Voraussetzungen, Charakter und Perspektiven aus intellektueller Sicht
Mit der Übersetzung von drei kurzen Texten spanischer Intellektueller (Ángeles Diez, Santiago Alba Rico und Carlos Fernández Liria) zu den Protesten in ihrem Land soll auch deutschsprachigen Lesern die Möglichkeit gegeben werden, eine erhellende Innenansicht auf die Voraussetzungen, den Charakter und die Perspektiven der spanischen Demokratiebewegung zu werfen.
Der erste Text stellt die Ereignisse in einen historischen Kontext.
Eine tiefe Legitimitätskrise
Ángeles Diez[1]
Im politischen System Spaniens baut sich seit Jahren eine tiefe Legitimitätskrise auf. Der Ausgangspunkt dieser Krise ist beim Prozess der Transición [Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie] anzusiedeln, der, statt an die Demokratie anzuknüpfen, die während des Bürgerkrieges „umgebracht“ wurde, einen wichtigen Teil des Franquismus weiterführt. Es ist nämlich so, dass zu Beginn der Transición die soziale Linke (Quartierbewegungen, Basisgruppen der Gewerkschaften und der linken Parteien, christliche Basisgruppen und Autonomiebewegungen) nachgibt, Konzessionen macht, sich langsam zurückzieht oder einfach nach Hause geht. All dies, um eine erneute bürgerliche Konfrontation zu vermeiden.
Nach all den Jahren hat sich die „spanische Demokratie“ weder zu einem System vermehrter Partizipation der Bürger entwickelt noch zu einer Vertiefung der politischen Rechte geführt. Sie hat weder eine wirkliche Gewaltentrennung erreicht noch die franquistische Machtstruktur aufgelöst. Einzig bei der Armee schaffte sie das, nicht aber bei der Gerichtsbarkeit, nicht beim Amt des Staatsoberhaupts und auch nicht bei der Kirche. Der Apparat und die gesellschaftliche Basis des Franquismus haben weiterhin grosse Macht und politischen Einfluss.
Die wechselweise Machtausübung der PSOE [Spanische Sozialistische Arbeiterpartei] und der PP [Partido Popular] hat das politische Spektrum verengt und die Möglichkeit einer echten Demokratie gekappt – zumindest die einer Demokratie ohne Bücklinge vor dem Franquismus. Die PSOE hat die Aufgabe übernommen, das Wirtschaftssystem auf Ersuchen der Europäischen Union zu demontieren (Anpassung der Wirtschaft in den 80er Jahren, Demontage des öffentlichen Sektors). Als die Wirtschaftskrise um sich griff, hat man mit dem Gespenst des Franquismus herumgefuchtelt, und die PP übernahm in diesem Staffellauf den Stab, indem sie uns wissen ließ, „alles könnte schlimmer sein“ – das heißt mit weniger Manieren und mehr Repression.
Diese Situation hat sich hingezogen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Wende: Die Wirtschaftskrise hat sich verschärft, und der grösste Teil der jungen, erwachsenen Bevölkerung hat weder den Franquismus erlebt noch unter der Transición gelitten. Sie ist deshalb zu einem Grenzpunkt des Überdrusses gelangt.
Am Sonntag [gemeint ist der Wahlsonntag, 22. Mai] gab es auf dem Platz [Puerta del Sol] ein Plakat mit der Aufschrift: „Ich habe für die Sonne gestimmt.“ Die 25’000 Personen, die „am Samstag an der Puerta del Sol der Legalität“ trotzten, die tausende Personen, die sich gestern auf der Plaza de Cataluña friedlich [der Räumung eines Lagers] widersetzten, haben in das politische Leben eine unabhängige Variable eingeführt: Es gibt einen immer grösser werdenden Teil der Bevölkerung, der die Angst verloren hat und einen wirklichen Wechsel will.
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Wie soll sich die politische Linke zur Bewegung 15. Mai stellen? Mit der Übersetzung der zweiten von drei Analysen spanischer Intellektueller zu den Protesten in ihrem Land soll eine ungefähre politische Verortung der Bewegung ermöglicht werden, wenngleich diese vor allem durch Heterogenität auffällt.
