Arbeitszeitverkürzung (Teil 3)

Ein Manifest

Nach Teil 1 und Teil 2 wird nun der dritte und letzte Teil des Manifestes für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit präsentiert. Bontrup und Massarratt verdeutlichen einmal mehr die strukturelle und soziale Notwendigkeit dieses Schrittes mit Fakten und Zahlen. Zugleich weisen sie aber auch auf das wesentliche hin: Eine Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich wird sich nur dann gegen erhebliche Widerstände und Interessensgruppen durchsetzen lassen, wenn sich ein gesellschaftliches Bewußtsein für die Notwendigkeit herstellen lässt.

Von Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat

Wer soll die Arbeitszeitverkürzung und die öffentliche Beschäftigung finanzieren?

Arbeitszeitverkürzung, zu der wir hier aufrufen, hat freilich nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die große Mehrheit der Lohn- und Gehaltsabhängigen von deren Sinn überzeugt und auch bereit ist, gegen massive konträre Kapital- und Politikinteressen zu kämpfen. Deshalb ist die Verteilungsfrage entscheidend. Es muss klar sein, dass die Beschäftigten bei Senkung der Erwerbsarbeitszeit ein Weniger an Arbeit gegen ein Mehr an Freizeit eintauschen. Das ist kein monetärer, aber ein qualitativer Zugewinn, den viele, die die Erfahrung beschäftigungssichernder Arbeitszeitverkürzung gemacht haben, oft gegen anfängliche Skepsis, schätzen gelernt haben.

Dennoch lehnen heute viele abhängig Vollzeit-Beschäftigte jede Arbeitszeitverkürzung ab, weil sie Einkommensverluste und Arbeitsverdichtungen befürchten. Tatsächlich haben die abhängig Beschäftigten bei Arbeitszeitverkürzungen entsprechend der Produktivitätssteigerungen ökonomisch den Anspruch auf vollen Lohnausgleich. Dieser Anspruch begründet sich durch eine verteilungsneutrale Teilung des Produktivitätszuwachses zwischen den Tarifpartnern. Löhne und Gewinne steigen hier in exakt gleicher Höhe mit der Produktivitätsrate bzw. Lohnund Gewinnquote bleiben konstant.

Bei einer Arbeitszeitverkürzung von fünf Prozent, die allerdings deutlich über dem von uns zukünftig unterstellten Produktivitätszuwachs von 1,8 Prozent liegt, gewinnt die Umverteilungsfrage bei der Durchsetzung eine beachtliche verteilungspolitische Brisanz. Vor dem Hintergrund der bereits aufgezeigten gigantischen Umverteilung in den letzten Jahren zur Gewinnquote, sehen wir hier jedoch zunächst einmal, wie unten näher dargelegt, eine hinreichende Finanzierungsmasse für eine die Produktivitätsrate übersteigende Verkürzung der Arbeitszeit aus den Besitzeinkommen, also aus Gewinnen, Zinsen, Mieten und Pachten.

Das Volkseinkommen belief sich diesbezüglich 2010 auf 1.898,55 Milliarden Euro. Davon entfielen 1.257,93 Milliarden Euro auf die Arbeitnehmerentgelte. Dies entsprach einer Bruttolohnquote von 66,3 Prozent. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen betrugen 640,62 Milliarden Euro, was einer Bruttogewinnquote von 33,7 Prozent entsprach. Zieht man von dem Arbeitnehmerentgelt die Sozialbeiträge zur Sozialversicherung der Arbeitgeber in Höhe von 238,76 Milliarden Euro ab, so erhält man die Bruttolohn- und Gehaltssumme in Höhe von 1.019,17 Milliarden Euro. Davon entfielen rund 83 Prozent, also 845,91 Milliarden Euro auf die Vollzeitbeschäftigten. Demnach betrug 2010 das durchschnittliche Jahresbruttoeinkommen der Vollzeitbeschäftigten knapp 36.000 Euro.

