Ist eine zunehmende Eskalation in der Ukraine noch zu verhindern?
Von Martin Atzler
Die Ereignisse in der Ukraine erscheinen als eine Wiederkehr der »Orangenen Revolution« 2004 – im Gegensatz zu den Ereignissen vor fast zehn Jahren wird dieser Konflikt jedoch nicht friedlich ausgetragen. Die zugespitzte Auseinandersetzung rund um den Platz der Unabhängigkeit in Kiew forderte erst Todesopfer auf beiden Seiten, bei Demonstranten und Polizisten, und führte später zur Flucht des Präsidenten Janukowitsch über Charkow und die Krim ins russische Rostow. Ein Kompromiss zwischen Regierung und Opposition, aushandelt von den Außenministern von Polen, Frankreich und Deutschland am 21. Februar, wurde somit übergangen.
Obwohl sich der Präsident mit den Verhandlungsführern der Opposition bereits auf Neuwahlen geeinigt hatten, erklärte das Parlament, die oberste Rada, den Präsidenten am 22. Februar unter dem Druck der Proteste einstimmig für abgesetzt und setzte einen Kandidaten der Opposition, Alexander Turtschinow, als Interimspräsident ein. Diese kompromisslose Entscheidung setzte sich über das von der Verfassung vorgesehene Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten hinweg und versperrte dadurch einen Ausweg aus der Krise. Zahlreiche Provinzgouverneure im Süden und im Osten des Landes erkennen diesen Akt nicht an. Die Ermächtigung des russischen Militärs zum Einsatz in der Ukraine erweitert die Staats- und Verfassungskrise um die Gefahr einer militärischen Konfrontation.
Die verfassungswidrige Absetzung des Präsidenten Viktor Janukowitsch zerschlug die Hoffnung auf einen Kompromiss zwischen den zunehmend feindlichen Lagern in der Ukraine. Zwar mag eine wirklich revolutionäre Situation eine Verfassung außer Kraft setzten, sie sollte sie aber nicht ohne Not brechen, sondern stattdessen eine verfassungsgebende Versammlung einberufen. Ein solcher revolutionärer Umschwung setzt das Votum einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung und ein ersichtliches politisches Programm voraus.
Doch beides ist hier nicht gegeben: Die Bevölkerung in der Ukraine ist an regionalen und ethnischen Linien gespalten, so dass ohne einen Kompromiss eine dauerhafte Konfrontation, wenn nicht gar ein Bürgerkrieg droht. Auch eine ansatzweise durchgehende Linie oder ein politisches Programm fehlt den Protesten. Die Forderung nach einer Annäherung an die EU und die nach dem Rücktritt des gewählten Präsidenten zeigen keine wirkliche politische Alternative auf.
Auch wenn die Leitmedien in Deutschland eine Darstellung der widersprüchlichen Positionen des »Euromaidan« schlicht verweigerten, ist anhand der Berichterstattung alternativer und ausländischer Medien klar, dass eine neue Regierung lediglich eine Elitenrotation mit widersprüchlichen politischen Zielen bedeutet. Denn bei den Protesten wurde keine politische Kraft erkennbar, die eine Entmachtung der Oligarchen ernsthaft durchsetzen kann. Mit der »Swoboda«-Partei ist dagegen erstmals im 21. Jahrhundert eine faschistische und offen antisemitische Partei an der Regierung eines europäischen Staates beteiligt. Ihr provisorischer Koalitionspartner, die Vaterlandspartei der Julia Tymoschenko, vertritt eine Fraktion der im Hintergrund herrschenden Oligarchen.
Diese politischen Kräfte sind zweifellos nicht identisch mit den Aktivisten auf dem Unabhängigkeitsplatz. Doch ein wirklich emanzipatorisches Projekt wurde auch dort nicht ersichtlich. Die Aktivisten duldeten faschistische und paramilitärische Kräfte wie den rechten Sektor oder die Partei »Swoboda« ohne erkennbaren Widerspruch in ihren eigenen Reihen. Weitgehend ungeklärt bleibt, wie einzelne Protestgruppen zu ihrem paramilitärischen Auftreten kommen und wer diese ausgebildet hat. Zeitweise ging die Eskalation der Gewalt stärker von diesen Gruppen als vom Sicherheitsapparat aus. Die Rolle nationalistischer und faschistischer Strömungen in der Protestbewegung ist weder eine Erfindung der russischen Propaganda noch ein Randphänomen, sondern ein Faktor, der die Radikalisierung vorantrieb und dabei an Einfluss gewann.
Aus diesen Gründen ist abseits der fehlenden Legalität auch keine Legitimität für den faktischen Staatsstreich gegeben. Das einstimmige Votum des Parlaments zur Absetzung des Präsidenten wirft die Frage auf, ob die Abstimmungen tatsächlich frei erfolgten, oder ob Druck auf die Abgeordneten ausgeübt wurde. Die vorangegangene Konfrontation mit zahlreichen Toten, teilweise bei den Sicherheitskräften und mehrheitlich bei den Demonstranten, ist in der verfahrenen Situation nicht ausreichend untersucht worden, so dass die Verantwortung dafür bislang nicht eindeutig geklärt ist. Ein Schießbefehl ist aber offenbar zuvor von der Regierung und dem Präsidenten erteilt worden.
