Weltanschauung
Abschied vom Liberalismus

Eine Lossagung vom Neo- oder Wirtschaftsliberalismus kann nur dann gelingen, wenn auch der Liberalismus als solches nicht länger gepriesen wird.

liberalismus

Der Spiegel-Journalist Veit Medick ist ein geradezu idealtypischer Vertreter seines Berufsstandes im Deutschland des Jahres 2016*. Werdegang: Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen studiert, Volontariat bei der taz, jetzt Redakteur bei Spiegel Online. Doch nicht nur seine Vita ist bilderbuchmäßig, sondern auch sein Schreibstil: In einem noch recht neuen Artikel über Donald Trumps Strategie bezeichnet er dessen Zielsetzung, amerikanische Arbeitsplätze vor den Gefahren der Globalisierung schützen zu wollen, als „nationalistisch“.

Zum Ausdruck kommt in dieser für sich allein genommen recht belanglosen Meinungsäußerung eines nicht wirklich prominenten Journalisten nicht einfach nur eine Position, die – abermals wie aus dem Bilderbuch – von der ignoranten Arroganz einer massenmedialen Elite kündet: Heimische Arbeitsplätze vor der Globalisierung schützen zu wollen, wo diese uns doch ausschließlich liberale Aufklärung und weltbürgerlichen Kosmopolitismus bringt – pfui, wie kann er nur! Nationalismus. Böse. Rechts. Nazi!

Es kommt auch mehr darin zum Ausdruck als ein direkter Hinweis zur Beantwortung der Frage, warum zahlreiche Menschen in Deutschland und darüber hinaus sich Begrifflichkeiten wie jener der „Lügenpresse“ oder – deutlich akkurater – der „Lückenpresse“ bedienen, gegen die Medien wie Spiegel Online, die taz oder die SZ auch mit dem gefühlt hundertsten Artikel über „Fake News“ nicht ankommen werden, da es eben nicht ausreicht, den Eindruck von elitärer Arroganz und Realitätsferne hinter den Redaktionsschreibtischen zu bekämpfen, indem man wieder nur mit dem Finger auf andere zeigt.

Nein, zum Ausdruck kommt in dieser journalistischen Belanglosigkeit viel mehr. Zum Ausdruck kommt eine Allianz von nur im tagespolitischen Detail unterschiedlichen Weltanschauungen, welche geeint sind durch ihren (neo-)liberalen Grundkonsens, der sich nur in Form von Flügeln und programmatischen Prioritätensetzungen intern unterscheidet. Man ist „weltoffen“, man ist „kosmopolitisch“, man befürwortet die Globalisierung, man steht für offene Grenzen, man steht für (vor allem auch wirtschaftliche) Freiheit, man fühlt sich dabei ungeheuer progressiv, weltläufig, urban, international.

Die Allianz von Wirtschaftsliberalismus und Linksliberalismus

In einem Interview mit den Nachdenkseiten hat Le-Bohémien-Gründer Sebastian Müller präzise zusammengefasst, worum es bei dieser neoliberalen Allianz geht:

Die Neoliberalen wollen vor allem den freien Verkehr von Kapital, Linke und Grüne den von Personen. Beides hängt untrennbar miteinander zusammen und ergänzt sich damit natürlich gut. Selbst wenn die Personen, die einmal die traditionelle Klientel der Sozialdemokratie waren, am wenigsten davon profitieren. (…) Bis heute begreift man nicht, dass beides, soziale Rechte und Demokratie, ohne den Nationalstaat nicht zu machen sind. Damit geht die Linke den Neoliberalen auf den Leim, die den Nationalstaat in gewisser Weise auch überwinden, zumindest aber auf seine Funktion für den Markt beschränken wollen.

Man könnte einen Schritt weiter gehen und attestieren: Mindestens die Linksliberalen bei SPD und Grünen sind längst selbst „neoliberal“, und ihre Parteien ziehen, zusammen mit der politisch komplett kontingent gewordenen Merkel-CDU, neoliberal denkende Menschen an. Ja, sogar noch erfolgreicher als die ursprüngliche Original-Partei des Neoliberalismus, die FDP: Sie verbinden, noch stärker als die Freien Demokraten, ihren Wirtschaftsliberalismus mit linksliberalem Gedankengut und damit mit einer politischen Assoziation, die in der heutigen, moralistisch geprägten politischen Kultur anschlussfähiger ist. Umwelt und Frieden sind auch irgendwie wichtig (von der Bundesrepublik mitgemachte oder mitgetragene Kriegseinsätze sind lediglich „humanitäre Interventionen“), gesellschaftspolitische Liberalität natürlich auch, und, nicht zuletzt, die offenen Grenzen und die Willkommenskultur.

Wirtschaftsliberale und Linksliberale stehen hier, sofern sie sich nicht ohnehin schon in ein- und denselben Personen vereinigen, was aus den genannten Gründen immer häufiger vorkommt, in einem symbiotischen Verhältnis miteinander: Die „Willkommenskultur“ ist auch ein „wirtschaftlicher Standortfaktor“, der freie Verkehr von Kapital ist in vielen Fällen, mit Sebastian Müller gesprochen, an den freien Verkehr von Personen gekoppelt, und umgekehrt. Zuwanderung schafft billiges Humankapital. Die Ablehnung von „konservativem“ und / oder „sozialistischem“ Protektionismus soll Freihandel ermöglichen, selbstverständlich vor allem in der „westlichen Wertegemeinschaft“. Forciert werden diese Positionen nicht zuletzt von linksliberalen Sponsoren wie dem Milliardär George Soros, der hohe Summen in entsprechende Think-Tanks weltweit investiert. Wie Sebastian Müller im besagten Interview präzise (und ohne der Verlockung verschwörungstheoretischer Argumente zu erliegen) beschreibt, handelt es sich hierbei um großangelegte Netzwerke, die Politik, Wirtschaft und Massenmedien umfassen und die unser Denken umfassend zu prägen versuchen.