Die Repolitisierung ist eine Revolution
Santiago Alba Rico[2]
Ich glaube, grundsätzlich sollte man drei Fragen zu beantworten versuchen.
Ist die Bewegung 15. Mai eine Revolution?
Nein, ganz offensichtlich nicht. Die Bewegung 15. Mai hat weder das System umgestaltet noch eine Regierung gestürzt. Sie hat nicht einmal eine wirkliche Konfrontation bewirkt. Und trotzdem gibt es historische Umstände, in denen der einzige Wandel, den man erzielen kann – und das ist enorm –, etwas sehr Einfaches und Unerwartetes ist, nämlich dass überhaupt etwas geschieht. Ein Wunder ist schlicht ein Ereignis, das zwar nicht gegen die Naturgesetze verstößt, aber gegen die Erwartungen der Menschen – und in diesem Fall gegen das Unerwartete. Die Tatsache, dass es weder die Rechte noch die Kirche ist, die die Strasse in Beschlag nimmt, so wie es zuweilen in den letzten Jahren geschah, die Tatsache, dass „wilde Demokraten“ die Plätze erobern und in Zentren der politischen Alphabetisierung verwandeln, ist für sich selbst ein so kleiner Erfolg und doch so groß in seinem Kontext, dass wir in sehr treffender Art von einem Fastnichts sprechen können, aus dem alles entsteht – oder entstehen kann. Und in Bezug auf das Selbstverständnis der Bewegung gibt es etwas sehr Bezeichnendes anzumerken: Es ist keine Revolution, doch die Protagonisten sprechen öffentlich von Revolution, ein Begriff, der in die Geschichtsbücher und die Werbesprache verbannt wurde. Die Repolitisierung ist eine Revolution. So erleben es die Demonstrierenden. Und auch Wortprägungen leiten Veränderungen ein, zumindest auf der Ebene des Bewusstseins.
Steht die Bewegung 15. Mai links?
Nur von der Möglichkeit her. Ähnlich wie es in der arabischen Welt mit den linken und islamistischen Kräften geschieht, erwischt die Bewegung 15. Mai alle etwas auf dem falschen Fuß. Dass sie nicht links steht, beweist die Tatsache, dass sie bei den Wahlen weniger der PP denn der PSOE geschadet hat und dass die UPyD [Unión Progreso y Democracia, dt. Union Fortschritt und Demokratie] profitieren konnte, eine autoritäre und ultranationalistische Partei mit einem äußerst populistischen demokratischen Diskurs, der aber völlig von ökonomischen und sozialen Inhalten entleert ist. Auch die starke Unterdrückung – und Selbstzensur – politischer Begrifflichkeit weisen darauf hin, ebenso das Beharren auf dem Konsens und der überwiegend fröhlich-selbstbezogene Charakter der buntscheckigen Versammlungen, bei denen die Konfrontation (mit dem System, das sie herausgefordert haben und weiterhin herausfordern) um jeden Preis vermieden wird.
Soll die Bewegung 15. Mai von der Linken unterstützt werden?
