Der Maschmeyer-Komplex (II)

Von Sebastian Müller

Die im ersten Teil des Maschmeyer-Komplexes geschilderten Verflechtungen des Finanzdienstleistungsunternehmens AWD und dessen Gründer Carsten Maschmeyer mit den politischen Entscheidungsträgern erster Garnitur, sind nur die Spitze eines wachsenden Eisberges. Seit Ende der 90er Jahre haben fast alle etablierten Parteien für eine private Vorsorge als zusätzliche Säule des Rentensystems plädiert. Wenn Gerhard Schröder, Angela Merkel und Guido Westerwelle sich über die Notwendigkeit der Rentenreform von 2001 derart einig waren, muss dies gute Gründe gehabt haben. Sachverstand? Nobert Blüm hingegen, von 1982 bis 1998 selbst Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, spricht von einem Kartell der Lobbyisten. Doch ist das bloß eine populistische Verschwörungstheorie?

In der Tat ist das Problem der einseitigen Einflussnahme, beziehungsweise der Gefahr der politischen Korruption seit der schleichenden Veränderung des politisch-ökonomischen Systems in den 80er Jahren immanent. Und vor allem im Bereich der Rentenpolitik ist eine unabhängige Politikberatung durch den massiven Einfluss von Lobbygruppen der Banken-, Versicherungs- und Finanzdienstleistungsbranche – wie eben AWD, aber auch MILP, DVAG, OVB oder der Göttinger Gruppe – besonders gefährdet.

Dass Konzerne wie die Allianz AG und sämtliche Großbanken sich nicht zuletzt durch relativ hohe Parteispenden in den politischen Prozess einbringen, ist dabei längst kein Geheimnis mehr. So wie sich Maschmeyer mit der AWD bei Schröder Einfluss verschaffen konnte, vermochte es zum Beispiel die DVAG wiederum, Spitzenpolitiker wie Helmut Kohl oder Theo Waigel in die unterschiedlichen Unternehmensgremien zu verpflichten. Bleibt die Göttinger Gruppe Vermögens- und Finanzholding GmbH und ihre Hauptgesellschaft Securenta Göttinger Immobilienanlagen und Vermögensmanagement AG. Sie gehörten zu den größten Kapitalanlagegesellschaften, die auf dem Grauen Kapitalmarkt (Ein Markt, der keiner staatlichen Finanzaufsicht oder ähnlichen Regulierungen unterliegt) in Deutschland tätig waren. Das hinderte Politiker wie Friedrich Genscher, Kurt Biedenkopf und Otto Graf Lambsdorff jedoch nicht, für die Göttinger Gruppe als Anleger zu werben und ihr damit ein seriöses Antlitz zu verschaffen.

Im Juni 2007 wurde vom Amtsgericht Göttingen ein Insolvenzverfahren gegen die Securenta AG eröffnet. Antragsteller war ein Bonner Anleger, dem das Unternehmen die 2006 in einem Vergleich zugesagten 17.000 Euro nicht gezahlt hatte. Mit ihrer Hauptgesellschaft ging auch die Göttinger Gruppe insolvent, Kapital in Höhe von einer Milliarde Euro war verschwunden. Über 250.000 Anleger, die zum Teil in die sogenannte Securente eingezahlt hatten, sind geschädigt und um ihre Altersvorsorge gebracht worden. Die zu verantwortenden Verluste der Anleger gehen nach Medienberichten in die Milliarden. Etwa 1,5 Milliarden Euro wurden von den Anlegern bei verschiedenen Gesellschaften der Gruppe eingezahlt; das gesamte Zeichnungsvolumen dürfte jedoch 10 Milliarden Euro übersteigen. Zudem war der ehemalige Konzernchef Erwin Zacharias im August 2007 wegen privater Steuerhinterziehung zeitweise in der Justizvollzugsanstalt in Rosdorf inhaftiert. Er hatte 1991 bis 1996 fast eine Million DM Steuern auf private Einnahmen aus Immobilienvermietungen und -verkäufen an die Göttinger Gruppe hinterzogen.

Doch nicht nur dieser Fall verdeutlicht – einmal abgesehen vom kriminellen Potential, das sich durch die Spekulationen ergibt –  dass die private, kapitalgedeckte Rente im Gegensatz zum gesetzlichen Umlageverfahren mit erheblichen Risiken verbunden ist. Auch im Folge der Finanzkrise gingen die Ersparnisse von tausenden Anlegern verloren. Dennoch wird trotz den Erfahrungen mit der Finanzkrise keine ernsthafte Diskussion über die Gefahren der privaten Altersvorsorge geführt. Allein die gesetzliche Rente, ein historisches Erfolgsmodell, wurde in den Medien (ganz besonders seitens der Bildzeitung) und der öffentlichen Debatte als Unsicherheitsfaktor gebrandmarkt.

