Kapitalismuskritik
Rethinking Capitalist Crisis (Teil I)

Auch im siebten Jahr nach Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise mangelt es an tragfähigen und innovativen Ideen “revolutionärer” Reformpolitik.

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Foto: Politik.Medien.Öffentlichkeit / flickr.com / CC BY 2.0 / überarbeitet

Von Torben Fischer

Unter dem Titel „Rethinking Capitalist Crisis“ luden die Einstein Stiftung Berlin und das John F. Kennedy Institut der Freien Universität Berlin Anfang November zu einer prominent besetzten Konferenz nach Berlin ein, um Ursachen und Wege aus der aktuellen Krise des Kapitalismus jenseits der existierenden politökonomischen Narrative zu denken.

Zumindest für die Key Note Lecture von Colin Crouch (Warwick University, MPIfG) und das Panel „Capitalism’s Politics: Crisis of Europe, Crisis of Democracy” um Hauke Brunkhorst (Universität Flensburg) und Susan Watkins (New Left Review) steht am Ende eine gemischte Bilanz. Zwar werden in beiden Fällen existierende Krisenanalysen weitergedacht, enttäuschen müssen hingegen die dargebotenen Ansätze alternativer Krisenbewältigung.[1] Sie zeigen einmal mehr, dass es auch im siebten Jahr nach Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise an tragfähigen und innovativen Ideen “revolutionärer” Reformpolitik mangelt.

Colin Crouch – „The problem of externalities: the vulnerable point of capitalist theory?“

Revolutionäre Reformpolitik? Wogegen eigentlich? – so lautet die Ausgangsfrage des Vortrages von Colin Crouch. Ausgehend von einer Charakterisierung  des modernen Finanzkapitalismus unternimmt Crouch in seinem Vortrag den Versuch, den volkswirtschaftlichen Begriff der „Externalitäten“ als kapitalismuskritisches Konzept in Anschlag zu bringen.

Die vier Dimensionen des globalen Finanzmarktkapitalismus

Crouch zufolge lässt sich jegliche Kapitalismusform anhand von vier Dimension beschreiben. So ist jede kapitalistische Gesellschaft durch Marktmechanismen bestimmt, die den zentralen Steuerungsimperativ ökonomischen Handels darstellen. Damit verbunden ist der internalisierte Antrieb der Akteure gewinnmaximierend zu agieren.  Gewinnstreben ist somit die anthropologische Grundierungsformel kapitalistischer Wirtschaftssysteme. Der Schutz von Privateigentum und Eigentumsrechten durch staatliche Institutionen wird als ein weiteres Charakteristikum benannt. Dass im Kapitalismus zu diesen wie auch zu anderen nicht-staatlichen Institutionen problem- und konfliktbehafteten Beziehungen bestehen, ist Gegenstand der vierten Dimension, der Crouch einen besonders prominenten Platz in seinem Vortrag einräumt.

Auf Basis dieser vier Dimensionen nimmt Crouch sodann eine Charakterisierung des modernen Kapitalismus vor. Diesen beschreibt er als einen aus sektorspezifischen Oligopolen bestehenden globalen Finanzmarktkapitalismus, der durch das Verschwimmen bzw. das Verschwinden identifizierbarer Gläubiger-Schuldner-Beziehungen gekennzeichnet sei. Durch dieses Unsichtbarwerden von Verantwortlichkeiten sinke die Risikoaversion der Finanzmarktakteure. Vielmehr würden Risiken selbst zu handelbaren Gütern, mit denen sich Milliardengewinne erzielen ließen. Den staatlichen Institutionen komme in diesem System eine Absicherungsfunktion transnationaler Kapitalinteressen zu. Sei es durch die Stabilisierung der Banken auf dem Rücken des Steuerzahlers oder durch Eigentums- und Patentrechte zur Gewährleistung der Marktmacht transnationaler Unternehmen (TNU). Gerade im Finanzsektor seien Marktmechanismen seit der Krise weitestgehend außer Kraft gesetzt („to big to fail“), während auf der anderen Seite die private Lebenswelt der Bürger und die staatlichen Sozialsysteme zunehmend ökonomisiert würden.

Externe Effekte als innovatives Analysekonzept der politischen Ökonomie?

In seiner Charakterisierung des modernen Finanzmarktkapitalismus folgt Crouch somit weitestgehend der Argumentation seines Kollegen Wolfgang Streeck, der in „Gekaufte Zeit“ die sukzessive „Immunisierung des Kapitalismus gegen massendemokratische Interventionen“[2] seit den 1970er Jahren als zentrales Krisenphänomen herausarbeitet. Auf diesen Analysen aufbauend führt Crouch den Begriff der Externalitäten als innovatives Moment in seine politökonomische Krisenanalyse ein. Klassischerweise würden Externalitäten in den Wirtschaftswissenschaften als Kosten oder Nutzen ökonomischen Handelns definiert, die nicht beim eigentlichen Verursacher anfielen. Dieses Begriffsverständnis bzw. die entwickelten Lösungsansätze (Coase-Theorem) gingen jedoch von einem Wirtschaftssystem aus, in welchem Verursacher und Betroffene von externen Effekten eindeutig identifizierbar seien und nur geringe Transaktionskosten anfielen. Der globalisierte Finanzmarktkapitalismus und seine Krisen, so Crouch weiter, zeichne sich aber gerade dadurch aus, dass die Identifikation von Verursachern und unbeteiligten Dritten kaum mehr zu treffen und das Externalitätenmanagement sehr kostenintensiv sei.

