppe eines demokratischen Aufbruchs?
Was die Wirtschaftspolitik angeht, könnte ich mit keynesianisch orientierter Vollbeschäftigungspolitik als Übergang leben. Bislang habe ich jedoch noch keine Analyse aus dieser Richtung gelesen, die den veränderten Machtverhältnissen im Zuge der Globalisierung ausreichend Rechnung trägt. Genausowenig fand ich bisher einen selbstkritischen Blick auf das Versagen der keynsianischen Politiken gegenüber dem Phänomen der Stagflation.
Es wäre ja schon ein Anfang, würde man heute darauf achten, daß für die Zukunft der Demokratie auch das räumliche Existenzrecht gedanklich eingeräumt würde. Bisher darf sie ja nur als Verkaufsvokabel existieren.
Genau: http://mosereien.wordpress.com/2012/08/15/wir-mussen-die-maerkte-beruhigen/