Zweifellos! Das ist eine einzigartige, unverhoffte, äußerst glückliche Fügung. Denn alles, was vorher gesagt wurde, ist weniger bedeutsam als die Tatsache, dass die Strassen sich in Schulen verwandelt haben. Die Spontaneität hat sich in überaus ernsthafte und aktive Arbeitsgruppen verfestigt, in denen nun der ganze Schatz an Militanz und Kenntnissen, den sich die Linke unter schwierigsten Bedingungen angeeignet hat, ein Publikum findet, das wenig Kenntnisse hat, aber bereit ist zuzuhören und zu lernen. Was die Bewegung 15. Mai in Gang gesetzt hat, ist ein riesiger politischer und organisatorischer Lernprozess, der nun radikalisiert werden muss. Die Voraussetzungen sind da: Die Schleifung der Demokratie schockiert zweifellos, erfolgt diese doch nicht durch Betrug, nicht durch Manipulationen und Lügen (zumindest nicht nur), sondern durch Wirtschaftsstrukturen, die ebenso den demokratischen Charakter der Institutionen unterlaufen, wie sie im Sozialen und im Arbeitsleben verheerend wirken. Auf intuitiver Ebene weiß man bereits, dass der Kapitalismus ein Feind der Demokratie ist. Sich von all dem in einem Augenblick zu distanzieren, in dem die antikapitalistische Linke marginalisiert ist – um nicht zu sagen: geradezu besiegt –, wäre ein großer Fehler. All dies beginnt ja erst, und wir müssen dabei sein. Man wählt nicht die Gelegenheiten, vielmehr bieten sie sich historisch als Folge von Unbehagen, von Fehlern, ja sogar von Wahnvorstellungen. Diese Bewegung ist eine Gelegenheit; nicht die, die wir uns gewünscht hätten, sondern die, die uns das Zusammenspiel von eigenen Anstrengungen, Zufall und Unzufriedenheit bietet. Wenn sich Wasser plötzlich und entgegen jeder Voraussicht in Wein verwandelt, dann bitten wir nicht auch noch darum, dass es möglichst Rioja sei. Freuen wir uns und gehen wir an die Arbeit, damit die Ernte gut wird!
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Die letzte der drei Analysen sieht die „Spanische Revolution“ im Zusammenhang mit dem Niedergang des neoliberalen Gesellschaftsmodells
Wir werden viele Puertas del Sol sehen
Carlos Fernández Liria[3]
Ich bin der Meinung, dass die gegenwärtige Krise Teil einer anderen, weiterreichenden Krise ist. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat der Kapitalismus immer wieder nach Wegen gesucht, um die Sackgasse seines Wirtschaftssystems zu durchbrechen, ein System, das gezwungen ist zu wachsen und anzuhäufen – und dies auf einem begrenzten Planeten, auf dem sich Energieressourcen und Rohstoffe immer mehr erschöpfen. Der Kapitalismus kann seine Gewinne nicht mehr aufrechterhalten, ohne den Wirtschaftsprozess zu beschleunigen.
Aus diesem Grund begann er in den 80er Jahren eine Revolution gegen die ärmsten Klassen des Planeten. Es war jene Zeit, wo der Staat sich von der Wohlfahrt zu verabschieden begann und der Mittelstand proletarisiert wurde. Danach ergriff das Finanzkapital die Flucht nach vorne, und es begann das, was Naomi Klein den Katastrophen-Kapitalismus nannte. Der Kapitalismus kann nicht mehr nur keinen Wohlfahrtsstaat mehr hinnehmen, sondern nicht einmal mehr eine Gesellschaft, die diesen Namen verdient. Er funktioniert besser unter den Bedingungen verbreiteter sozialer Verwüstungen, wie zum Beispiel im Irak. Was Galbraight die Revolution der Reichen gegen die Armen genannt hat, führt zu einem verwüsteten Planeten, und zwar sowohl in sozialer wie in ökologischer Hinsicht.
Wir stehen an einem Abgrund, doch die einzige Lösung des Kapitalismus für die Probleme des Kapitalismus ist mehr Kapitalismus, das heißt, der Vorgang, der uns in eine nie dagewesene menschliche Katastrophe stürzen wird, beschleunigt sich noch. Es wird überdeutlich: Nach einer Million Jahren der Existenz und vierhundert Jahren Kapitalismus steht der Mensch an einem Punkt, wo er den Planeten zerstört. Der Kapitalismus dauerte kaum einen Augenblick, einen Lidschlag, und doch erweist er sich bereits als selbstmörderisch.
Letztlich ist, was in Spanien passiert, irgendein Kapitel in diesem Panorama. Wir werden in naher Zukunft viele Puertas del Sol, viele Qasbas und viele Tahir-Plätze sehen. Die Völker werden sich dem Kampf stellen und sich gegen diesen Wahnsinn, diese Schurkerei wehren.