Alles, was diesem Prozess, in den sich auch Begleitentwicklungen wie etwa der amerikanische Kulturimperialismus glatt einfügen, entgegenwirkt, muss aus dieser Sicht politisch bekämpft werden: Der Rechtspopulismus-Vorwurf ist mittlerweile nahezu vollständig in die politische und mediale Kommunikation übergegangen, Patriotismus ist insbesondere in Deutschland im Grunde nur noch als Fußballpatriotismus oder als durchrationalisierter „Verfassungspatriotismus“ denkbar. Sozialismus muss stets zur Sozialdemokratie der Linkspartei-Reformer aus den neuen Bundesländern abgefedert werden, um politisch anschlussfähig zu sein – und die AfD war so lange kein „Enfant terrible“, wie sie noch unter ihrem früheren Vorsitzenden Lucke vor allem einen offenen Rechtsliberalismus predigte.

Der Neoliberalismus hat auch eine außenpolitische Komponente: Seine Anhänger sehen sich – aufgrund der neoliberalen Führungsrolle der USA – stets als „Transatlantiker“ (wiederum ein eigenes politisches und mediales Netzwerk), mitunter in einer aggressiv-kriegsbefürwortenden Variante, die sich als Neokonservatismus bezeichnen lässt. Damit einher gehen Konstanten wie die Zielsetzung der Demokratie-Verbreitung (zur Not auf militärischem Wege), Blockdenken („der Westen“ gegen Autokratien wie Russland und andere) und Geringschätzung von ordnungsbildenden Prinzipien wie dem der nationalstaatlichen Souveränität. Wer das falsche Regierungssystem hat, der wird, wenn nicht militärisch, dann doch zumindest subversiv – über Think-Tanks, NGOs und Stiftungen vor Ort – „demokratisiert“. Die aggressiv-„humanitär“-interventionistischen außenpolitischen Vorstellungen etwa der deutschen Grünen und die kriegerische Programmatik der linksliberalen demokratischen US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zeigen das neoliberale Bündnis in der außenpolitischen Dimension auf.

Die hier skizzierten Vorstellungen von Linksliberalen und Wirtschaftsliberalen bilden den neoliberalen Grundkonsens. Deutlich sollte damit auch werden, dass der Begriff des „Neoliberalismus“ mehr ist als bloß ein anti-kapitalistischer Kampfbegriff, dass er eine ausgearbeitete Bezeichnung für ein politisches Denken ist, das sowohl, wie hier der Fall, der eigenen Abgrenzung, als auch der eigenen Verortung dienen kann. Neoliberalismus ist mehr als ein diffuses Etwas, es ist ein politisch reales und empirisch fassbares Phänomen.

Linke, sozialliberale und nationalliberale Lebenslügen

Die oben beschriebene politische Diagnose offenbart ein ganzes Konglomerat an Lebenslügen im Kontext derer, die sich doch eigentlich als dezidiert nicht neoliberal oder als nicht linksliberal verstehen (es sei an dieser Stelle selbstkritisch hinzugefügt, dass auch der Autor dieser Zeilen ihnen mehrere Jahre seines Lebens erlegen ist – dennoch ist es wichtig, sie letztlich zu erkennen).

Eine klassisch „linke“ Lebenslüge besteht in der Vorstellung, man könne auf eine sozialere Gesellschaft hinsteuern, ohne dabei den Nationalstaat als historisch zutiefst erfolgreiche Institution zu bewahren. Und dieses „Bewahren“ besteht nicht einfach nur in dem formalen Weiter-Bestehen-Lassen oder in dem Delegieren staatlicher Funktionen an andere, supranationale Organisationen wie die EU, sondern es bedeutet den Schutz jener Elemente, die für den Nationalstaat wesensprägend sind: Allen voran seine Souveränität und Selbstbestimmung, seiner Grenzen, seiner kollektiven Identität. Der (forcierte) Wegfall von Souveränität und Selbstbestimmung, von Grenzen und Identität schafft kein soziales Miteinander – er zerstört es, indem er soziale Konflikte herbeiführt, sowohl um Besitz und Materielles als auch um Macht und Deutungshoheiten.

Und hierbei ist es völlig egal, ob man diese persönlich nachvollziehen kann oder nicht, ob man, wenn es so käme, in diesen Konflikten partizipieren würde oder nicht, ob man Partei ergreifen würde oder ob man vermitteln würde und ob man derartige Verteilungskämpfe und Machtkonflikte persönlich für begründet hält oder nicht – sie würden kommen, weil andere sie für begründet halten. Allein das sollte Grund genug sein, sich von der Lebenslüge einer globalen Grenzenlosigkeit zu verabschieden.

Es ist bei der politischen Linken üblich geworden, die Forderung nach einem solidarischen Internationalismus mit dem Globalismus der Neoliberalen zu verwechseln: Der solidarische Kampf der Völker gegen Unterdrückung und Ausbeutung – versehen mit einer Bezeichnung, die den Begriff der „Nation“ eben durchaus noch enthält! – wird verwechselt mit der Auflösung von Grenzen und Staatlichkeit, womit man ausgerechnet auf jene hereinfällt, die schon Anfang der 90er Jahre triumphierend das „Ende der Geschichte“ zugunsten einer globalen, freien, bald staatenlosen Marktwirtschaft verkündet haben. Es wird Zeit, dass die Linke diesen historischen Fehler korrigiert und erkennt, dass das primäre Bollwerk gegen das, was sie seit jeher bekämpft hatte, der Nationalstaat darstellt – mit allen Elementen, die nun mal zu ihm gehören (s. o.), denn es gibt ihn nur ganz oder gar nicht. „Ein bisschen Selbstbestimmung“ ist keine Selbstbestimmung, „ein bisschen Identität“ ist keine Identität und „ein bisschen Grenzhoheit“ (die de facto dann doch wieder von autokratisch-islamistischen NATO-Machthabern am Bosporus abhängt) ist keine Grenzhoheit.

In eine ähnliche Richtung, nur auf anderen Politikfeldern verortet, geht die Lebenslüge der „Sozialliberalen“, welche sich, motiviert durch die für sie hoffnungsvollen, aber gesamthistorisch gesehen kurzzeitigen Entwicklungen im Westdeutschland der 70er Jahre, der Vorstellung hingegeben haben, es könne einen fortdauernden Kompromiss zwischen sozialen Rechten einerseits und Marktwirtschaft andererseits geben. Eine Illusion, die spätestens mit den Reformen der linksliberalen (!), rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder ihr Ende fand.