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Starke Abhängigkeit von Auflagen und Quoten, Anzeigen und Werbespots massiven Druck auf die Verlage erzeugt, verwundert die einseitige Berichterstattung der Medien kaum noch; die “Medienkrisen” und der Einbruch bei den Werbeumsätzen in den Printmedien verschärft die Abhängigkeit der Verlage von Wirtschaftsunternehmen und macht den Journalismus anfällig für Korruption und interessensgebundener Lancierung bestimmter Themen und Meinungen, Schleichwerbung und Product Placement. Die Kampagne gegen die gesetzliche Rente ist ein besonders taugliches Beispiel hierfür. Wie massiv gleichzeitig gegen unliebsame Berichterstattung vorgegangen werden kann, veranschaulichte Carsten Maschmeyers Anwaltsriege – im Kampf gegen die Pressefreiheit – selbst.

Dabei muss angemerkt werden, dass die Finanzindustrie zwar ein besonders mächtiger Akteur im politischen System ist, aber neben der Bauwirtschaft, der Pharmaindustrie, den Energiekonzernen, der Nahrungsmittelindustrie nur einer unter vielen ist, die massiven Einfluss auf die Entscheidungsfindung ausüben. Diese Tatsachen verdeutlichen, dass die Struktur der politischen Willensbildung und die Einbindung von Interessensgruppen im politischen Prozess einem fulminanten Wandel unterworfen worden sind. Im Zuge dieses Wandels weitet sich die Praxis der politischen Einflussnahme durch Interessengruppen ständig aus.

Gerade Große Konzerne, welche ihre Unternehmensinteressen seit dem Niedergang des “organisierten Kapitalismus” immer unzureichender durch die Wirtschaftsverbände artikuliert sehen, versuchen im Rahmen des sogenannten “Unternehmenslobbyings” direkten Einfluss auf politische Entscheidungsträger auszuüben. Der klassische Lobbyismus über Verbände für Großunternehmen verliert dabei zunehmend an Relevanz. Dieser Trend zur Intensivierung der “Politikberatung durch Unternehmen” lässt sich an der wachsenden Zahl politischer Unternehmensvertretungen in der Bundeshauptstadt Berlin ablesen, die mittlerweile auf über 100 Konzernrepräsentanten angestiegen ist.

Diese Entwicklung führt zu Verwerfungen, welche, wie bereits in Teil 1 geschildert, an politischer Korruption grenzen und die eine indirekte aber konsequente Folge der Erodierung der “Deutschland AG” sind. Mit der zum Teil zielbewussten Beseitigung des “organisierten Kapitalismus” – nach Michel Albert auch als “Rheinischer Kapitalismus” bezeichnet – ist dem Staat eine effektive Steuerung und Regulierung gesamtwirtschaftlicher Belange abhanden gekommen. Der “organisierte Kapitalismus” war durch die Einbettung der Einzelwirtschaft in gesellschaftliche Bindungen und damit durch die Ergänzung betriebswirtschaftlicher Rationalität durch gesamtwirtschaftliche Perspektiven gekennzeichnet und bestimmte den deutschen, als auch kontinentaleuropäischen Entwicklungspfad bis in die 80er Jahre hinein.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die Merkmale eines Geschäftsunternehmens in der westlichen Gesellschaft: dass es ein viel stetigerer Arbeitgeber ist; dass es zugänglicher ist für Druckausübung durch die Staatsmacht; dass es empfindlicher darauf reagiert, wie die öffentliche Meinung sein Verhalten beurteilt; dass es, besonders wenn es groß ist, stark beeinflusst wird von Überlegungen auf lange Sicht; und vor allem, dass es, wenn es ein maßgebliches Unternehmen ist, dazu neigt, sich als eine permanente Institution zu betrachten mit Funktionen, die sich nicht darin erschöpfen, den größtmöglichen Gewinn zu erzielen, sondern sich manchmal gar nicht damit vereinbaren lassen. Die Zähmung des Marktes – in dem Sinne, dass plötzliche Bewegungen der Marktkräfte nicht länger in das Leben einer zivilisierten Gesellschaft einbrechen dürfen – setzt einen Stil der Privatwirtschaft voraus, der sich eher dem Verhalten gewisser öffentlicher Institutionen angleicht. (Andrew Shonflield)

