Arbeitszeitverkürzung (Teil 2)

Ein Manifest

Nach der im ersten Teil erörterten historischen Entwicklung der Arbeitszeit und der daraus resultierenden Probleme für die Beschäftigungsverhältnisse, liefern Bontrup und Massarrat im zweiten Teil ihrer lesenswerten Arbeit  konkrete Vorschläge zur Umverteilung von Arbeit und weisen auf den sozioökonomischen und sozio-kulturellen Nutzen dieser Verteilung für die Gesellschaft hin:

 

 

Von Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat

Faire Teilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung

Das Ziel einer fairen Arbeitszeitpolitik müsste deshalb darin bestehen, das gesellschaftlich insgesamt verfügbare Erwerbsarbeitspotential und das entsprechende Arbeitsvolumen so umzuverteilen, dass sowohl die Arbeitslosen eine Beschäftigung bekommen, wie aber auch die Teilzeitbeschäftigten die Arbeitszeit nach ihren Bedürfnissen erhöhen können, um so ihre materielle Existenz durch Arbeit zu sichern. Denkbar und auch realisierbar ist dabei, wie wir unten noch darlegen werden, die Kürzung der wöchentlichen Arbeitszeit der heute Vollzeitbeschäftigten auf 30 Stunden.

Dies kann in Form einer Viertagewoche umgesetzt werden, aber auch viele andere Formen fester oder flexibler Verteilungen der Arbeitszeit über die Woche, den Monat, das Jahr sind ebenso denkbar. Hier können individuelle wie auch branchenspezifische und betriebliche Erfordernisse berücksichtigt werden. Entscheidend ist, dass es zu einer neuen zeitlichen Vollzeitnorm, zu einer neuen Normalarbeitszeit von 30 Stunden in der Woche kommt, um das gesellschaftlich verfügbare Arbeitsvolumen fair zu verteilen. Die Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten muss dazu im Ergebnis verkürzt und gleichzeitig die Arbeitszeit der heute Teilzeitbeschäftigten, sofern sie dies wünschen, verlängert werden.

Achtstundentag und Fünftagewoche waren historische Meilensteine früherer Arbeitszeitverkürzungen. Seit Langem ist aber schon wieder der Punkt erreicht, wo eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen ist, weiter dem historischen Trend und den Regeln der Vernunft zu folgen und die Arbeitszeit flächendeckend zu senken oder weiter mit Massenarbeitslosigkeit zu „leben“.

Arbeitszeitverkürzung dagegen eröffnet viele neue Perspektiven. Sie ermöglicht bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und gleichberechtigte häusliche Arbeitsteilung. Sie schafft mehr Zeit für Freundschaft und Liebe, für die Erziehung der Kinder, für würdige Pflege von Angehörigen. Sie bietet mehr Möglichkeiten für Weiterbildung und verbessert die Bedingungen für die Entwicklung individueller und künstlerischer Fähigkeiten, für Sport und Gesundheitspflege, für Spiritualität und Teilhabe am politischen Geschehen, für nachbarschaftliche Kontakte und ehrenamtliche Aktivitäten. Kurz: Mehr Zeit jenseits fremdbestimmter Erwerbsarbeit ließe neue Produktivität entstehen, die der ganzen Gesellschaft zugute käme.

Entscheidend ist dabei aber die Frage, ob eine Arbeitszeitverkürzung allein für ein faires Teilen zwischen den Beschäftigten und Arbeitslosen sowie den nur Unterbeschäftigten des insgesamt noch verfügbaren Arbeitsvolumens unter den heute und morgen gegebenen realen Wachstumsmöglichkeiten und Produktivitätsentwicklungen überhaupt ausreicht? Reicht Arbeitszeitverkürzung noch aus?

