Von 1969 bis 1982 befanden sich die Unionsparteien zum ersten Mal in der parlamentarischen Opposition – und erfanden sich neu: neoliberal nach angelsächsischem Muster.
Von Sebastian Müller
Dabei spiegelte noch 1969 nichts deutlicher den herrschenden wirtschaftspolitischen Grundkonsens wieder, als die rhetorische Frage des damaligen Geschäftsführenden Vorstandmitgliedes der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie auf dem CDU/CSU Wirtschaftstag: Hans Dichgans fragte, warum sich die CDU so schwer damit tue, “eine grundsätzliche Alternative zur Wirtschaftspolitik von Schiller zu finden?”[1]
Tatsächlich stellte die Union zu diesem Zeitpunkt die keynesianische Krisenpolitik des SPD-Wirtschaftsministers als eine Fortsetzung der Erhard‘schen Wirtschaftspolitik dar, freilich ohne dabei eine kritische Überprüfung ihrer programmatischen Grundsatzpositionen zu unterlassen. Auf ihrem Bundesparteitag im November 1968 in Berlin zog man Konsequenzen aus den Erfahrungen des Jahres 1967, als nicht die Selbstheilungskräfte des Marktes, sondern staatliche Konjunkturpolitik den Weg aus der ersten Rezession der Nachkriegszeit bewirkte.[2] Noch waren, – in Anlehnung an Nixons berühmte Aussage von 1971 -, alle Keynesianer.
Im wirtschaftspolitischen Teil des Programms “Wirtschaft und Finanzen” vollzog die CDU eine “entscheidende Positionskorrektur in Richtung einer keynesianischen Wirtschaftspolitik”, indem sie der öffentlichen Hand eine wichtige Rolle für die Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung zuwies und eine “aktive Arbeitsmarktpolitik einschließlich Arbeitsbeschaffungsprogramm” forderte. Auf eine umfassende Rolle des Staates baute sie auch in ihren Forderungen zur regionalen Strukturverbesserung, den Ausbau der Infrastruktur sowie bei der “Schaffung neuer Arbeitsplätze durch die Ansiedlung von Produktionsbetrieben.”[3]
Sonthofener Schocktherapie
Doch dabei blieb es nicht lange. Nach der Bundestagswahl 1969 und dem schmerzvollen Gang in die Opposition sahen sich die Unionsparteien gezwungen, sich und den Konservatismus von Grund auf zu erneuern. Vor allem die keynesianische, staatsplanerische Stoßrichtung wurde relativiert. Bereits 1971 wurden die Ziele in der Zweiten Fassung des Berliner Programms wieder eliminiert und erneut die “Selbstregulierungskräfte des Marktes” hervorgehoben.[4] Spätestens aber durch den Eindruck der ersten Ölpreiskrise zwei Jahre später hatte sich die CDU/CSU deutlich von der Globalsteuerung der Regierung distanziert.
Bezeichnend hierfür war die Sonthofener Rede von Franz Josef Strauß im November 1974. Strauß, der von 1966 bis 1969 noch als Bundesfinanzminister mit Schiller vertrauensvoll zusammengearbeitet hatte[5], merkte an, dass es kein Rezept gegen die Stagflation gebe, “d.h. es gibt kein Rezept, das der Bekämpfung beider Krankheiten [Anm. d. A.: Inflation und Arbeitslosigkeit] dient. Man kann immer nur einer Krankheit zu Leibe rücken, und jedes Rezept, das der einen Krankheit zu Leibe rückt, vermehrt das Übel auf der anderen Seite (…).”[6]
Solche Passagen waren nicht nur eine eindrucksvolle Anekdote für das Zerbrechen des weitestgehend keynesianischen Konsens der 60er Jahre, sondern auch ein Indiz dafür, dass sich die christdemokratischen Parteien in der Opposition der Logik von Friedmans Monetarismus zugewandt hatten. Allerdings war sich Strauß bewusst, dass eine Fokussierung auf die Geldwertstabilität zulasten der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wie auch eine generelle Austeritätspolitik, bei der Bevölkerung höchst unpopulär wäre:
“Aber der Grundgedanke, den ich hier vertreten habe, war der: Erstens kann man jetzt überhaupt kein Rezept empfehlen, ohne sich in große politische Schwierigkeiten zu begeben, und zweitens ist das Bewusstsein der Öffentlichkeit noch nicht so weit bzw. ist die Öffentlichkeit noch nicht so stark schockiert, daß sie bereit wäre, die Rezepte, die wir zur langsamen Heilung der Krise für notwendig halten, in Kauf zu nehmen.”[7]
Insofern, so seine Strategie, solle die CSU aus einer passiven Rolle abwarten: die Krise sei so “groß geworden” und die notwendige “Schocktherapie” sei von der Sozialliberalen Koalition selbst durchgeführt worden, “daß das, was wir für die Sanierung für notwendig halten, (…) auf psychologisch besserem Boden beginnt (…).”[8]
Im Rückblick ist vor allem das von Strauß verwendete Vokabular auffällig gewesen: Mit dem Begriff “Schocktherapie” wurden im wirtschaftspolitischen Kontext vor allem die radikal-marktwirtschaftlichen Reformen in den Ostblockländern der 1990er-Jahre charaktisiert.[9] Doch schon im März 1975 sprach auch Milton Friedman bei einem Besuch in Chile angesichts der schlechten wirtschaftliche Lage und Inflation im Land von der Notwendigkeit einer “Schockbehandlung”.[10]
Profite für die Supply-Sideeconomy
Was die Konservativen als Sanierung verstanden, war im Wahlprogramm der CSU zu finden. Dort vertrat sie die These, dass die “erfolgreichen Versuche, durch Vereinbarungen von gleichen absoluten Lohnsteigerungen und Erhöhung der Sockelbeiträge die Einkommenslage der gering Qualifizierten zu verbessern, mit dazu führten, daß gerade diese Arbeitnehmergruppe überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen ist.”[11] Hinter dieser These stand ein sich bis heute hartnäckig haltendes Grunddogma der “supply-sideeconomy”, einer nicht zuletzt auf Milton Friedman zurückgehenden Wirtschaftstheorie, für die es in erster Linie auf die Verbesserungen der Angebotsbedingungen der Produktion, also auf die Erhöhung der Profitrate ankommt.
“Von den beeinflussbaren Kosten sind die für Arbeit am bedeutendsten. Die Dämpfung dieser Kosten hat die schnellste Wirkung auf dem Arbeitsmarkt.” – Kurt Biedenkopf [12]
Der Vormarsch dieser Ansicht reichte bereits zu diesem Zeitpunkt nicht nur weit in die Unionsparteien hinein, sondern man befand sich mit solchen Konzepten mittlerweile auch auf der Höhe des wissenschaftlichen Zeitgeistes. Monetarismus und Angebotstheorie gewannen auch deshalb so schnell Anhänger, weil sie aus wirtschaftsliberaler Perspektive eine Deutung für “das ohnehin nicht mehr zu leugnende Desaster boten.”[13]
Das unter dem Vorsitz von Theo Waigel von einer Grundsatzkommission erarbeitete, 74 Seiten umfassende, und im März 1976 vom CSU-Parteitag verabschiedete Grundsatzprogramm forderte dann auch die “Förderung von Entstaatlichung” und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, “wo eine privatwirtschaftliche Regelung sich verwaltungsmäßigen Organisationen überlegen zeigt.”[14] Damit kündete das Programm von einem Paradigmenwechsel des modernen Politikmanagements.