Mit anderen Worten: Der “Rheinische Kapitalismus” und damit das klassisch-deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft unterlag in viel höherem Maße der Möglichkeit der bewussten Einwirkung der Gesellschaft. Verbunden war dies mit einer Gegenseitigen Kontrolle der Eliten aus Politik, Wirtschaft und Arbeitnehmerverbänden. Das bedeutete, dass durch das dichte Netzwerk durch Kapital- und Personalverflechtungen eine relative Ausgewogenheit der Interessen in den Gremien der politischen Entscheidungsfindung herrschte. Denn politische Einflussnahme ist so alt wie die Politik selbst und demokratietheoretisch eben nur dann illegitim, wenn der Interessensausgleich in Schieflage gerät.

Genau das geschah seit den 90er Jahren aber zusehends und hing – so abstrakt sich das auf dem ersten Blick anhören mag – mit der in den achtziger Jahren beginnenden personellen Entflechtung zwischen den größten deutschen Unternehmen zusammen. Zusätzlich kam der Prozess der Kapitalentflechtung in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in Gang. Die Zahl der Kapitalbeteiligungen zwischen den 100 größten deutschen Unternehmen sank allein zwischen 1996 und 2000 von 168 auf 80. Die Anzeichen zunehmenden Wettbewerbs im deutschen Finanzsektor, auch zwischen Banken und Versicherungen, zeigten sich dabei bereits in den achtziger Jahren.

Mit der Auflösung eben dieser nationalen Organisiertheit kehrten die Privatinteressen der Eigentümer und die einzelwirtschaftliche Perspektive in die Unternehmen zurück. Nicht zuletzt beutete dies die Orientierung am „Shareholder Value“, also die Öffnung der Unternehmen für den Zugriff der Kapitalmärkte und der offensiven Verfolgung der Finanzinteressen der Eigentümer. Das deutsche Modell, das über Jahrzehnte Hinweg erfolgreich für einen gesellschaftlichen Konsens zu sorgen vermochte, wurde dem Neoliberalismus geopfert. Zusätzlich wurde durch diese Entwicklung der Renditedruck der Banken und Finanzdienstleistungsbranche geradezu forciert und die hochriskante Spekulation mit dem Kapital von ahnungslosen Anlegern systemimmanent. Rentenanlagen können hierbei zu kriminellen Spekulationskapital werden.

Anstoß waren nicht zuletzt die Veränderungen auf den internationalen Finanzmärkten: Das Wachstum des Investmentbankings, eines Betätigungsfeldes, das zu den engen Verbindungen deutscher Banken zu inländischen Industrieunternehmen im Widerspruch stand. Der Rückzug der ehemaligen Exekutive der „Deutschland AG“ hat allerdings weitere Implikationen: mit den Finanzunternehmen fallen nicht nur die aktivsten Aufseher über Industrieunternehmen und Verfechter der industriellen Wachstumsstrategien weg, sondern auch die entscheidenden Beschützer vor feindlichen Übernahmen. Durch die Abschaffung der Steuer auf Gewinne aus Beteiligungsveräußerungen bei Aktiengesellschaften wurden durch die Regierung Schröder 2000/ 2001 zusätzliche Anreize zur Kapitalentflechtung geschaffen. Im Einklang mit den politischen Zielen dieser Maßnahme erfuhr die Auflösung der „Deutschland AG“ eine zusätzliche Beschleunigung.

Das Wachstum inländischer institutioneller Anleger und die internationale Diversifizierung der Anlagestrategien angloamerikanischer Pensionsfonds ließ einen neuen Anlegertyp entstehen, der – anders als der passive Privatanleger alten Typs – eine aktive, nach Renditegesichtspunkten organisierte Portfoliopolitik betrieb. (Martin Höpner)

Die Schutzmauern um die „Deutschland AG“ erodierten und veränderten damit das institutionelle Umfeld, in dem auf Unternehmensebene Entscheidungen getroffen wurden. Das sollte natürlich auch auf die politische Landschaft Auswirkungen haben. Die Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes bewirkte eine Wettbewerbsverschärfung auf den Produktmärkten; durch die Deregulierungspolitik der Europäischen Kommission wurden Unternehmen aus den ehemals geschützten Versorgungssektoren erstmals in den Wettbewerb entlassen. Mit den EU-Dienstleistungsrichtlinien betrifft dies eben auch die Versicherungswirtschaft.