In Zeiten der Globalisierung und weltwirtschaftlicher Interdependenzen unterliegt auch eine „Soziale Marktwirtschaft“ stets der Erpressbarkeit sowohl der „Global Player“ als auch der ihnen dienlichen neoliberalen Netzwerke. Die Politik der Ära Schröder in der BRD wie auch jene der Ära Blair in Großbritannien sind lebendige Beispiele dafür. In jüngerer Zeit zeigen die Entwicklungen innerhalb der EU infolge der Euro-Krise die Interdependenzen abermals auf. Die sozialliberale Grundhaltung, welche sich u. a. in dem bundesrepublikanischen Grundkonsens der „Sozialen Marktwirtschaft“ traditionell widerspiegelt, ist insofern – konsequent zu Ende gedacht – ein Versuch, Unvereinbares zu vereinen. Ein Kunstgeschöpf, das vielleicht guten Willen, aber letztendliche politische und weltanschauliche Inkonsequenz bedeutet, die an sich selbst scheitern muss. Und dieses Scheitern liegt in der liberalen Komponente des sozialliberalen Modells begründet.

Der dritte Typus der Lebenslügen lässt sich beim Rechts- oder Nationalliberalismus identifizieren, dessen Vertreter sich heute noch vor allem in der FDP und, angeführt vom Co-Vorsitzenden Jörg Meuthen, in Teilen in der AfD wiederfinden lassen. Mit dieser Lebenslüge einher geht die Illusion, man könne auf ein Mehr an Nationalbewusstsein, an Patriotismus und an Zuwanderungsskepsis hinwirken, während man zugleich im Inland und im eigenen Volk über neoliberale Forderungen (längere Lebensarbeitszeit, Ablehnung von Mindestlohn, Agitieren gegen Erbschaftsteuer etc.) soziale Verteilungskämpfe fördert und sich mit politischen Akteuren verbrüdert, die der Globalisierung und „westlichem“ Blockdenken das Wort reden. Hier gilt die Problematik des Sozialliberalismus quasi in spiegelbildlicher Weise: Auch das Kunstgeschöpf „Nationalliberalismus“ muss an sich selbst scheitern.

Der „politische Liberalismus“ als Abgrenzung zum Neoliberalismus?

Dieser Artikel trägt sehr bewusst nicht den Titel „Abschied vom Neoliberalismus“, sondern den Titel „Abschied vom Liberalismus“. Warum ein Abschied vom reinen Wirtschaftsliberalismus nicht ausreichen kann, sollte der letzte Abschnitt deutlich gemacht haben. Warum aber auch ein bloßer Abschied vom Neoliberalismus nicht ausreichen, sondern nur ein Abschied vom Liberalismus als solchem als konsequenter politischer Schritt bewertet werden kann, soll im Folgenden dargelegt werden.

Der Begriff des „politischen Liberalismus“ wird auch von nicht wenigen Linken oft als positiver Gegenbegriff zur Variante des Wirtschafts- oder des Neoliberalismus verstanden, gewissermaßen als „der nette Zwillingsbruder“ des bösen Buben, welchem wir unsere Grundrechte, ja sogar die universalen Menschenrechte zu verdanken haben. Der uns also vor Diktaturen schützt und dem Bürger seine mündige Rolle sichert. Der das gute Individuum vor das böse Kollektiv stellt. Und der aus all diesen Gründen von den Parteien der „demokratischen Mitte“ befürwortet wird.

Eine solche Romantisierung verkennt die beträchtlichen Problematiken, die mit dem Phänomen des sogenannten politischen Liberalismus verknüpft sind. Denn letzten Endes ist es nicht denkbar ohne die konsequente Fortführung hin zu wirtschafts- und letztlich neoliberalem Gedankengut. Ein systemtheoretischer Blick auf das Phänomen vermag für eine Erklärung dieser These hilfreich sein.

Aus dieser Sichtweise heraus ist die makrosoziologische Übersetzung dessen, was der klassische politische Liberalismus anstrebte, erreichte und nun bewahren will, das Prinzip der funktional differenzierten Gesellschaft: Damit einher geht der Verlust des Primats des Politischen, hin zu einer Gleichrangigkeit des politischen Systems mit den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft, wie etwa Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Erziehung, Religion, Kunst, Sport, Massenmedien und Gesundheit. Gewährleistet wird dies durch verfassungsmäßigen Grundrechte, welche die Autonomie der Funktionssysteme vor der Intervention der Politik schützen sollen.

In diesem Rahmen unterscheidet sich die Autonomie des Funktionssystems Wirtschaft nicht von der beispielsweise der Funktionssysteme Recht oder Massenmedien. Oder anders gesagt: Das Prinzip der Marktwirtschaft ist dem sogenannten politischen Liberalismus stets ebenso wichtig wie die Gewaltenteilung oder die Pressefreiheit. Hier gibt es für ihn weder Abstufungen noch konzeptionelle Differenzierungen, all dies ist für ihn voneinander untrennbar. Und damit, d. h. mit dieser Prämisse der Ablehnung jeden politischen Primats über die Wirtschaft wie auch über Recht oder Massenmedien, wird auch der Wirtschafts- und in der Folge der Neoliberalismus zu einem untrennbaren, fest verschweißten Bestandteil dessen, was so beschönigend unter „politischem Liberalismus“ läuft und verstanden wird. Es gibt das eine nicht ohne das andere.

Dies gilt im Mindesten jedenfalls dann, wenn der sogenannte politische Liberalismus konsequent gedacht und angewendet wird. Doch auch, wenn dies mitunter nicht der Fall ist, so macht es das nicht wirklich besser: In diesem Fall dann steht er nicht selten für weltanschauliche Beliebigkeit, die sich in Form einer zuweilen fast pathetischen Überhöhung pluralistischer Vorstellungen äußert, im Zuge derer Ideologien und Weltanschauungen ihre wichtige Rolle für die politische Kommunikation einbüßen und politische Akteure, wie in Deutschland vor allem Parteien, nach innen und nach außen zu Organisationen verkommen, die jederzeit überall alles vertreten können, ohne dass sich über Kurswechsel noch jemand wundert. Perfektioniert hat diese Form der prinzipienlosen, opportunistischen und für politische Karrieristen attraktiven Entideologisierung die CDU unter Angela Merkel.