Die folgende Rechnung soll dieser Frage nachgehen und darlegen, wie durch Arbeitszeitverkürzung ein Abbau der Massenarbeitslosigkeit möglichst realitätsnah und in einem überschaubarem Zeitraum von z. B. fünf Jahren erfolgen kann: Wir unterstellen zu diesem Zweck zunächst – durchaus optimistisch – ein zukünftiges reales Wirtschaftswachstum von jährlich 1,5 Prozent und eine, wie in der Vergangenheit auch, etwas höhere Produktivitätsrate von 1,8 Prozent, so dass der Effekt auf das Arbeitsvolumen (Beschäftigte mal Arbeitszeit je Beschäftigten) negativ ist. Das heißt, das Arbeitsvolumen geht um 0,3 Prozentpunkte zurück. Dieser Rückgang wird aber durch einen negativen demografischen Effekt auf das gesamtwirtschaftliche Arbeitsangebot kompensiert, so dass der finale Effekt aufs Arbeitsvolumen konstant bleibt. Des Weiteren gehen wir von den aktuellen Arbeitsmarktzahlen für 2010 aus (vgl. dazu die folgende Tabelle 1).

Tabelle 1: Arbeitsmarktsituation 2010

Quelle: IAB-Kurzbericht 7/2011

Würde nun die Arbeitszeit über fünf Jahre jährlich um fünf Prozent bei den heute Vollzeitbeschäftigten reduziert, so wäre bei einem Nullwachstum des Arbeitsvolumens (reales Wachstum und Produktivität neutralisieren sich unter Berücksichtigung des demografischen Arbeitsangebotseffekts) sukzessive ein Mehrbedarf von gut 6,6 Millionen abhängig Beschäftigter notwendig. Hiervon abzuziehen ist allerdings wegen der verkürzten Arbeitszeit ein induzierter Produktivitätseffekt von etwa 30 Prozent, so dass sich der tatsächliche Beschäftigungseffekt auf einen personellen Mehrbedarf von knapp 4,7 Millionen Arbeitskräften reduziert (vgl. dazu die Berechnungen in der folgenden Tabelle 2).

Tabelle 2: Beschäftigungswirkungen einer Wochenarbeitszeitverkürzung von jährlich fünf Prozent

*Der rechnerische Beschäftigungseffekt ergibt sich aus folgender Formel: Mehrbedarf an Arbeitskräften = freigewordene Arbeitszeit x Beschäftigte : Arbeitszeit je Beschäftigten nach Arbeitszeitverkürzung, **Die rechnerische Arbeitszeitverkürzung wird zu 30 Prozent durch zusätzliche (induzierte) Produktivität aufgefangen.

Die heute 23,5 Millionen Vollzeit-Beschäftigte kämen so in fünf Jahren auf eine 30-Stunden-Woche. Dies würde gleichzeitig sukzessive 4,7 Millionen zusätzlicher Arbeitskräfte oder ein zusätzliches Arbeitsvolumen von gut 6,6 Milliarden Stunden bedeuten (siehe Tabelle). Geht man davon aus, dass von den 12,5 Millionen Teilzeitbeschäftigten rund zwei Millionen gerne Vollzeit arbeiten würden, so müsste hier die durchschnittliche Arbeitszeit um 14,64 Stunden pro Woche bzw. um 638,45 Stunden pro Jahr erhöht werden.[1] Dies würde von dem insgesamt freigesetzten Arbeitsvolumen in Höhe von rund 6,6 Milliarden Stunden einen Abzug von 1.277 Milliarden Stunden (zwei Millionen Teilzeitbeschäftigte x 638,45 Std.) bedeuten. Zum Abbau der Arbeitslosigkeit stünde dann noch ein Arbeitsvolumen von 5.323 Milliarden Stunden zur Verfügung. Dies entspräche bei einer durchschnittlichen 29,34-Stunden-Woche einer potenziellen Arbeitskräftezahl von 4,1 Millionen.

Die Beschäftigungslücke liegt aber heute, wie bereits zu Beginn erwähnt, bei 4,9 Millionen fehlender Arbeitsplätze, so dass die hier unterstellte Arbeitszeitverkürzung von fünf Prozent pro Jahr bis 2015 nicht einmal voll ausreicht, um alle heute Arbeitslosen in Arbeit zu bringen.

