Bürgerlicher Staat und Demokratie
Die bürgerliche Ökonomie braucht also das Recht und auch die das Recht garantierende Gewalt, sie braucht also den Staat, das Recht, die Justiz und die innere Staatsgewalt in Gestalt der Polizei, um ihren Bestand zu sichern. Und der Umstand, dass die Welt der Staaten sich trotz mancher supranationaler institutioneller Ansätze bis heute noch nicht wirklich aus dem „Naturzustand“ (Hobbes) herausgearbeitet hat, das es also noch kein allgemein verbindliches und zugleich wirksames, durchsetzbares Völkerrecht gibt, setzt die archaische Notwendigkeit, auch über ein äußeres Gewaltpotenzial in Gestalt des Militärs zu verfügen, das aber bis heute umgekehrt auch als Hindernis eines verbindlichen Völkerrechts erscheint, weil es eben auch ermöglicht, dieses zu brechen.
Der Staat, der als eine gesonderte Institution, oder als mit der bürgerlichen Gesellschaft nichtidentischer Rechtsstaat erscheint, ist als dialektischer Gegenpol des Verhältnisses von Kapital und Arbeit mit diesem zugleich identisch, wie die historische Entwicklung dieses Verhältnisses zeigt. Beide haben sich in engster Wechselwirkung – simultan und dynamisch – nicht nur miteinander, sondern auch durch einander widersprüchlich weiterentwickelt.
Es ist deshalb zwar nicht möglich, wie bereits die staatstheoretische Diskussion der 70er Jahre ergeben hatte, den Staat als Rechtsstaat und Gewaltmonopolist aus der „Logik des Werts“ abzuleiten, wie das für das ökonomische System möglich ist, aber da die Ökonomie ohne Staat sowenig bestehen kann wie auch umgekehrt, handelt es sich um eine Doppelstruktur wechselseitiger Bedingtheit und wechselseitiger Abhängigkeit, oder um eine Beziehung von Beziehungen.
Weil der bürgerliche Staat konstitutiv auf die sozioökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft – insbesondere ihre Eigentumsordnung – bezogen ist, kann er ihr gegenüber nicht „neutral“ sein. Als außerökonomische Seite des Kapitalverhältnisses, d. h. der dialektischen Beziehung von Kapital und Arbeit, ist der bürgerliche Staat normativer Garant der bürgerlichen Gesellschaft und zugleich selbst eine Beziehung, ein besonderes Feld gesellschaftlicher Konflikte (Poulantzas 2002).
Deshalb sind Staatseinnahmenpolitik (Steuerpolitik) und Staatsausgabenpolitik aufgrund der unterschiedlichen bis gegensätzlichen gesellschaftlichen Interessen stets umkämpft. Die schrittweise Herausbildung des (deutschen) Sozialstaats seit dem späten 19. Jahrhunderts und sein Rückbau seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeigen, dass der Staat keine monolithische Institution, sondern ein umkämpftes besonderes Machtfeld ist, ähnlich der bürgerlichen Gesellschaft selbst (vgl. Müller/Neusüß 1971).
Unter den – keineswegs selbstverständlichen – Bedingungen einer politischen Demokratie verbessern sich für die abhängig Beschäftigten die Chancen, ihre Interessen zur Geltung zu bringen, und der demokratisierte bürgerliche Staat laviert deshalb beständig in dem Widerspruch, einerseits den Anforderungen seitens der Kapitalverwertung (d. h. „der Wirtschaft“) und andererseits den Interessen der abhängig Beschäftigten bzw. der beherrschten Wahlbürger und dem Anspruch demokratischer Führung zu entsprechen.
Die Dialektik von Gewalt und Recht hat den bürgerlichen Staat konstituiert: denn einerseits geht die Gewalt dem Recht vor, indem erst durch sie reale Machtverhältnisse geschaffen wurden, die um einer notwendigen Ordnung willen in ihr Gegenteil, das positive Recht umschlagen müssen, das aber wiederum, weil es faktisch gelten muss, auf die legale Gewalt als „letztes Mittel“ nicht verzichten kann.
Diese primäre Funktion des Staates, den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. im Kern das Kapitalverhältnis, d.h. den Bestand des Verhältnisses bzw. der dialektischen Beziehung von Kapital und Arbeit sowie die Konkurrenzbeziehungen normativ und auch praktisch zu garantieren, wird ergänzt durch die sekundäre Funktion, die sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aus dem „Marktversagen“ ergibt.