An diesem Punkt ist das moderne Phänomen der funktionalen Differenzierung bzw. des sogenannten politischen Liberalismus zu einem postmodernen geworden: Für alle muss jederzeit immer alles möglich sein, ohne Bindung, ohne Verantwortung, ohne Klarheit, ohne soziale, zeitliche und / oder räumliche Grenzen. Direktes Ergebnis dieser postmodernen Entwicklung ist die politische Paralyse des Staatsvolkes, das zum Opfer dessen wird, was der Soziologe Emile Durkheim als „Anomie“ beschrieben hat, des Verlustes von gesellschaftlichen Normen und Werten, zum Opfer von gesellschaftlicher Desintegration. Wie sich diese Langzeitfolge des Individualismus und damit des politischen Liberalismus vollzieht, in wie vielen Feldern des sozialen Lebens sie Schaden anrichtet, ist an anderer Stelle näher beschrieben worden.

Allein diese kurze Analyse sollte hinreichend gezeigt haben, dass die Abgrenzung zum Wirtschafts- und zum Neoliberalismus nicht gelingen kann, solange der sogenannte politische Liberalismus parallel dazu lobgepriesen wird. Das positive Image, welches er in weiten Teilen des politischen Spektrums trotz all dieser Entwicklungen noch immer genießt, mag eine nur schwer zu beseitigende Spätfolge des Endes des Kalten Krieges sein. Im Zuge dessen haben die Vertreter dieser Denkrichtung ein Jahrzehnte währendes Siegesgefühl herausgebildet, das noch heute die Argumentation vergiftet. Damit aber kann und darf man sich nicht abfinden, wenn man sich mit den bestehenden Verhältnissen insgesamt nicht abfinden will.

Zeitenwende

Mit dem letzten Abschnitt sollte vor allem eine Begründung für die These geliefert werden, dass der Abschied vom Neoliberalismus nur erfolgen kann, wenn damit auch ein Abschied vom politischen Liberalismus und vom Liberalismus als Ganzes einhergeht. Mit Halbheiten und Inkonsequenzen ist es hier nicht getan, zumal die Vertreter des (Neo-)Liberalismus genau diese klug für sich zu nutzen wissen würden.

Es zeichnet sich jedoch – das ist an dieser Stelle nichts Neues – eine politische Zeitenwende ab, im Rahmen derer die hier skizzierten Einsichten zunehmend mehr geteilt und artikuliert werden. Die jüngsten politischen Entwicklungen in Europa (die USA lassen wir bei der Prognose u. a. aus den oben beschriebenen Gründen lieber außen vor) lassen darauf schließen, dass immer weniger Menschen bereit sind, die fatalen Implikationen dessen hinzunehmen, was der Liberalismus ihnen über die Jahre hinweg – unreflektiert, elitär, über postdemokratische Wege – beschert hat. Man darf hoffen.

* Wie – diese kleine Anekdote sei hier gestattet – vor dem Autor dieser Zeilen schon jemand anders in sehr ähnlicher Weise registriert und angemerkt hatte, was ersterer erst nach Fertigstellung dieses Textes, wenngleich nicht ohne Amüsement, bemerkt hat.

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4 Kommentare zu "Weltanschauung
Abschied vom Liberalismus"