Sollen die abhängig Beschäftigten die oberhalb der Produktivitätsrate (1,8 Prozent p.a.) liegende Arbeitszeitverkürzung (5 Prozent p.a.) in den nächsten fünf Jahren von kumuliert 15 Prozent (3,2 Prozent pro Jahr) tragen, so würde sich der Einkommensverlust nach fünf Jahren auf durchschnittlich 5.400 Euro pro Jahr belaufen. Rechnet man diesen durchschnittlichen Kürzungsbetrag je Vollzeit-Beschäftigten (23.515.000) auf alle Neu-Vollzeit-Beschäftigten (also inkl. der abgebauten Arbeitslosen von 4,1 Millionen und zwei Millionen Teilzeitbeschäftigter, die in unserem Modell Vollzeit arbeiten) von insgesamt 29.615.000 Beschäftigten hoch, so kommen hier rund 160 Milliarden Euro (=29.615.000 x 5.400) zusammen.

Soll aber das Einkommen der abhängig Vollzeit-Beschäftigten nicht um diesen Betrag gesenkt werden, was ja ein Einkommensverlust bei allen Lohngruppen in einem beträchtlichen Umfang bedeuten würde, so ginge dies nur über eine entsprechende Umverteilung von oben nach unten zu Lasten der Gewinnquote. Ist dies aber gesamtwirtschaftlich überhaupt möglich und politisch auch durchsetzbar?

Denn der gesamtwirtschaftliche Bruttogewinn aus Unternehmens- und Vermögenseinkommen (640,62 Milliarden Euro) hätte dann auf Basis des Jahres 2010 um den Betrag in Höhe von 160 Milliarden Euro, also auf 480,62 Milliarden Euro sinken müssen. Die Bruttogewinnquote wäre somit von 33,7 Prozent auf 25,3 Prozent zurückgegangen (480,62 Milliarden Euro : 1.898,55 Milliarden Euro) und entsprechend die Bruttolohnquote von 66,3 Prozent auf 74,7 Prozent gestiegen. Dennoch würde die gesamtwirtschaftliche Lohnquote noch knapp unter dem Wert von 1980 mit 75,2 Prozent liegen, dem Beginn der seither massiv betriebenen neoliberal geprägten Umverteilung von unten nach oben.

Eine Umverteilung von oben nach unten für einen vollen Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung ist insofern nicht nur grundsätzlich möglich, sie ist gesellschaftspolitisch sogar geboten: Erstens, um mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen und zweitens, um eine der Hauptquellen der Finanzspekulationen und Finanzkrisen auszutrocknen, zu der die Kapitalseite in den letzen dreißig Jahren auf Grund sinkender Lohnquoten gelangen konnte.

Gleichwohl sind wir uns darüber im Klaren, dass das Ziel Lohnausgleich auch oberhalb der realisierten Produktivitätsraten nur durch heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen, sowohl zwischen Arbeit und Kapital als auch im politischen Raum erreichbar sein wird. Es war aber in kapitalistischen Systemen schon immer ein Kampf zwischen Kapital und Arbeit um die Aufteilung der geschaffenen Wertschöpfungen. Und es ist auch eine alte gewerkschaftliche Forderung im Rahmen der Tarifpolitik, eine Umverteilung zur Lohnquote durchzusetzen.

Dies kann allerdings angesichts historischer Erfahrungen nur dann erfolgreich sein, wenn die Massenarbeitslosigkeit überwunden ist und Vollbeschäftigung vorherrscht. Daher müsste die Beseitigung der „Geißel“ Massenarbeitslosigkeit allererste Priorität haben und zum strategischen Dreh- und Angelpunkt gewerkschaftlicher und gesellschaftspolitischer
Arbeitszeitpolitik werden.

Und wie soll die Finanzierung der zusätzlichen öffentlichen Beschäftigung von 800.000 Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen erfolgen? Auch heute werden bereits Milliarden für Hartz-IV-Empfänger und für Arbeitslose verausgabt. Außerdem würde eine vollständige Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit rund 80 Milliarden Euro freisetzen, die der Staat jährlich für die Arbeitslosigkeit aufzubringen hat. Notwendig und dringend erforderlich wäre zur Finanzierung darüber hinaus aber auch eine solidarische Steuerpolitik, die auf Steuererhöhungen bei hohen Einkommen und Vermögensbeständen setzt.

Dass für eine solch solidarische Gesellschaft genügend Verteilungsspielraum besteht, zeigt schon allein die Geldvermögensentwicklung in Deutschland und damit der Reichtumszuwachs der privaten Haushalte von 1991 bis 2009 um 186,1 Prozent auf 3.139,7 Milliarden Euro, während im gleichen Zeitraum auch auf Grund einer nicht adäquaten (solidarischen) Steuerpolitik die öffentliche Armut in Form von Staatsverschuldung um 182,6 Prozent auf 1.692,2 Milliarden Euro zulegte, also fast im gleichen Ausmaß.