Dieses Marktversagen resultiert zum einen aus den Konkurrenzverhältnissen, die bedingen, dass nur direkt profitable Investitionen privat getätigt werden können. Notwendige, aber nur indirekt profitable Investitionen (in die sogenannte „Infrastruktur“) müssen daher, wenn sie nicht zum Schaden der Ökonomie ganz unterbleiben, vom bürgerlichen Staat getätigt und über Steuern finanziert werden.
Das Marktversagen ergibt sich zum anderen aus dem Umstand, dass der soziale Klassencharakter der bürgerlichen Gesellschaft zu sehr ungleichen Verteilungsverhältnissen führt, aus denen sich wiederum sozioökonomische Spannungen und ökonomische Krisen ergeben.
Unter solchen Umständen ist die gesellschaftliche Reproduktion zwar nicht zu jedem Zeitpunkt, wohl aber strukturell gefährdet, und diese Gefährdung erhöht die soziale Spannung innerhalb der sozialen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft sowie zwischen ihr und dem bürgerlichen Staat, dem daher die Aufgabe der korrigierenden sozioökonomischen Stabilisierung zufällt (in Deutschland z.B. durch den Aufbau des „Sozialstaats“, durch den sehr lange erfolgreich soziale Spannungen reduziert und auch ökonomischen Ungleichgewichten entgegengewirkt werden konnte).
Dies gewährleistet allerdings nicht, dass der bürgerliche Staat mit seinen Mitteln, dem Geld und dem Recht, diese funktionale Kompensation durchwegs auch zu leisten imstande ist. Im Gegenteil: durch „Staatsversagen“ kann das Marktversagen noch vertieft werden.
Insofern aber der bürgerliche Staat, sofern er demokratisch strukturiert ist, tatsächlich beansprucht oder suggeriert, er sei zur Kompensation oder Steuerung des Marktversagens grundsätzlich in der Lage, bringt ihn das Staatsversagen, das sich aus der Begrenztheit seiner Möglichkeiten ergibt, dadurch in zusätzliche Schwierigkeiten, dass er der übernommenen Verantwortung faktisch nicht oder nur eingeschränkt gerecht werden kann. Würden nun aber diese tatsächlich begrenzten Möglichkeiten zur Kompensation des Marktversagens offen eingeräumt, dann könnte sich das als Delegitimation des ökonomischen Systems auswirken.
Aufgrund dieses Dilemmas ist die Demokratie für den bürgerlichen Staat durchaus problematisch. Die neuzeitliche Demokratie ist denn auch für den bürgerlichen Staat weder konstitutiv gewesen, noch die Verwirklichung eines idealistischen politischen Konzepts, sondern sie hat sich aus inneren ständegesellschaftlichen Konflikten bis hin zu politischen und sozialen Revolutionen entwickelt.
In der Französischen Revolution trat beispielsweise zunächst das Bürgertum auf, als sei es das gesellschaftliche Ganze, indem es die funktionslos gewordenen Stände (Adel und Klerus) entprivilegierte, die Funktion des Monarchen aufhob und durch ein besitzbürgerliches Parlament ersetzte. Nach der gelungenen bürgerlichen Emanzipation geriet aber schnell die „Soziale Frage“, d.h. die Emanzipation des „Vierten Standes“ – oder der Arbeiterklasse – in den Brennpunkt der sozialen Auseinandersetzungen. Allgemeines Wahlrecht und Gleichberechtigung, Streikrecht und der Anspruch auf Existenzsicherheit (im Hinblick auf die Lebensrisiken Unfall, Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit), die Wahl der Regierung durch das Parlament, später auch die Demokratisierung der Wirtschaft (Naphtali 1977; Huber/Kosta 1978) waren daher die legitimen Forderungen.
Die bürgerliche Demokratie war demnach zunächst keineswegs offen gegenüber dem „Vierten Stand“ bzw. der Arbeiterklasse. Diese musste ihre diesbezügliche politische Gleichberechtigung vielmehr in jahrzehntelangen sozialen Kämpfen gegen staatliche Unterdrückung erst durchsetzen. Erst durch die Novemberrevolution 1918 erreichte die Arbeiterklasse zumindest im Prinzip ihre „Anerkennung als menschliches Subjekt“ in Gesellschaft und Staat (Verfassung der Weimarer Republik).