  1. Shopping Queen sagt:

    Uns geht es gut! Uns geht es gut!! Uns geht es gut!!!
    Die oberste staatliche Fucktenverkünderin und der oberste staatliche Fucktenverkünder haben sie gerade eben zur Weihnachtszeit wieder im Duett gesungen. Eine postfaktische Weihnachtsarie. Das hat “uns” so gut getan. Danke, Deutschland. Danke, deutscher Staat.
    Lasst es uns miteinander singen:
    1. Uns geht es gut, wenn wir zu dritt unter wechselnden Fremden in einem Krankenhauszimmer liegen dürfen und uns mit den anderen über die intimen Verrichtungen, die das Pflegepersonal an uns vornimmt, austauschen dürfen.
    2. Uns geht es gut, wenn wir 15.000 Euro ausgeben dürfen, damit wir auch morgen noch kraftvoll zubeißen können.
    3. Uns geht es gut, denn wir wissen: In Deutschland haben alle die gleichen Rechte, insbesondere auch das Recht auf soziale Teilhabe. Nur die einen sind eben in der gesetzlichen Krankenkasse teilkaskoversichert und die anderen in der Herkunftselite vollkaskoversichert. Die einen bekommen eben eine professionelle Zahnreinigung aus der privaten Schatulle und die anderen eben eine unprofessionelle Zahnreinigung von der gesetzlichen Krankenkasse.
    4. Uns geht es gut, uns wird es warm ums Herz, wenn wir sehen dürfen, dass der, der 1600 Euro brutto im Monat verdient, einen – relativ wie auch absolut – höheren Krankenversicherungsbeitrag bezahlt als jener, der 4800 Euro brutto im Monat verdient. Der eine hat eben keine Wahl und der andere hat eben die volle Auswahl.
    5. Uns geht es gut, wenn wir uns damit trösten können, dass der 4800-Ender für seinen vom Steuerberater ausgetüftelten Privatversicherungssatz die besseren ärztlichen Leistungen bekommt. Er hat das schließlich verdient. Seine Gesundheit ist mehr wert als unsere. Diese Menschen sind mehr wert als wir.
    6. Uns geht es gut, wenn wir erleben dürfen, wie unsere Handarbeit so gering geschätzt wird, dass sie um ein vielfaches schlechter bezahlt wird, als die Kopfarbeit, mit der unsere Handarbeit kontrolliert wird. Das Aufpassen der Aufseher ist mehr wert als die von den Arbeitern geleistete Wertschöpfung.
    7. Uns geht es gut, denn wir leben in einem reichen Land, dass nur drei Billionen Euro Staatsschulden hat, aber fünf Billionen privates Nettovermögen.
    8. Uns geht es gut, weil wir ein systemkonformes Bildungssystem haben, dass es mit interkommunikativen, eigeninitiativen und innovativen Lernmethoden zu verhindern weiß, dass die mündigen Bürger von morgen aus der 7. Strophe die richtigen Schlüsse ziehen.
    9. Uns geht es gut, weil das Staatsfernsehen so gut zu uns ist und heute wieder Fußball im Fernsehen zeigt, den es mit Hunderten Millionen Euro aus unseren Rundfunksteuern eingekauft hat. Endlich wieder Fußball, so dass wir nicht dazu kommen, darüber nachzudenken, wie denn eine Tätigkeit, die nur daraus besteht die Arbeit anderer zu kontrollieren, selbst überhaupt Arbeit sein kann.
    10. Uns geht es gut, weil uns die Bediensteten einer privaten Medienlandschaft, die der Englische Garten verschiedener Multimillionäre und Milliardäre ist, erzählen, dass die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen, wie ein Konjunkturprogramm für die deutsche Wirtschaft sind.
    11. Uns geht es gut, weil wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen: Es muss unbedingt dafür gesorgt werden, dass nach dem Syrienkrieg sofort ein Anschlusskrieg angestiftet wird, damit “unsere” Wirtschaft weiter wachsen kann.
    12. Uns geht es gut, und deshalb wollen wir dankbar sein: Danke, Baschar! Nochmals vielen Dank, dass du all die Leute vertrieben hast, damit hier bei uns die Bauunternehmer; die Inhaber und Manager der Lebensmitteldiscounter; die Logistikunternehmer; die Unternehmer der Möbelbranche; die Inhaber und Manager der Überwachungsindustrie; die Leiter der einschlägigen Behörden, die die Gelegenheit nutzen, um zusätzliche alimentierte Posten und Pöstchen zu schaffen; und all die anderen Geldsauger ihre privaten Konten und persönlichen Privilegien wachsen lassen können mit unserer Steuerlast.
    13. Uns geht es gut, wenn uns eine Zahnärztin eine Zahnfüllung setzt. Wir genießen es, wenn sie ohne Handschuhe den Zahn drei Sekunden lang ausschleift, weitere zwei Sekunden lang die Füllung aufdrückt und wir am Geschmack im Mund erkennen können, dass sie sich nach dem Toilettengang die Hände nicht gewaschen hat.
    14. Uns geht es gut. Wir konsumieren es mit höchsten Gefühlen, wenn wir für eine solche medizinische Höchstleistung, selbstverständlich garantiefrei, achtzig Euro bezahlen dürfen und danach weiterhin die ziehenden Schmerzen im Zahn haben. Das ist Gesundheitsshopping vom Feinsten und es war eben schon immer etwas teurer einen besonderen Geschmack zu haben.
    15. Uns geht es gut, denn wir wissen, dass unsere Herren und Herrinnen unsere Bedürfnisse berücksichtigen. Die Herolde der Herrschaft teilten uns nach dem Auftritt des Axtschwingers in Ansbach mit, dass 90 Prozent von uns mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum wollen. Die Herolde der Herrschaft teilten uns nach dem Auftritt des Duell-Lastwagenfahrers in Berlin mit, dass 60 Prozent von uns mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum wollen.
    16. Uns geht es gut, denn wir wissen nun, dass diese Taten von den Videokameras hätten verhindert werden können.
    17. Uns geht es gut, denn wir wissen, obwohl wir dazu nicht, nicht vollumfänglich, nicht im analytischen Dialog auf Augenhöhe, nicht im These-Antithese-Synthese-Diskurs, nicht auf der gemeinschaftlich erarbeiteten Basis möglichst vollständiger Fakten befragt wurden. Also muss es stimmen.
    18. Uns geht es gut zu wissen, dass der Staat sich kümmert.
    19. Uns geht es gut, denn die Hausverwaltung unseres Vermieters hat die durch Bauherrengeiz und Architektenpfusch entstandene Schimmelbildung in unserer kapitalistischen Plattenbauwohnung beseitigen lassen. Allerdings haben die Handwerker darauf verzichtet, die betroffenen Stellen zu streichen.
    20. Uns geht es gut, denn das dürfen wir Mieter nun in Eigenleistung tun.
    21. Uns geht es gut, denn wir könnten uns deswegen einen Anwalt nehmen, wenn wir das Geld dafür übrig hätten.