Mit der fortschreitenden Entflechtung des korporatistischen Systems der gegenseitigen Kontrolle und einem Pfadwechsel der deutschen Politik zu einem angelsächsischen Entwicklungsmodell wird auch das System der Interessensvermittlung zwangsläufig “pluralistischer”. Doch empirisch offensichtlich ist, dass von gleich verteilten Zugangschancen zu Entscheidungsträgern und von einer gleichberechtigten Teilnahme aller Interessen am politischen Entscheidungsprozess, wie sie der Pluralismus als Theorie der Interessenvermittlung postuliert, kaum die Rede sein kann.

Im Gegenteil, einzelwirtschaftliche Perspektiven bzw. Interessen können sich nun wesentlich leichter durchsetzen, wie das Beispiel der Privatisierungen im Zuge der Rentenreform – die nicht mehr als eine Begünstigung der Finanzdienstleistungsbranche ist – eindrucksvoll belegt. Der bereits im ersten Teil erwähnte Walter Riester war der erste Arbeitsminister, der – ganz im Sinne von AWD und Co. – Mitglieder des Sozialbeirats der Bundesregierung absetzte, um kritische Positionen aus dieser Richtung zu unterbinden: So wurde der Privatisierungs-Skeptiker Winfried Schmähl im Jahr 2000 als Vorsitzender des Beirats gegen Bert Rürup ausgetauscht. Seit dieser Phase wird die wissenschaftliche Politikberatung von Befürwortern des Privatisierungskurses dominiert.

Das bereits im ersten Teil angeschnittene Personalaustauschprogramm “Seitenwechsel” aus der Feder Otto Schilys bekommt in diesem Kontext eine neue Bedeutung. Die Initiierung des Programms im Jahre 1998 fällt zeitlich genau in die Periode, in der die zunehmende Entflechtung und Entsolidarisierung der “Deutschland AG” zu konstatieren ist. Schilys Intention war es möglicherweise, die personelle Entflechtung zu kompensieren; nur das seit 2004 nun jene Lobbyisten als externe Berater und Mitarbeiter in den Ministerien tätig werden, die lediglich den einzelwirtschaftlichen Interessen der Unternehmen verpflichtet sind. Eine neue Generation von Entscheidungsträgern der Wirtschaftsverbände hat die alten korporatistischen Eliten und mit ihr die Sozialpartnerschaft verdrängt. Die Gewerkschaften, zunehmenden zersplittert und marginalisiert, spielen als Gegenpol kaum noch eine Rolle. Die klassischen institutionellen Beziehungen des Verbändesystems werden durch informelle Beziehungen neuen Typs ersetzt.

Mit dem Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks boten sich die Voraussetzung für eine „Schock-Strategie“, wie die kanadische Journalistin und Antiglobalisierungsaktivistin Naomi Klein die Methode der Neoliberalen zur Umwandlung der Volkswirtschaften nennt. Das Ereignis, egal ob durch ein politisch-historisches Erdbeben oder eine Naturkatastrophe hervorgerufen, wird von den Marktradikalen als „entzückende Marktchance“ begriffen, um reinen Tisch zu machen und eine Gesellschaft nach marktwirtschaftlichen Prinzipien von Grund auf neu zu errichten. Genau dies ist nach 1990 in Deutschland und in Osteuropa geschehen. Die letzten Dämme riss die Regierung Schröder mit der erwähnten Abschaffung der Steuer auf Gewinne aus Beteiligungsveräußerungen im Besonderen und der Deregulierung des Finanzplatzes Deutschland im Allgemeinen ein.

Doch auch bis Mitte der 90er Jahre war es der Finanzdienstleistungsbranche aufgrund des stabilen, kohärenten und auf das Sozialversicherungsparadigma verpflichteten Kerns des Politikfeldes Alterssicherung nicht möglich gewesen, ihre rentenpolitischen Zielvorstellungen in die Sozialpolitik einzubringen und eine Umorientierung in ihrem Sinne zu befördern. Die Wende scheiterte an der relativ starken Geschlossenheit der politischen Klasse.