Und so schätze ich die „Spanische Revolution“ und die Wahlresultate ein: Alles weist darauf hin, dass sich die Begrifflichkeiten umgedreht haben: Die Systemgegner auf der Puerta del Sol sind in Wahrheit Systembewahrer, unter anderem indem sie den Planeten bewahren wollen. Auch wollen sie den Gemeinsinn bewahren, die Menschenwürde, die Besonnenheit, die Vorsicht. Jene, welche bei den Wahlen massenhaft für die PP [Partido Popular] gestimmt haben, sind hingegen die Verfechter der neoliberalen Revolution, der grausamsten, zerstörerischsten und radikalsten Revolution, die je in der Geschichte stattgefunden hat.
Man muss sie aufhalten, diesen Unsinn, diesen Wahnsinn stoppen. Immer mehr Menschen sehen das so. Und deshalb, denke ich, wird man nach diesem Sommer feststellen können, dass die „spanische Revolution“ erst ganz am Anfang steht.
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- Ángeles Diez (geb. 1965 in Madrid), Doktorin der Politikwissenschaft und der Soziologie an der Universidad Complutense in Madrid, wo sie als Titularprofessorin wirkt. Mitglied der AIRE Comunicación (Asociación de Educomunicadores). Mitglied des Herausgeberrats der Zeitschrift Pueblos. Autorin zahlreicher Studien auf dem Gebiet der Sozial- und Kommunikationswissenschaften. Sie hat über diese Themen mehr als zehn Bücher veröffentlicht und schreibt in zahlreichen europäischen akademischen Zeitschriften und auf alternativen Webseiten.
- Santiago Alba Rico (Madrid, geboren 1960) studierte Philosophie an der Universidad Complutense in Madrid. Zwischen 1984 und 1991 war es Drehbuchautor bei drei spanischen Fernsehprogrammen, darunter bei der bekannten Sendung La Bola de Cristal (Die Kristallkugel). Seit 1988 lebt er in arabischen Ländern, wo er Werke des ägyptischen Poeten Naguib Surur und später des irakischen Romanautors Mohammed Jydair übersetzte. Er war auch Drehbuchautor des Films Bagdad-Rap (2004) und schrieb das Theaterstück B-52, das 2010 aufgeführt wurde. In den letzten Jahren arbeitete er bei unterschiedlichsten Medien, bei digitalen ebenso wie bei Printmedien (z.B. beim bekannten alternativen Informationsnetz Rebelión, bei Archipiélago, Ladinamo, Diagonal). Er ist Autor einer Vielzahl von Büchern, die in Spanien und Lateinamerika veröffentlicht wurden und für die er wichtige Preise und öffentliche Anerkennung erhielt.
- Carlos Fernández Liria (geb. 1959, Zaragoza), Philosoph, Schriftsteller, Drehbuchautor, Essayist und Philosophieprofessor. Titularprofessor am Departement für Metaphysik und Erkenntnistheorie der Philosophischen Fakultät der Universidad Complutense in Madrid. Während der 80er Jahre arbeitete er als Drehbuchautor beim Fernsehen. Neben seiner Lehrtätigkeit als Philosophieprofessor hat er verschiedene Bücher zu Sachgebieten wie Philosophie, Anthropologie und Politik veröffentlicht. Sie werden sowohl in Spanien wie in Lateinamerika gelesen. Ferner ist er Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften und digitaler Medien wie Gara, Público, die Zeitschrift Archipiélago und anderen.
Diese drei Artikel sind mit freundlicher Erlaubnis von Walter B. von walbei.wordpress.com übernommen und wurden ebenfalls bei Nics Bloghaus publiziert. Das Movimiento 15-M plant derweil die nächste Massenmobilisierung für den 19. Juni 2011.
Zum Thema:
– Live-Ticker „Spanische Revolution“ – Europa auf der Straße
– Eine europäische Sache – Kommentar der Redaktion zu den Ereignissen
4 Kommentare zu "Protestbewegung Movimiento 15-M"