    22. Uns geht es gut, denn sogar wir haben mittlerweile kapiert, dass in Deutschland derjenige mehr Recht hat, der die Macht hat, um durch alle Instanzen gehen zu können.
    23. Uns geht es gut. Wir fühlen uns gut aufgehoben, bei höchsten Richtern, die zu Bescheidenheit beschiedene Rentnerehepaare im Namen des Volkes aus ihren luxussanierten Wohnungen jagen, in denen sie seit Jahrzehnten wohnten. Davonjagen, weil die Vermieter Eigenbedarf angemeldet haben für ihre Luxustöchterchen, die in München Fremdsprachen, Jet Set und internationale Männer studieren wollen.
    24. Uns geht es gut, denn wir verzichten gerne auf gutes Essen, gesunde Kleidung und wehrhafte Bildung, um uns ein Auto leisten zu können, damit wir überhaupt an unseren mit dem Niedrigstlohn vergüteten Arbeitsplatz kommen. Dort steht das teure heilige Blech dann werktäglich 8 Stunden ungenutzt herum, während uns die Unternehmer etwas von Maschinenauslastungszeiten erzählen.
    25. Uns geht es gut, weil die leitenden Beamten in den zuständigen Behörden alles daran setzen, um einen möglichst teuren aber hälftig ineffizienten öffentlichen Personennahverkehr aufrecht zu erhalten.
    26. Uns geht es gut in dem Wissen, dass “unsere” leitenden Beamten all ihre Bridgekumpels aus der Automobilbranche – die Niederlassungsleiter, die Marketingchefs, die Fachjournalisten, die Honoratioren aus den Kreistagen und Gemeinderäten, die Fuhrunternehmer und deren Rechtsanwälte – mit denen sie im Lions Club oder Rotary Club Regionalpolitik spielen, nicht enttäuschen wollen. Außerdem gäbe es dann für sie nicht mehr diese günstigen Jahreswagen der oberen Hubraum- und Preisklasse.
    27. Uns geht es gut, weil wir wissen, dass wir uns auf die Fachkompetenz und die Leistungsbereitschaft “unserer” Beamten verlassen können, die die öffentliche Personenbeförderung dermaßen miserabel vernetzen, dass sie uns durch Wartezeiten an gerne zugigen Haltestellen und durch unnötigerweise verweigerte Abstimmung der Anschlussverbindungen und durch fehlende Querverbindungen in den Strahlennetzen einen enormen Teil unserer freien Zeit stiehlt. Freie Zeit, die wir gut gebrauchen könnten, um dieses politische System zu bekämpfen.
    28. Uns geht es gut, denn der Staat betreibt eine offene Informationspolitik und teilt uns mit, dass wir im Rentenalter Bettler sein werden.
    29. Uns geht es gut, denn man hat uns klar gemacht, dass wir an unserer Altersarmut selbst schuld sein werden, denn wir haben es versäumt privat vorzusorgen mit dem Geld, dass wir als Rentenversicherte in der asozialen Marktwirtschaft nicht verdienen konnten. Wir hätten uns ein Beispiel nehmen sollen an dem Automanager, der jetzt 3.100 Euro Rente bekommt – täglich. Der hat das verdient. Der hat sich das mit seinen eigenen Händen und im Schweiße seines Angesichts geschaffen. Wenn der eine 93.000 Euro Rente im Monat bekommt und die andere 560 Euro im Monat, dann deswegen, weil die andere sich in ihrem Leben nicht genug angestrengt hat. Hätte eben mehr aus sich machen müssen. Hätte ja studieren können. Abgassteuerungsinformatik zum Beispiel.
    30. Uns geht es gut, weil uns die Angst beflügelt und enorme kreative Kräfte in uns freisetzt, wenn wir bei Abschluss eines unserer prekären Arbeitsverträge permanent daran denken dürfen, ob unser Brotherr den Vertrag nach einem halben Jahr oder nach einem halben Jahr oder nach einem halben oder nach einem halben Jahr wieder verlängert.
    31. Uns geht es gut, weil wir nun endlich verstehen, was unsere Herren und Herrinnen mit “Fordern und Fördern” meinten. Jene Leute, die “mit Nachdruck und dem unmißverständlichen Hinweis auf die universellen Menschenrechte” vom Russen kompromisslos Fordern seine Unterstützung für den Soziopathen Assad einzustellen, und zugleich beste Geschäfte machen im Netzwerk des Förderns von russischem Erdgas.
    32. Uns geht es gut, wenn wir von denen, deren sinnfreie “Arbeits”plätze wir mit unserer Arbeit, unseren Steuern, Beiträgen und Gebühren finanzieren dürfen, ausgefragt werden, als wären wir einer Vorladung zu einer polizeilichen Vernehmung gefolgt.
    33. Uns geht es gut, wenn wir uns auf Arbeitsämtern, Sozialämtern, Krankenkassen und sonstigen Behörden und Institutionen demütigen lassen dürfen, wenn wir verlangen, was menschenwürdig ist. Wenn wir fordern, wofür wir bereits bezahlt haben. Wenn wir auf unserem Bürgerrecht bestehen.
    34. Uns geht es gut, wenn wir von den “Spitzen der Zivilgesellschaft” bei den Kirchen, dem Sport, den Sozialverbänden, den Gewerkschaften und von sonstigen VIP-Vereinsmeiern und Vereinsmeierinnen als primitive Zurückgebliebene verhöhnt werden, die “aus diffusen Ängsten heraus” unzufrieden und ausländerfeindlich sind, und denen die deutsche Oberschicht das Leben erst einmal von Grund auf erklären muss. Wir sind der Pöbel, dem die selbsternannten Eliten zeigen müssen, wo es lang geht. Jene Eliten, die alle lange Nase lang vom “Volk als Souverän” schwafeln, zugleich aber die Entscheidungs- und Deutungshoheit über das Leben der Bürger behalten wollen, weil sie … – ja, mit welchem Recht eigentlich?
    35. Uns geht es gut, wenn wir von den Hofberichterstattern der Politbonzen und von den gehaltsabhängig beschäftigten Schreiberlingen der Wirtschaftsbonzen als unmündige und dumme Wutbürger dargestellt werden, die “einfache Antworten auf komplexe Fragen erwarten”.
    36. Uns geht es gut, wenn wir von den Polit- und Wirtschaftsbonzen materiell enteignet werden, weil der Arbeitslohn kaum noch reicht, um die stetig steigenden Mondpreise und die stetig steigenden Wuchersteuern bezahlen zu können.
    37. Uns geht es gut, wenn wir von den Politbonzen per Gesetzgebung ins soziale Abseits gedrängt werden. Wenn z.B. aus heiterem Himmel oder weil die “Steuerquellen sprudeln” aber kein Geld für die Pflegeversicherung da ist, bestimmte Arten von Betriebsrente rückwirkend als (doppelt) sozialversicherungspflichtig erklärt werden. Selbstverständlich ohne Bestandsschutz. So dass jetzt etliche dieser Rentner mit fünfstelligen Beträgen bei den Sozialversicherungsvampiren in der Kreide stehen.