Doch auch die paramilitärischen Gruppen unter den Demonstranten forcierten offen die Gewalt und überschritten mehrfach die Schwelle zur Anwendung tödlicher Gewalt. Der tatsächliche Ablauf der für dutzende Menschen tödlichen Eskalation am 20. Februar ist ungeklärt. Videoaufnahmen von den Ereignissen legen nahe, das beide Seiten die Konfrontation suchten. Zweifellos wurde kein friedlicher Protest durch Waffengewalt unterdrückt, das Bild ist komplexer, die Schuldfrage bleibt bislang offen.
Nichtsdestotrotz ist der Einsatz von Schusswaffen bei Protesten eine haarsträubende Entwicklung. Auch der Lissaboner Vertrag der Europäischen Union lässt solch zutiefst fragwürdigen Methoden zu, nämlich die Tötung, um »einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen«. Da die Demonstranten mehrfach versuchten, gewaltsam Regierungsgebäude zu besetzen, dürfte sich die EU-Kommission mit einer klaren Verurteilung an dem gewaltsamen Vorgehen der Regierung schwer tun.
Der Einsatz von militanter Gewalt seitens des Staat und der Opposition, als auch die kompromisslose Forderungen der Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz, können in der Ukraine keine Lösung des Konflikts erreichen, sondern führen in eine perspektivlose Eskalationsspirale. Das Land ist nun zutiefst gespalten in unversöhnliche Lager. Nationalistische und separatistische Stimmen gewinnen zunehmend an Einfluss. Keiner dieser Pole kann sich in dem Land dauerhaft durchsetzen, ohne die Ukraine in zwei Hälften zu spalten. Dies haben die Konflikte der vergangenen zehn Jahre bewiesen. Insofern kann jede politische Perspektive nur von einem Kompromiss zwischen West und Ost ausgehen. Eine Überwindung der Macht der Oligarchen wäre wünschenswert, doch dafür bedürfte es einer organisierten Gruppierung, die sich dieses Ziel glaubhaft auf die Fahnen schreibt.
Die Ursachen für die Proteste sind bislang kaum hinreichend analysiert worden. Tatsächlich dürften die ungleiche Verteilung des Einkommens und mangelnde Rechtsstaatlichkeit eine entscheidende Ursache für die Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung sein. Ob und wie die zerstrittenen Fraktionen der Oligarchen sowie ausländische Mächte Einfluss auf die Proteste nahmen, ist bisher nur schemenhaft zu erkennen.
Der konkrete Anlass für Protest war jedoch die vertragliche Anbindung der Ukraine an Russland an Stelle eines Assoziierungsabkommens mit der EU. Der Präsident Janukowitsch und seine Regierung hatten nur einen begrenzten Spielraum für diese Entscheidung. Die russischen Vergünstigungen gegen den Anpassungsdruck der EU und des IWF bei Gaspreisen und Krediten einzutauschen, führt zwangsläufig zu einer wirtschaftlichen und politischen Krise der Ukraine. Während Russland ein zentrales Interesse an der Ukraine hat, ist das Land für die EU kostspielige Peripherie. Für eine Westbindung werden also beide Seiten einen hohen Preis zahlen. Insofern erscheint die Einschätzung, Janukowitsch würde einseitig russische Interessen vertreten, verkürzt. Dagegen hat er auf die Strategie gesetzt, durch Verhandlungen mit beiden Seiten den besten Preis zu erzielen. Diese Strategie ist nun grandios gescheitert.
Schlimmer, das Land am Schwarzen Meer ist zum Spielball der Interessen zwischen Ost und West geworden. Die Ukraine erleidet das Schicksal eines Landes an der Peripherie einer multipolaren Welt. Die verfahrene Situation erinnert an die Stellvertreterkonflikte auf dem Schachbrett des Kalten Krieges, dessen Gegenspieler in die inneren Konflikte zahlreicher Staaten eingriffen. Während die USA und auch Deutschland unterschiedliche Strömungen der Opposition mit Geld und Logistik unterstützen und die Proteste durch deren Anerkennung anfeuerten, hat Russland versucht, die Ukraine zu kaufen. Beide Lager verfolgen geopolitische Interessen. Die Bevölkerung in der Ukraine sollte erkennen, das diese Interessen nicht ihre sind, wenn sie eine dauerhafte Konfrontation, einen Bürgerkrieg und die Spaltung des Landes verhindern will. Diese Konfrontation hat mittlerweile eine Dynamik erreicht, die für keinen der Akteure noch zu kontrollieren ist.