Arbeitszeitverkürzung und öffentliche Beschäftigung sind ein gesamtgesellschaftliches Anliegen

Hauptadressat der Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung sind im Zuge der verfassungsrechtlich verankerten Tarifautonomie die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände. Die Gewerkschaften hätten nach der Durchsetzung der Fünftagewoche auf weitere, der steigenden Produktivität entsprechende Arbeitszeitverkürzungen bestehen müssen, um wachsender Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken und so ihre Durchsetzungsmacht zu erhalten.

Dies scheiterte aber oftmals an den Präferenzen der Beschäftigten für höhere Einkommen statt weniger Arbeitszeit und an der fehlenden Aufklärung darüber, dass sich diese Präferenz im Ergebnis in das Gegenteil verkehren wird: in weniger Geld und längere Arbeitszeiten.

Die Forderung „Arbeitszeitverkürzung und öffentlicher Beschäftigungssektor jetzt“ geht aber nicht nur die Gewerkschaften und die Beschäftigten in den Unternehmen sowie die Arbeitslosen und Arbeitsloseninitiativen etwas an. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt, das auch die politischen Parteien und der Staat, die Regierungen in Bund, Länder und Kommunen, auf ihre Fahnen schreiben müssen, ebenso die Kirchen und die Sozialversicherungsträger.

Eine befriedigende Antwort auf die Herausforderung Massenarbeitslosigkeit wird es nur geben, wenn es gelingt, allen die gesellschaftliche Tiefendimension von Arbeitszeitverkürzung und öffentlicher Beschäftigung vor Augen zu führen. Schließlich geht es um die Perspektive eines besseren, eines guten Lebens, eines Lebens in Würde für alle; es geht um die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und der virulenten Angst der noch Beschäftigten, ins Prekariat abzustürzen. Und es geht um ein neues soziales Fundament für eine gerechte Verteilung der Wertschöpfungen nach Jahrzehnten praktizierter Lohnsenkung und Umverteilung zu Lasten der abhängig Beschäftigten.

Schließlich geht es auch darum, das Übel an der Wurzel zu packen und der Meinungsführerschaft des Neoliberalismus ein Ende zu setzen, der mit der von ihm propagierten Umverteilung von unten nach oben die Hauptverantwortung für die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise trägt. Bei Arbeitszeitverkürzung und öffentlicher Beschäftigung geht es um die Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse, die es ermöglichen, die Beschäftigten, Unterbeschäftigten und Arbeitslosen von der Position der Schwäche in eine Position der Stärke zu heben. Mehr noch: Es geht auch um die Rückgewinnung von selbstbewussten Beschäftigten und ihren Gewerkschaften als maßgebliche soziale und politische Kraft zur Durchsetzung zukunftsfähiger demokratischer Reformen.

Damit ist die Dimension der Forderung Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung und öffentliche Beschäftigung umrissen. Für dieses gesamtgesellschaftliche Projekt haben alle Verantwortung zu übernehmen. Sein Erfolg wird davon abhängen, wie eine umfassende Aufklärung, eine intensive Debatte in den Betrieben und in der ganzen Gesellschaft gelingt, wie sich wissenschaftliche Erkenntnis, gewerkschaftliche Kampfbereitschaft, politische und moralische Kräfte, aber auch unternehmerische Kreativität und Verantwortung für diese Aufgabe mobilisieren lassen. Das Projekt erfordert eine breit angelegte politische Kampagne.

Dieses Manifest soll dazu einen Anstoß geben.

Prof. Heinz-Josef Bontrup ist Mitverfasser und Herausgeber der jährlichen Memoranden der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Progress Instituts für Wirtschaftsforschung mbH Bremen, Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung sowie Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.

Mohssen Massarrat (* 1942 in Teheran) ist ehemaliger Professor für Politik und Wirtschaft mit den Forschungsschwerpunkten Mittlerer und Naher Osten, Energie, Friedens- und Konfliktforschung, sowie Nord-Süd-Konflikt. Er ist in Iran geboren und lebt seit 1961 in der Bundesrepublik Deutschland.

– Arbeitszeitverkürzung (Teil 1)

– Arbeitszeitverkürzung (Teil 2)

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