Dies zeige nicht zuletzt die europäische Schuldenkrise, in der die Hilfskredite für Griechenland durch Sicherheiten des deutschen Steuerzahlers gedeckt würden, damit Athen in der Lage sei, die Schuldentitel bei den seinen Gläubigern, zuvorderst den deutschen Banken, zu begleichen. Diese hätten wiederum das Geld deutscher Sparer mit dem Versprechen auf hohe Rendite in ebenjene griechischen Staatsanleihen investiert.

Anhand ausgewählter Beispiele (u.a. Ölpest im Golf von Mexiko 2010, Monsato) arbeitet Crouch in der Folge die Dysfunktionalität des Externalitätenmanagements im globalen Finanzmarktkapitalismus heraus. Obgleich es Crouch gelingt, erhellende Beispiele für die Problematik externer Effekte im globalisierten Neoliberalismus darzustellen, bleibt der Vortrag theoretisch weitgehend konturlos. Auf kritische Nachfragen hin, u.a. nach der Definitionshoheit über externe Effekte (Was gilt als negativer Effekt? Wer definiert diese?) oder den strategischen Umgang mit negativen Externalitäten (z.B. deren Internalisierung im Umweltbereich durch den Handel mit Emmissionsrechten), räumt Crouch ein, dass es weiteren Mühen bedürfe, den Ansatz konzeptionell zu schärfen und theoretisch weiterzudenken.

Postdemokratie revisited

Ein besonderes Augenmerk liegt für Crouch dabei auf der vierten der zuvor eingeführten Analysedimensionen – dem problematischen Verhältnis zwischen Kapitalismus und Staat bzw. Kapitalismus und Demokratie. Anknüpfend an “Postdemokratie” steht die sich im globalen Neoliberalismus parallel vollziehende Kolonialisierung politischer Institutionen durch den Markt bei gleichzeitigem Herauslösen der Ökonomie aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung im Mittelpunkt seines Interesses. Auch hier böte die Eurokrise mit der Inthronisierung von Technokraten wie Mario Monti oder Loukas Papademos als zeitweilige Regierungschefs der Krisenländer Italien und Griechenland anschauliche Beispiele für einen zentralen externen Effekt – die einseitige, zugunsten des Kapitals vollzogene Auflösung der Funktionstrennung zwischen Staat und Wirtschaft.

Doch wie ist dieser Übermacht des Finanzkapitals entgegenzutreten, wenn die politischen Eliten kaum mehr in der Lage oder gar Willens sind, die einseitig bestehenden strukturellen Abhängigkeiten zwischen Politik und Wirtschaft zu entflechten?

Es mag nicht überraschen, dass Crouch, wie bereits in früheren Publikationen, für eine transnationale Koalition aus zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Akteuren plädiert. Ein besonderes Potential zur Wiederbelebung der Sozialdemokratie  sieht er dabei in dem Schulterschluss der emanzipatorisch-feministischen Bewegungen mit den traditionellen gewerkschaftlichen Kräften. Die “Feminisierung” der Gewerkschaften könne, so Crouch, zur Freisetzung wirksamer Verhandlungspotentiale, gerade im weiblich geprägten Dienstleistungssektor, führen. Daher sollte Italien mit Susanna Camusso als Gewerkschaftsführerin einer der größten europäischen Gewerkschaft (CGIL) als europäisches Rollenmodell dienen.

(Irr-)Wege aus der Krise

Transnational organisierte ArbeiterInnenbewegungen als Ausgangspunkt gegen-hegemonialer Blockbildung? Aus mindestens drei Gründen handelt es sich hierbei  um eine Nicht-Vision, die Crouch seinem Publikum zu verkaufen versucht:

Erstens, und dies hat u.a. Nancy Fraser in jüngeren Publikationen herausgearbeitet, hat die ideelle Liaison des Second-Wave-Feminism mit der Staatskritik des Neoliberalismus eher zu einer Stärkung des Kapitals, denn zu seiner Schwächung beigetragen. Mit dem rasanten Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit und der größeren Verfügbarkeit von Lohnarbeit seit den 1970er Jahren, wurde die Verhandlungsposition der Arbeiterschaft massiv geschwächt. Dies den Frauenbewegungen anzukreiden, wäre natürlich mehr als absurd. Schließlich forderten und fordern sie (noch immer) nur Selbstverständlichkeiten ein. Zentral ist jedoch Frasers Hinweis, dass die feministische Kritik an den ökonomischen Machtverhältnissen z.T. von einem Gender-Bias überlagert wurde und nicht selten einem „Selbstverwertungsfeminismus“[3] ins Wort redete, über dem die männliche Arbeitnehmerschaft zu oft ausschließlich als Konkurrent und zu selten als Verbündeter im Kampf für soziale Gerechtigkeit gesehen wurde.