Rezepte aus Übersee
Freilich wurde die partielle Hinwendung zu neoliberalen Rezepten aus den angelsächsischen Ländern von der SPD offen angeprangert. Im Spiegel bezeichnete der damalige hessische Ministerpräsident Holger Börner das Wirtschaftsprogramm seines CDU-Herausforderers Alfred Dregger als den Versuch, “Reagan auf hessisch zu praktizieren”. Er habe weder von der CDU noch von der FDP Rezepte zu innenpolitischen Fragen gehört, “nur immer etwas vom Vertrauen auf die Kräfte des Marktes”, so Börner. Die damals von der CDU geplante Stellenstreichung von jährlich einem Prozent im öffentlichen Dienst in Hessen sei “die Übertragung von Reagans neokonservativem Konzept vom Rückzug des Staates aus der Wirtschaftspolitik, das den USA mehr als zehn Millionen und England drei Millionen Arbeitslose beschert hat.”[15]
Wie ausgeprägt die transatlantische Verbindungslinie zwischen den angelsächsischen Neokonservativen und deutschen Christdemokraten in wirtschaftspolitischer Hinsicht tatsächlich war, ist zwar umstritten.[16] Doch das Büro für auswärtige Beziehungen (BIZ) in der Bundesgeschäftsstelle war unmittelbar der CDU-Parteiführung zugeordnet. Es unterhielt mit dem auswärtigen Büro der britischen Konservativen (Conservative Party International Office) engen Kontakt. Seit 1978 gab es Treffen zwischen Vertretern der Hauptabteilung Politik des Adenauerhauses und dem Central Office der Tories, und im gleichen Jahr wurde auch die Europäische Demokratische Union (EDU) gegründet. Zu den Neokonservativen der USA pflegte zumindest die Unionsspitze gute Beziehungen.[17] Und der besagte Franz Josef Strauß hielt zum engeren Umfeld von Ronald Reagan rege Kontakte. Auch zwischen Helmut Kohl und Ronald Reagan bestand ein gutes Verhältnis. Die Union konnte sich Ende der 1970er-Jahre von Reagans und vor allem Thatchers radikalem Umbauprogramm, “das auf einer dezidiert liberalkonservativen Philosophie in Anlehnung an Friedrich August von Hayek fußte, (…) durchaus ermutigt fühlen.”[18]
“Disparitäten” und Nebelkerzen
Die internationale Tendenzwende ging also auch an Deutschland nicht vorbei. Wohin die Reise gehen sollte, bekamen die Arbeitnehmerverbände bereits Mitte der 1970er-Jahre zu spüren. Die CDU schrieb sich zwar die Bekämpfung der verbandlichen Macht auf die Fahnen, praktizierte diese jedoch nur einseitig gegenüber den Gewerkschaften.[19]
Diese Schlagseite ließ sich auch anhand der sozialpolitischen Schlussfolgerungen erkennen, die den Stellungnahmen aus dem Sozial- und Gesellschaftspolitischen Arbeitskreis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu entnehmen waren. Parallel zu den Sparbeschlüssen der Bundesregierung wurde in diesem Arbeitskreis unter anderem gefordert, dass die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik wöchentlich zwei Stunden mehr arbeiten, die flexible Altersgrenze wieder aufgehoben, der Jahresurlaub gekürzt und die Selbstbeteiligung der Arbeitnehmer an den Krankheitskosten vorgesehen werden sollten.[20]
Auffällig war die auch von Biedenkopf postulierte – und von Politikwissenschaftlern bis heute geteilte[21] – These, dass der klassische Konflikt “Kapital vs. Arbeit” in den hochentwickelten westlichen Industrienationen zu Gunsten neuer Konfliktlinien und “Disparitäten” in den Hintergrund getreten oder gelöst worden sei.[22] Bemerkenswert war dieser Vorstoß um so mehr, als dass die These von der “Disparität der Lebensbereiche” erstmals auf dem Frankfurter Soziologentag 1968 vertreten und von Vertretern der Neuen Linken aus dem Umkreis der Frankfurter Schule vorgetragen wurde.[23]
Indirekt bedeutete dies ein Affront gegen die gewerkschaftlicher Macht und ihres Organisationspotenzials just zu einem Zeitpunkt, als das Klima zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden nicht nur wieder rauer, sondern von den Kräften der sogenannten “Gegenreform” ohnehin zum Angriff auf die Gewerkschaften und den Sozialstaat geblasen wurde. In dieser Hinsicht war die These von der Marginalisierung der Konfliktlinie “Kapital vs. Arbeit” auch eine strategische Nebelkerze.
Dieser Artikel ist Teil einer Serie über die Ursachen für das Ende des keynesianischen Wohlfahrtstaates und des bis heute andauernden Aufstiegs des Neoliberalismus. Die Serie ist ein Ausschnitt aus dem Buch “Der Anbruch des Neoliberalismus”.
Teil 1, Geschichte einer Konterrevolution; Teil 2, Als der Markt Naturgesetz wurde; Teil 3, “No cooperate with Ordo”; Teil 4, Die Saat geht auf; Teil 5, Ein Schock: Das Ende von Bretton Woods; Teil 6, Blaupause für die Agenda 2010; Teil 7, SPD der 70er: Zwischen den Fronten
Artikelbild: Bundesarchiv / Storz / CC-BY-SA
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2 Kommentare zu "Aufstieg des Neoliberalismus
Schocktherapie für die Union"