Die Geschlossenheit begann zu bröckeln, als die  soziale Einheit über die Sozialversicherungsträger, insbesondere bei der Rente finanziert wurde. Dieser Fehler Helmut Kohls führte zu Verwerfungen, die bis heute nachwirken. Durch die einseitige Belastung der Sozialkassen (statt der Finanzierung über Steuern), die nun Ansprüche von Menschen bedienen mussten, die nie eingezahlt hatten, entstand ein Finanzierungsdruck, der für die Finanzdienstleistungsbranche das Einfallstor bot. Die Politik unter der Rot-Grünen Koalition sprengte mit der Änderung der Rentenformel und den Einstieg in die private Vorsorge mit der Riester- und Rürup-Rente nicht nur den Konsens des Sozialversicherungsparadigmas, wie Michel Buckley in dem Artikel Die Deutsche Einheit und das Ende des Rheinischen Kapitalismus darlegt, sondern führte auch zu einer beispiellosen Welle der Privatisierung von öffentlichen Eigentum und der Daseinsfürsorge insgesamt.

Der Komplex, der also keinesfalls nur die private Versicherungswirtschaft begünstigt, fußt demnach auf zwei Säulen, die einander bedingen: Einerseits die im Rahmen der neoliberalen Schocktherapie in die Welt getragene Ideologie der vom Markt getragenen Runderneuerung und Privatisierung, andererseits der Machtgewinn einzelwirtschaftlicher Interessen in den politischen Entscheidungsgremien. Beide Entwicklungen begünstigen sich gegenseitig, sind doch nicht zuletzt neoliberale Think-Tanks wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, aber auch andere angeblich unabhängige wissenschaftliche Institute – die u.a. den Abbau der staatlichen Sicherungssysteme fordern – von der Privatwirtschaft finanziert (“Wissenschaftslobbyismus”). Hier zeigt sich auch, wie die Umsetzung des neoliberalen Modells des “schlanken Staates” zu einem Aderlass an Personal und Sachverstand im öffentlichen Dienst und den Ministerien führt. Das damit einhergehende “Outsourcing” hoheitlicher Kompetenzen fördert die Möglichkeiten einseitiger Einflussnahme weiter.

Die Schwäche des “organisierten Kapitalismus” lag wohl darin, dass seine Merkmale ihre Entsprechung in ökonomischen Kennziffern fanden: Die Absicherung des Unternehmenswachstums durch die Subventionierung wenig profitabler Unternehmensteile kam den Beschäftigten, den Kreditgebern und dem öffentlichen Interesse zu Gute. Die Verletzung rein einzelwirtschaftlicher Logiken fand ihren Niederschlag in niedrigen Börsenbewertungen. Die Wahrnehmung von Funktionen, die der Profitmaximierung zuwiderliefen, war aus Sicht der Neoliberalen der Wunde Punkt, von dem aus sich dieses Modell diskreditieren liess. Es war also kein Wunder, dass die Aussicht auf höhere Rendite und Profite, die deutschen Wirtschaftsunternehmen schnell für die Rezepte des Neoliberalismus empfänglich werden liessen. Dieser Rückkopplungseffekt versetzte den “Rheinischen Kapitalismus” als auch den Grundlagen einer unabhängigen Politikberatung und ausgewogenen Interessenspolitik den Todesstoß.

Die Eliten des Korporatismus waren Virtuosen der horizontalen Organisierung von Gleichen und des politischen Interessenausgleichs mit anderen; die des Post-Korporatismus (oder des Neoliberalismus, Anm. d. Red.) sind Spezialisten in der hierarchischen Organisation von Untergebenen und im Wettbewerb mit anderen Organisationen im Markt. Ihre Spezialität ist nicht das Verhandeln von Kompromissen, sondern die Schöpfung und Abschöpfung von kommerziellen Werten. (Wolfgang Streeck)

Es bleibt festzuhalten, dass durch die geschilderten Verwerfungen ein Teufelskreislauf in Gang gesetzt wurde, der die fatale Dynamik der lobbyistischen Durchdringung politischer Entscheidungsprozesse und die Entdemokratisierung derselbigen immer weiter vorantreibt. Damit werden postdemokratische Strukturen, die sich durch ein weiterexistieren formaldemokratischer Institutionen ohne Leben charakterisieren, zusehends realer. Mit dem Ende des institutionalisierten Interessensausgleiches des beschriebenen deutschen Nachkriegsegalitarismus, kehren wir zu einer Herrschaftsstruktur zurück, in der Politik (und Rentenpolitik) gegen die fundamentalen Interessen der Mehrheit durchzusetzen ist.

Zum Thema:

– Die Deutsche Einheit und das Ende des Rheinischen Kapitalismus

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