Hier setzt das zweite Gegenargument an, welches in der Essenz lediglich das soeben dargelegte Argument umdreht: auch die männliche Bevölkerung – vom Arbeiter bis zum Akademiker – hat bisher nur leidlich begriffen, dass es nachhaltiger wäre, im Schulterschluss mit ihren weiblichen Pendants für Verbesserung der Lohnarbeit einzutreten, anstatt geschlechtsspezifische Benachteiligungsdebatten neu aufzurollen. Von diesem spiegelverkehrten Gender-Bias zeugt u.a. auch die aktuell in Deutschland geführte und publizistisch stark befeuerte Debatte um die Krise der (deutschen) Männer.

Drittens lässt sich mit einiger Berechtigung fragen, wieso gerade die seit 30 Jahren von Mitgliederschwund und Machtverlust gebeutelten Gewerkschaften jene Organisationen sein sollen, durch welche die Sozialdemokratie einen neuen Aufschwung erfährt? Die Europäisierung gewerkschaftlicher Aktivitäten stagniert seit Jahren, ist seit jeher durch Ressourcenprobleme und eine fehlende transnationale Interessenrepräsentation gekennzeichnet und wurde durch die Finanz- bzw. Eurokrise eher zurückgeworfen als gefördert.  Auch hier besteht also wenig Grund für Optimismus, den Crouch in seinen Ausführungen auch keineswegs versprüht.

Kein Grund für Optimismus

Auf die Frage, welche Möglichkeiten des Externalitäten-Managements es denn jenseits einer emanzipatorischen Sozialdemokratie noch gebe, um den dysfunktionale Entwicklungen des globalisierten Neoliberalismus Einhalt zu gebieten,  antwortet Crouch, dass sein affirmativer Horizont für sozialistisch inspiriertes Gedankengut an der Realität des skandinavischen Wohlfahrtsstaates ende. Darüber hinaus vermöge er nicht weiterdenken zu können bzw. zu wollen. Bei allem Respekt – als Key Note Speaker auf einer Konferenz mit dem Titel „Rethinking Capitalist Crisis“ sollte der Horizont für Krisenbewältigungsstrategien nicht schon am Nordkap enden.

Der Artikel ist ein Crosspost vom Blog Opni.eu

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[1] Der Verfasser hat nur die beiden Panels besucht, daher bezieht sich der Konferenzbericht auch nur auf deren Inhalte.

[2] Vgl. Streeck 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Bonn: bpb, S. 96.

[3] Vgl. Ebd., S.43.

Artikelbild: Politik.Medien.Öffentlichkeit / flickr.com / CC BY 2.0

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2 Kommentare zu "Kapitalismuskritik
Rethinking Capitalist Crisis (Teil I)"

  1. Greyhound sagt:

    Schon die Überschrift ist Blödsinn da es nicht um Kapitalismus geht und ergo ebensowenig um “thinking”.

    Re-thinking ist aber gar nicht so schlecht. Kapitalismus ist kreditgesteuerte Marktwirtschaft “in the big picture” (um auch einen ebenso sinnlosen Anglizismus zu bemühen) und kreditfinanziertes Unternehmertum en détail.

    Folgt man dieser Definition (und ich wüsste nicht was dem entgegensteht) wird offensichtlich das die Krise mit “Kapitalismus” rein gar nichts zu tun hat.

    Es ist auch kein Neoliberalismus (ein weiterer hirnloser Kampfbegriff) und auch kein Imperialismus, Kommunismus oder ApfelIsMus.

    Es ist schlicht NeoFeudalismus. Re-thinked!

    Die Akteure sind nicht Kirche und Staat sondern Banken und Staat. Zwischen ihnen dreht sich die Verschuldungsspirale die aus dem Rest immer mehr herauspressen soll wie weiland bei Ludwig XIV mit seinem Sonnenstaat.

    Warren Buffet (noch so’n Sonnenkönig) hat recht das seine Klasse in diesem Kampf gewinnt. Was er aber nicht bedenkt. Ein Sieg im Klassenkampf zieht unweigerlich den nächsten Schritt nach sich.

    Die Guillotine bzw ihr modernes Pendant. Er wird dort enden wie all die andren die der Teufel noch nicht holt um sich an diesem Schauspiel zu ergötzen.

  2. Agora sagt:

    @Greyhound
    Man sollte schon die politisch-historischen Begriffe Kapitalismus und Feudalismus auseinanderhalten können, sonst macht eine Analyse der derzeitigen gesellschaftlichen Umstände keinen Sinn. Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen der gesellschaftlichen Realität, welche die zwei Begriffe jeweils bezeichnen. Alles in einen Topf zu werfen, rumzurühren und beliebige Begrifflichkeiten mit beliebigen Inhalten zu füllen ist sinnlos. Ebenso wäre zwischen Erscheinungsform und Realform von gesellschaftlichen Bedingungen zu unterscheiden – also bitte, etwas mehr Niveau.

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