    38. Uns geht es gut, weil “unsere” Tier- und Menschenärzte bei Virenerkrankungen oder einfach mal so um den Appetit anzuregen, Antibiotika kübelweise verschreiben und damit unser Immunsystem zerstören. Man könnte es ja auch mal damit versuchen, Tiere möglichst artgerecht zu halten, und Mitarbeiter, die erkältungs- oder fieberkrank sind, von den Vorgesetzten nach Hause schicken zu lassen. Aber Hauptsache, uns geht es gut. Darauf einen Gutschein der Pharmaindustrie!
    39. Uns geht es gut, weil uns immer wieder mal der Arbeitsplatz von der vorsätzlich herbeigeführten Globalisierung weggenommen wird und die Polit- und Wirtschaftsbonzen hierzulande keine angemessenen Ausgleichsarbeitsplätze schaffen wollen.
    40. Uns geht es gut, weil wir wissen, dass der Austausch (“vom zertifizierten Profi mit Originalteil”) eines kaputten Schlosses für den Sicherheitsgurt unseres obere Unterklasse-Pkws 220 Euro kosten soll.
    41. Uns geht es gut, weil wir immer mal wieder an einem Erprobungsarbeitsverhältnis teilnehmen dürfen, obwohl wir den Job, in dem wir “erprobt” werden, zuvor bereits jahrelang routiniert ausgeführt haben. 3 Tage für lau, der Wirtschaftsbonze spart sich für diese Zeit einen Zeitarbeitereinsatz und holt gleich danach den nächsten Erprobungstagelöhner. Alles Gute kommt auch in diesem Fall von oben, denn diese “Arbeit auf Probe” wurde mit dem servilen Einverständnis der Gewerkschaftsbonzen eingeführt.
    42. Uns geht es gut, denn wir dürfen solidarisch Dienst am Nächsten leisten, z.B. als Minijobber bei der Diakonie oder der Caritas. Dadurch zerstören wir die Vollzeiarbeitsplätze anderer und dürfen selbst als Sozialhilfebittsteller um Aufstockung betteln, damit die Kirchen “mit ihrem sozialen Engagement den Staat entlasten können”. Zumindest entlasten die Kirchen das Staatssäckel, denn sie erleichtern den Staat, der ihr “Engagement im Gesundheits- und Sozialbetreuungsbereich” durch Subventionen und Vergünstigungen finanziert, um Milliarden Euro jährlich.
    43. Uns geht es gut, weil wir wissen, dass die leitenden Beschäftigten auf der mittleren und höheren Ebene in den Behörden, Institutionen und Betrieben zwischen den Kaffeekränzchen alias Arbeitsbesprechungen kapitalistische Selektionen alias kaufmännische Berechnungen durchführen, die dem leitenden Personal beste Einkommen und Privilegien verschaffen, während die, die tatsächlich zupacken müssen und die Produktivitätsleistungen erwirtschaften, zum Dank dafür Arbeitsverdichtung und Niedriglöhne bekommen. Kann eine Tätigkeit, die allein daraus besteht, die Arbeit anderer zu bewerten, selbst überhaupt Arbeit sein?
    44. Uns geht es gut, denn wir haben endlich verstanden, dass jeder Einheimische, der in Deutschland arbeitslos wird, selbst daran schuld ist. “Flüchtlinge”, “Geflüchtete”, “Schutzsuchende”, “Migranten” allerdings nicht. Die können nichts dafür, denn die hatten eine traumatische Vergangenheit oder einfach nur eine schwere Kindheit.
    45. Uns geht es gut, denn wir dürfen nun in unserem Land auch noch die Probleme der Flüchtlinge lösen, weil die das in ihren eigenen Ländern nicht hinkriegen wollen.
    46. Uns geht es gut, denn wir dürfen jetzt den Größenwahn der Herrscher ausbaden, die um jeden Preis, den das Volk zu bezahlen hat, in die Geschichtsbücher eingehen wollen.
    47. Uns geht es gut, solange es unseren Herren und Herrinnen gut geht.
    48. Uns geht es gut, weil wir nicht zu hoffen gewagt hätten, dass es nach dem “Kanzler der Einheit” und dem “Architekten des II. deutschen Wirtschaftswunders” nun auch noch einer Frau gelingt, als “Mutter der Mitmenschlichkeit und der Menschenrechte” in die Geschichte einzugehen. Hat sie eigentlich schon den Nobelscheiß bekommen? Dann wird’s aber Zeit. Schließlich läßt Mama keine Zweifel daran, dass us-amerikanische Bomben, die syrische “Familien mit Kindern” und Krankenhauspatienten töten, gute Bomben sind; dass deutsche Panzergranaten mit denen saudi-arabische Kanoniere jemenitische “Familien mit Kindern” und Krankenhauspatienten töten, gute Granaten sind; und ganz wichtig: dass russische Bomben, die syrische “Familien mit Kindern” und Krankenhauspatienten töten, böse Bomben sind.
    49. Uns geht es gut, denn wie gesagt – wir haben ja keine eigenen Probleme. Im Gegenteil: Wer bei uns einen pflegebedürftigen Angehörigen pflegt, der bekommt sage und schreibe ein halbes Jahr Freistellung vom Arbeitgeber. Wahnsinn. Also ehrlich jetzt, soviel Großzügigkeit, wie sollen wir das verkraften. Freistellung, ok? Das heißt, es gibt keine Lohnfortzahlung, sondern der Unternehmer bezahlt nur die Sozialversicherung weiter und beschäftigt uns, wenn wir Glück haben, nach der Pflegeauszeit wieder. Und der Staat legt noch 3 Jahre Rentenbeitragsanrechnung drauf. Das alles zusammen ist ungefähr so, als würde einer dieser Arbeitgeber aus der Sozialindustrie eine Pflegehelferin einstellen und sagen: “Ok, das ist harte Arbeit. An der Belastungsgrenze. Aber sie werden selbstverständlich sozial- und rentenversichert. Bloß Lohn und Auslagen bezahlen wir nicht.” Klasse, wa!? Danke, Mama, vielen vielen Dank, was würden wir ohne dich und deine harte Vorbereitungsarbeit nur machen. Nicht vergessen: Im Herbst 2017 ist Muttertag!
    50. Uns geht es gut, denn wir sind sogar 50 Jahre alt geworden, während in Afrika – ja, in Afrika, da sterben die Leute.
    51. Uns geht es gut, denn wir haben noch dreiviertel unserer Zähne im Mund.
    52. Uns geht es gut, denn wir sind Weltmeister! Wir sind die mächtigste Frau der Welt!! Wir sind sogar Papst!!! Wir sind alle St. Martin!!!! Das muss Demokratie sein.
    53. Uns geht es gut, deshalb wollen wir ein Viertel unserer Zähne an die Menschen in Afrika abgeben, weil die nur noch ein Viertel ihrer Zähne haben.
    54. Uns geht es gut, denn wir wissen jetzt, dass wir dazu beigetragen haben, dass die anderen – genauso wie wir, denn vor der Karies sind alle gleich – auch die Hälfte aller Zähne im Mund haben.
    55. Uns geht es gut, denn wir sind nun ein gutes halbes Jahrhundert alt, und können im Rückblick sagen, dass sich im Grunde genommen ein Scheißdreck geändert hat. Nach wie vor fressen wir den Afrikanern den Fisch vor ihren Küsten weg, denn Fisch ist gesund. Im Gegenzug schenken wir ein paar von ihnen ein paar von unseren alten Nähmaschinen, damit sie sich eine handvoll Maisbrei verdienen können. Am besten kaufen sie dafür den hochsubventionierten US- und EU-Mais.