Die relative Stabilität der Demokratie erklärt sich daraus, dass unter normalen ökonomischen Reproduktionsbedingungen die Verfahren demokratischer Willensbildung für die Ökonomie durchaus funktional, d. h. mit dem Ergebnis der Befriedung und der Zustimmung, ausgestaltet werden können; denn der Staat unterliegt der Notwendigkeit, sein Handeln mit den politischen Bedürfnissen der Staatsbürger so zu vermitteln, dass für die strukturell ungleich bleibende Verteilung der Vermögen und der Einkommen Legitimation, d. h. Zustimmung oder Duldung erreicht werden kann.
In Zeiten ökonomischer Krisen aber erweist sich die demokratische Willenbildung als nicht länger funktional für die Privatökonomie – ganz im Gegenteil. Die politische Demokratie gerät dann unter Druck, wird tendenziell eingeschränkt und ausgehöhlt, oder, wie 1933, ganz beseitigt, um eine gesellschaftliche Transformation der bürgerlichen Gesellschaft zu verhindern. Die Demokratie muss daher von den demokratischen Staatsbürgern nicht nur erkämpft, sondern sie muss auch bewahrt werden – und vor dieser politischen Aufgabe stehen wir heute.
Die Beziehung zwischen der Bindung des bürgerlichen Rechtsstaates an das Kapitalverhältnis einerseits und seiner Bindung an den ihn fundierenden demokratischen Prozess andererseits ist aber deshalb asymmetrisch, weil die demokratische Willensbildung, – auch soweit sie politische Konzessionsspielräume gegen das Kapital erweitern konnte, z.B. in Form der deutschen Mitbestimmung -, strukturell der Dialektik von Staat und Kapitalverhältnis untergeordnet bleibt.
Bürgerlicher Staat und Wirtschaftspolitik
Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 war nicht nur eine der mehr oder weniger regelmäßig auftretenden konjunkturellen Krisen, sondern sie trug deutlich die Züge eines systemischen Zusammenbruchs. Dieser drückte sich zugleich sozioökonomisch, politisch und mental aus, insbesondere aber im Zerfall des Weltmarkts (James 2005). Unter diesen Voraussetzungen konnte in Deutschland der Rechtsstaat in den NS-Gewaltstaat umschlagen, welcher sich das gesellschaftliche Ganze unterordnen konnte: Abschaffung der Demokratie und der bürgerlicher Freiheiten, Zerschlagung der Arbeiterbewegung, Militarismus, Krieg, Rassenwahn, Auschwitz. (Neumann 1984).
Die reale Krise war aber auch die Grundlage für die Suche nach vernünftigen Auswegen. Keynes außerordentliche Leistung, die ihn zum mit Abstand bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts machte, bestand darin, auf Grundlage einer Kritik der neoklassischen Gleichgewichtstheorie eine makroökonomische Kreislauftheorie zu entwickeln, die es ermöglichte, die Krise zu diagnostizieren und die Ansatzpunkte und Handlungsspielräume der staatlichen Wirtschaftspolitik neu zu bestimmen. Kurzfristig dachte Keynes hier an die Steigerung der „effektiven Nachfrage“ durch „deficit spending“, und langfristig an die „Sozialisierung der Investition“.
Neu daran war nicht nur die Erkenntnis der Relevanz der „effektiven Nachfrage“, sondern mehr noch die Einsicht in eine makroökonomische Rationalität, die der mikroökonomischen Rationalität der Neoklassik ebenso wie der Rationalität der Betriebswirtschaftlehre übergeordnet ist. Im übergeordneten gesamtwirtschaftlichen Kreislaufzusammenhang gelten danach spezifisch makroökonomische Gesetzmäßigkeiten, die den unmittelbaren Erfahrungen der Wirtschaftssubjekte nicht und ihrer individuellen Handlungslogik nur teilweise entsprechen (Keynes 1936; Bofinger 2005).
Aus Keynes Einsicht in die Beschränktheit einer funktionsfähigen Selbststeuerung der Marktwirtschaft, in diesem Sinne also in das fundamentale Marktversagen, folgt die Notwendigkeit der Lenkung, die nur vom bürgerlichen Staat kommen kann. Dieser muss dazu die Geld- und Fiskalpolitik für eine indirekte Wirtschaftslenkung instrumentalisieren. Die so gelockerte Abhängigkeit des Staates von der Privatökonomie ruft allerdings deren Unbehagen ebenso hervor wie der Anspruch des Staates, gegenüber der privaten Ökonomie, wenn auch in deren Interesse, eine übergeordnete wirtschaftspolitische Lenkungsfunktion zu übernehmen (Hödl 1986).