Neue Beschäftigung im öffentlichen Sektor

Es ist offensichtlich: Die Versäumnisse der Vergangenheit waren zu groß, um der „Geißel“ Massenarbeitslosigkeit heute durch Arbeitszeitverkürzung allein, selbst über einen Zeitraum von fünf Jahren noch beizukommen. Es besteht immer noch eine rechnerische Unterdeckung von 800.000 fehlenden Arbeitsplätzen. Durch den Verzicht auf eine an die Produktivität gekoppelte Arbeitszeitverkürzung baute sich über beinahe drei Dekaden Jahr für Jahr immer mehr Arbeitslosigkeit auf. Umso größer sind daher heute die Herausforderungen, die Versäumnisse der Vergangenheit zu bewältigen.

Eine faire Umverteilung der Arbeit müsste dabei selbstverständlich auch den Schwierigkeiten Rechnung tragen, die bei der Stellenbesetzung entstehen. Nachgefragte und vorhandene Qualifikationen werden anfänglich nicht übereinstimmen. Zur Anpassung am veränderten Bedarf sind deshalb parallel zur Arbeitszeitverkürzung umfassende Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen notwendig. Dabei wird der Staat helfen müssen, vor allem kleinen Unternehmen.

Da Arbeitszeitverkürzung und -umverteilung zur Beseitigung von Massenarbeitslosigkeit, wie aufgezeigt, aber nicht mehr hinreichend ist, muss es zusätzlich zu einem Ausbau an Beschäftigung im öffentlichen Sektor kommen. Die privaten auf Profit fokussierten Unternehmen werden jedenfalls in Deutschland vor dem aufgezeigten Hintergrund in Zukunft, auch in Anbetracht eines in den nächsten Jahren rückläufigen demografisch bedingten Arbeitsangebots, keine hinreichende Arbeitsnachfrage zur Realisierung einer vollbeschäftigten Wirtschaft entfalten. Dies kann deshalb nur noch der Staat gewährleisten.

Hierdurch würde es gleichzeitig zu einer besseren Versorgung mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Gesundheits- und Altenpflege, Umwelt, Sportvereine usw. kommen und es könnten so auch die Arbeitslosen aufgefangen werden, die sich auf Grund von qualifikatorischen, gesundheitlichen und altersbedingten Restriktionen schwer tun, ihre Arbeitskraft der hochproduktiven privaten Profitwirtschaft anzubieten.

In Deutschland fehlen ohnehin hunderttausende Fachkräfte in der Pflege, in Kindergärten, Schulen, an Hochschulen, in Einrichtungen für Weiterbildung und für Integration von Migrantinnen und Migranten. Der Personalmangel in Krankenhäusern und Gesundheitszentren und die Überlastung des Personals durch Überstunden haben ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Auch der Umweltschutz muss im Interesse künftiger Generationen verstärkt werden und bedarf erheblicher öffentlicher Investitionen. In Sporteinrichtungen und Vereinen könnten ebenso viele heute Arbeitslose eine sinnvolle Beschäftigung finden.

Die Kosten-Nutzen-Analyse eines solchen Ausbaus des öffentlichen Beschäftigungssektors müsste, wie im Fall der Arbeitszeitverkürzung, in einen größeren Kontext gesellschaftlicher Entwicklung gestellt werden. Schließlich spart eine Gesellschaft mit höherer Bildung, mit besserer Gesundheitsversorgung, mit vorbeugendem Umweltschutz und gerechterer Verteilung der Ressourcen nicht nur in beträchtlichem Umfang gesamtgesellschaftliche Kosten, sondern erzielt auch einen materiellen wie sozio-kulturellen Nutzen.

[1] Die Werte ergeben sich wie folgt: Durchschnittliche Wochenstundenzahl 29,34 – 14,70 = 14,64 x durchschnittlich 43,61 Arbeitswochen pro Jahr = 638,45 Stunden.

In Kürze wird der dritte und letzte Teil erscheinen.

– Arbeitszeitverkürzung: Ein Manifest (Teil 1)

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