Der Bruch des ausgehandelten Kompromisses zwischen Präsidenten und Opposition ist der Ausgangspunkt der zunehmenden Eskalation. Die aktuelle Regierung ist unter Teilhabe der faschistischen Swoboda-Partei ein Signal der Konfrontation. Der Beschluss des Parlaments, russisch als zweite Amtssprache abzuschaffen, ausgehend von dieser Partei, war zu diesem Zeitpunkt eine eindeutige Provokation. Zudem wurde in Kreisen der Interimsregierung eine Revision des Abkommens zur Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte diskutiert. Die russische Regierung will seinen Flottenstützpunkt auf der Krim halten und kann eine Diskriminierung der Russen in der Ukraine nicht ignorieren.
Durch die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim hat Russland jedoch diese Eskalationsspirale weiter gedreht. Das russische Vorgehen ist eindeutig rechtswidrig, auch wenn Russland erst auf eine ganze Reihe von Provokationen reagierte. Der provisorischen Regierung kommt dieser Konflikt gelegen, denn er lenkt den Blick von der katastrophalen finanziellen Lage des ukrainischen Staates auf die Verteidigung des Staatsgebietes. Die nationalistischen Kräfte werden somit weiter gestärkt.
Den Anteil der Interimsregierung und der Aktivisten an der zugespitzten Eskalation haben die westlichen Regierungen in ihren Stellungnahmen bisher ignoriert. Die kritiklose Haltung des Westens gegenüber autoritären und nationalistischen Gruppen ist schlicht erschreckend. Mit dieser Einseitigkeit arbeitet der Westen nicht an einer Lösung, sondern ist Teil des Problems. Die Kritik des Westens an dem russischen Einmarsch auf der Krim fehlt nach einer Reihe von völkerrechtswidrigen Interventionen, zuletzt in Libyen, jede Glaubwürdigkeit.
Eine Lösung des Konfliktes ist aber durchaus möglich. Ein Rückzug der russischen Truppen müsste verbunden werden mit einer Garantie der bestehenden Verträge über den russischen Marinestützpunkt in Sewastopol und fairen Neuwahlen von Parlament und Präsident. Garant eines akzeptablem Verfahren können hier nur internationale Institutionen sein, in diesem Fall wäre das wohl die UNO und die OSZE. Konkret hieße dies eine UNO-Mission zur Überwachung fairer und freier Wahlen ohne das Potenzial zur Einschüchterung durch einen Mob auf der Straße oder die Anwesenheit russischen Militärs. Eine solche Friedenstruppe kann auch den Rückzug russischer Truppen kontrollieren, die Entwaffnung aller paramilitärischen Gruppen sicherstellen und den Einfluss fremder Mächte beobachten.
Dringend erforderlich ist auch die Erarbeitung einer neue Verfassung, welche die regionale Unterschiedlichkeit der Ukraine berücksichtigt und die Rechte aller Bevölkerungsgruppen garantiert. Eine solche Übereinkunft bedingt eine klare Absage an nationalistische und separatistische Tendenzen. Doch dies setzt die Bereitschaft der Akteure in der Ukraine und auf dem diplomatischen Parkett zu einem Kompromiss voraus. Anderenfalls steht Europa ein neuer Alptraum bevor.
Der Artikel erschien in der Originalfassung im Dossier.
Viele haben die relativ einfache Konstellation immer noch nicht verstanden: Die USA dulden keine widerspenstigen Länder neben sich. Jeder der noch nicht auf Linie gebracht worden ist wird auf kurz oder lang “ausradiert”.
Dazu bedient man sich verschiedener Methoden.
Die beliebteste (und natürlich billigste): Widerspenstige Länder destabilisieren.
Deshalb die massive finanzielle und propagandistische Unterstützung von Kriminellen wie Timoschenko oder irgendwelchen rechtsgerichteten eventuell auch religiösen Gruppierungen. Eigentlich ist es völlig egal wer sich instrumentalisieren lässt. Hauptsache billig. Im allerschlimmsten Fall muß man einmarschieren (siehe Irak) und bringt die widerspenstigen Leute dann höchstpersönlich um. Das Völkerrecht spielt hierbei keine Rolle. Die USA fühlen sich daran schon lange nicht mehr gebunden.
Aber egal ob auf die harte oder weiche Tour: Nach einem orchestrierten Putsch oder einem Krieg wird immer ein Marionettenregime installiert. Behilflich sein dürfen dabei die Marionetten-Sattelitenstaaten (BRD beispielsweise). Hauptsache kosteneffizient.
Irgendwelche komplexen Situationen vor Ort (ethnische Konflikte etc.) spielen eine untergeordnete Rolle. Diese werden lediglich taktisch benutzt.
Viele glauben der “kalte Krieg” sei zurückgekehrt. Die Wahrheit ist: Er hatte garnicht aufgehört stattzufinden. Die Amerikaner werden erst dann ruhen wenn alle “Konkurrenten” erledigt sind. Die amerikanische Eliten haben ihren Clauswitz nicht nur gelesen sondern auch verstanden.
Schade, das die Russen so naiv sind.
Sonst wären die längst in die Ukraine einmarschiert. Aus purem Selbstschutz.
Denn auch die Russen, Chinesen, Koreaner, Iraner stehen noch auf der US-Blacklist.
Aber es gibt eine gute Nachricht für die Genossen: Jeder kommt mal dran.