Im Verlauf der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts begannen sich die institutionellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einer keynesianischen Wirtschaftspolitik, das Bretton – Woods – System, aufzulösen: maßgeblich waren hier der nicht zuletzt durch die Finanzierung des Vietnamkrieges bedingte währungspolitische Übergang zu einem System freier Wechselkurse und die auch durch die Vorherrschaft oligopolistischer, d. h. durch relativ wenige marktmächtige Großunternehmungen bestimmten Marktformen bedingte Herausbildung einer „Stagflation“, d.h. durch das unerwartete neuartige gleichzeitige Auftreten von Stagnation und Inflation.
Dieses Problem wurde in Verbindung mit den theoretischen Arbeiten Milton Friedmans zum praktischen Ausgangspunkt der „monetaristischen Konterrevolution“. Das Vordringen des „Monetarismus“ brachte die Anerkennung der neoklassischen Gleichgewichtstheorie zurück, die in Kombination mit der neoliberalen Wettbewerbstheorie (F. A. von Hayek) und der monetaristischen Geldpolitik als sogenannte „Angebotstheorie“ wirtschaftspolitisch dominant
wurde.
Nach einer ca. fünfundzwanzigjährigen Praxis dieser angebots- und wettbewerbsorientierten Wirtschaftspolitik ist allerdings in Deutschland die Arbeitslosigkeit im Februar 2005 auf über 5 Millionen angestiegen, und das gesamtwirtschaftliche Wachstum ist nach wie vor so schwach, dass eine spürbar ansteigende Beschäftigung nicht erwartet werden kann, insbesondere weil das Investitionsverhalten auf immer wieder deutlich verbesserte steuerpolitische und rechtliche Rahmenbedingungen nicht positiv reagiert. Damit wiederum gerät das Problem der schwachen Binnennachfrage ins Zentrum der Überlegungen (Bofinger 2005, S. 225 ff.).
Die in der Praxis nachhaltig gescheiterte „Angebotspolitik“ wird paradoxerweise und interessebedingt dennoch nicht mit einem konzeptionellen wirtschaftspolitischen Wechsel beantwortet, sondern damit, dass weiterhin sogar eine vertiefte und erweiterte Angebotspolitik erforderlich sei. Allerdings verliert diese dogmatische Haltung trotz medialer Multiplikation zunehmend an Glaubwürdigkeit auch in einer breiteren Öffentlichkeit. Erste Ansätze eines grundlegenden Wandels sind erkennbar. Denn unübersehbar und unmittelbar erfahrbar ist, dass die versprochenen Erfolge immer wieder ausgeblieben sind. Auch deshalb ist der Boden für ein alternatives wirtschaftspolitisches Konzept bereitet. Zu lösen wäre in dessen Rahmen zunächst die teilweise wohl noch offene Frage, wie eine an die aktuellen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen angepasste erneuerte makroökonomische Wirtschaftspolitik konkret auszugestalten wäre und wo genau deren Grenzen liegen.
Der Blick nach Italien verstellt meines Erachtens den Blick darauf, dass sich die Verhältnisse dort nicht so wesentlich von den hiesigen unterscheiden. Colin Crouch prägte den Begriff der Postdemokratie im Hinblick auf einen Italienaufenthalt, wenn ich mich recht entsinne, meinte aber damit durchaus auch den Zustand der übrigen Demokratien in Europa.
Der Neoliberalismus hat insofern ganze Arbeit geleistet, wollte er doch die Entthronung der Politik (Hayek) vorantreiben. Dem die Stärkung der Demokratie entgegenzuhalten, erscheint nur folgerichtig, allein es fehlt an interessierten Demokratinnen in diesem Lande. Wer wäre denn die Zielgruppe eines demokratischen Aufbruchs?
Was die Wirtschaftspolitik angeht, könnte ich mit keynesianisch orientierter Vollbeschäftigungspolitik als Übergang leben. Bislang habe ich jedoch noch keine Analyse aus dieser Richtung gelesen, die den veränderten Machtverhältnissen im Zuge der Globalisierung ausreichend Rechnung trägt. Genausowenig fand ich bisher einen selbstkritischen Blick auf das Versagen der keynsianischen Politiken gegenüber dem Phänomen der Stagflation.
Es wäre ja schon ein Anfang, würde man heute darauf achten, daß für die Zukunft der Demokratie auch das räumliche Existenzrecht gedanklich eingeräumt würde. Bisher darf sie ja nur als Verkaufsvokabel existieren.
Genau: http://mosereien.wordpress.com/2012/08/15/wir-mussen-die-maerkte-beruhigen/