    56. Uns geht es gut, weil wir eine wachsame und freie Medienlandschaft haben, die Statistiken in Auftrag gibt und veröffentlicht, die besagen, dass die rassistisch motivierten Übergriffe in Deutschland zugenommen haben.
    57. Uns geht es gut, weil wir darüber staunen dürfen, dass in diesen Statistiken nicht die hundertfachen rassistisch motivierten Übergriffe nordafrikanischer und arabischer Mitmenschen aufgeführt sind, die sich an Silvester 2016 nicht nur in Köln zusammengerottet haben, um weiße Frauen zu vergewaltigen und weiße Männer zu bestehlen. Kolonialpolitik reloaded – bloß andersrum.
    58. Uns geht es gut, weil unsere Politiker nun entschlossen und mit allem Nachdruck kompetent wie immer auf das eigenwillige Konsumverhalten der von ihnen ins Land Geholten reagieren: mit einer flächendeckenden Überwachung der gesamten Bevölkerung. Die wir bezahlen dürfen: mit Einsparungen in der Krankenversorgung, der Pflegeleistung, der Ausstattung von Schulen etc. Und mit Einsparungen beim Schutz vor Verbrechen. Denn die Werbung der Überwachungsindustrie lautet: Eine Überwachungskamera ersetzt einen Polizisten.
    59. Uns geht es gut, weil unsere Herren und Herrinnen unsere Altersvorsorge im Griff haben: Sie sorgen für prekäre Arbeitsplätze und bieten uns zum Ausgleich dafür häufigen Arbeitsplatzverlust. Sie senken unsere Einstiegslöhne und bieten uns zum Ausgleich dafür Teilzeitarbeitsplätze. Sie werfen uns vor, zu wenige Kinder zu produzieren, weswegen sie fortpflanzungswillige Gäste ins Land holen müßten von jener Sorte wie sie in Strophe 57 besungen werden.
    60. Uns geht es gut, weil wir mit dem sicheren Gefühl in die Zukunft sehen können, dass die bei uns aufgenommenen Sozialhilfebewerber und Niedriglöhner ganz sicher eine gute Ausbildung für ihre Kinder, eine gute Gesundheitsversorgung, eine gute Arbeit, eine gesunde Wohnsituation und einen menschenwürdigen Wohlstand bestreiten können. Ganz klar, denn dass sie in diesen Dingen was drauf haben, das haben sie ja bereits in ihren Herkunftsländern bewiesen.
    61. Uns geht es gut, weil unsere Polit- und Wirtschaftsbonzen das Problem erkannt haben, nachdem sie von denen, die da kamen, damit vor den Kopf gestoßen wurden. Die in der Regel unbrauchbar oder überflüssig qualifizierten Flüchtlinge bekommen nun das, was den unter Wert beschäftigten oder arbeitslosen Einheimischen verwehrt wird: individuelle und zeitgemäße Berufsbildung.
    62. Uns geht es gut, weil unsere Herren und Herrinnen die Nebenkosten (Strom, Rauchmelder etc.), Zuzahlungen (Medikamente etc.), Abgaben (Regenwasser etc.) und Gebühren (TÜV, Vorschriftenflut und ausufernder Personalüberhang in der öffentlichen Verwaltung etc.) und auch die Preise für unverzichtbare Non-Food-Produkte (Ersatzteile, Windeln etc.) dermaßen in die Höhe treiben, daß wir uns Kinder gar nicht leisten könnten, selbst wenn wir das in diesem zu dicht besiedelten Land wollten.
    63. Uns geht es gut, weil unsere Herren und Herrinnen nicht einmal eine funktionierende Infrastruktur für die Einheimischen bereitstellen können, geschweige denn für zukünftig Geborene. Seien es nun Kitaplätze, Arbeitsplätze, Pflegeplätze, Wohnplätze, Sitzplätze oder etc. Aber eine erstklassige Bürokratie können die hinstellen, aber hallo! Wer einen Termin beim Facharzt zur Nachkontrolle in einem folgenden Abrechnungsquartal bekommt, der muss dazu einen Überweisungsschein mitbringen, obwohl der Hausarzt mit dem Termin einverstanden war und ansonsten nichts mit der Nachuntersuchung zu tun hat. Wollen halt auch da ein bißchen mitverdienen. Wenn wir nicht auf diese Idee kommen, dann dürfen wir – als Büroboten der Krankenkassen – diesen Überweisungsschein “nachreichen”. Die Facharztpraxis ruft nicht bei der Hausarztpraxis an, dass die den Schein zuschicken. Da genügt auch kein Anruf von uns auf eigene Kosten. Da dürfen wir selbst vorbeikommen, auf eigene Kosten und Zeit, und in der Hausarztpraxis warten, bis Onkel Doktor oder Tante Doktor den Überweisungschein ausgefertigt hat. Dann dürfen wir ihn mitnehmen und, auf eigene Kosten und Zeit, bei der Facharztpraxis abgeben oder dorthin schicken. Doch wer weiß, vielleicht schafft Mama die Praxisgebühr ein zweites Mal ab, um wiedergewählt zu werden. Und keiner merkt was.
    64. Uns geht es gut, weil wir hart arbeiten, aber das Ergebnis unserer Produktivleistung von unten nach oben umverteilt wird.
    65. Uns geht es gut, denn nun wissen wir auch, dass eine faire und wohlanständige Rente nichts mit der Anzahl von Kindern zu tun hat, die geboren werden – sondern mit der Höhe des Anteils am Produktivermögen, den jeder Bürger nutznießen darf. Eine Gesamtanzahl von hinzu geborenen Kindern über eine niedrige Schwelle hinaus, wäre im Gegenteil nicht “unsere Zukunft”, sondern ein Kostenfaktor und Vermögensverlust bei der nachhaltigen Versorgung der Bevölkerung.
    666. Uns geht es gut, denn eigentlich wären wir seit vorher wohlständige Rentner. Doch mit dem Wohlgefühl in den müden Knochen, das die Rendite jeder Selbsterkenntnis ist – weil, nun müssen wir ja wenigstens nicht dumm sterben, stellen wir fest, dass es uns gar nicht gut geht. Weil nämlich, wir sind ja gar nicht “uns”. Mit “uns” meint sich ja nur die Oberschicht, selbstschicht – selbstsicht- selbstsücht – selbst sich – nein, sich selbst.

    Ist das Glas halb voll und nicht halb leer?
    Blöd nur, dass wir für ein volles Glas bezahlt haben. Noch blöder, dass wir für Wein geschuftet haben und Brackwasser schlucken sollen.

    Ein Uns-geht-es-gutes Neues Jahr 2017 wünscht
    Shopping Queen
    (für)
    La Trolle Compagnie

  2. Nils sagt:

    Vielen Dank für den Artikel, vieles davon spricht mir aus der Seele und ich teile das Gefühl, am Beginn einer Zeitenwende zu stehen. Wie wird Ihrer Meinung nach die Gesellschaft nach Vollzug der Wende aussehen, was kommt nach dem Liberalismus?

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