9/11 auf chilenisch

Es ist der 40. Jahrestag des vom CIA initierten Militärputsches gegen die demokratisch gewählte Regierung Allende. Régis Debray ahnte bereits ein Jahr zuvor das drohende Unheil heraufziehen.

Bild: Richard Espinoza, “Lentes Salvador Allende” (CC BY-SA 3.0)

Am 11. September 1973 wurde der Regierungspalast Chiles, die Moneda, von Kampfflugzeugen bombadiert. Salvador Allende und wenige seiner Getreuen verschanzten sich bis zuletzt im Palast. Als die Lage aussichtslos war, hielt Allende eine letzte Radiorede an das Volk und beging wenig später Selbstmord. Mit der von den USA unterstützten, faschistischen Diktatur Augusto Pinochets, die zudem unter dem wirtschaftlichen Einfluss der Chicago Boys stand, begann daraufhin die dunkle Ära des physischen und ökonomischen Terrors.

Bereits ein Jahr vor dem Putsch analysierte der französische Schriftsteller Régis Debray die angespannte, polarisierte Stimmung in dem Land und schilderte diese im Vorwort seines Buches “Salvador Allende. Der chilenische Weg“. Debrays Ausführungen lassen die Ahnung einer heraufziehenden Katastrophe erkennen. Im Nachhinein klingen seine Worte wie eine Prophezeiung. Ein Auszug aus einem beeindruckenden Zeitdokument:

“Die Liebhaber von Heldenliedern werden gebeten, ihre Ferien anderswo zu verbringen: für die “lyrische Illusion” ist in Chile kein Platz. Auf einem Kontinent, auf dem der letzte Oberst pro Tag drei Reden über die nationale Revolution hält, müssen sich die Chilenen mit einer Regierung begnügen, die sich bescheiden “Volksregierung” nennt. Die feinsinnige Prosa der öffentlichen Reden, der Leitartikel der großen Zeitungen, der Diskussionen im Fernsehen, der Parlamentsdebatten und der großen Polemiken können höchstens den Doktoren des Verfassungsrechts einen Schauer über den Rücken jagen.

Da wird vor allem darüber disputiert, ob dieser Gesetzesentwurf legal ist, ob jenes Nationalisierungsdekret in die Zuständigkeit der Exekutive gehört oder nicht, oder ob die Arbeiter nicht eventuell jenen Verfassungsartikel falsch interpretiert hätten, als sie den Besitzer einer in Konkurs gegangenen Fabrik vor die Tür setzten. Von oben bis unten in der Verwaltungshierarchie, von einem Ende des Landes bis zum anderen beherrscht nichts als eine endlose Advokatendiskussion mit Gesetzesartikeln, Verurteilungen in der ersten Distanz, Entscheidungsgründen, Gegenanträgen und Nichtigkeitsbeschwerden die Szene.

Das Schlüsselwort all dieser Debatten, die von der Bourgeoisie und ihren Kommunikationsmitteln behaglich zu einem nationalen Drama aufgebauscht werden, ist nicht die Revolution, oder die Gerechtigkeit, oder die Befreiung, oder das Proletariat, sondern die Legalität als Tabuwort, als obsessives Leitmotiv, als sichtbarer Einsatz. Da die Rechtsprechung über diese Fragen begrenzt ist, da niemand bisher wirklich weiß, wer die Rolle des Schiedsrichters spielt oder wem das letzte Wort zusteht – der Volksregierung, dem Obersten Gerichtshof, dem Parlament oder vielleicht eines Tages den Interessierten selbst – ist die Verwirrung groß und die Aufmerksamkeit ermüdet rasch.

Dann entdeckt man, daß dieses ganze Schauspiel eine Illusion war und daß die Wirklichkeit hinter diesem Vorhang weder einem Gerichtssaal, noch einem Tribunal, noch einer öffentlichen Diskussion ähnelt, sondern einem Kampfplatz, auf dem sich über das ganze Land hin Augebeutete und Ausbeuter, Bauern und Großgrundbesitzer,  Arbeiter und Trusts, Patrioten und Imperialisten brutal gegenüberstehen.

In Chile wird ein subtiles und gefährliches Spiel gespielt – dessen Härte sich immer weniger hinter dem Anschein jener urbanen Herzlichkeit, die der charakteristische Zug der Chilenen sein soll, verbergen kann. Bis zum Augenblick wenigstens handelt es sich, von einigen Unregelmäßigkeiten abgesehen, um ein “Spiel”. Jede der beiden feindlichen Parteien beobachtet die vorher (von einem der beiden Gegner und zu seinem eigenen Nutzen) festgelegten Regeln, die von beiden Teilen wohl oder übel respektiert werden: die Regeln des freien Spiels der “demokratischen Institutionen”, die in den liberalen Republiken in Kraft sind.

“Die Demokratie kann sich höchstens noch drei Monate halten”

Im bürgerlichen Lager spielt man wenigstens noch das Spiel, auch wenn es erwiesen ist, daß man es nicht ehrlich spielt. Tiefschläge sind erlaubt, werden aber nicht offiziell bewertet; man schließt die Augen. Bis wann? “Die formale bürgerliche Demokratie kann sich höchstens noch drei Monate halten”, sagte vor kurzem ein Revolutionsführer, Senator der Republik. “Dann kommt der Schock.” Über die Prognose kann man reden; der Termin kann sich verschieben.

Sicher ist jedenfalls, daß der Weg von höflichen Haß zu offenen Feindseligkeit kürzer ist, als man auf beiden Seiten geglaubt hat, und daß heute ein merkwürdiger, zerbrechlicher und angespannter Zustand von Waffenruhe herrscht, der nicht ganz und gar Friede ist, ohne schon Krieg zu sein, und der von einem Tag zum anderen beendet werden kann. Der Lauf der Ereignisse beschleunigt sich im selben Maße, wie die Klassengegensätze sich zuspitzen, ohne daß man schon die Art und Weise oder den Augenblick vorhersehen könnte, auf die und in dem sie gelöst werden. Alles geht so vor sich, als stünde man vor einem widersprüchlichen Prozeß, dessen Lösung und Ausgang nicht in den Bedingungen, unter denen er sich bis jetzt entwickelt hat, enthalten sind. Die Krise der Entscheidung ist noch nicht da.

Wenn es nur um den banalsten politischen Augenschein geht, dann hat es keinen revolutionären “Einschnitt” gegeben. Unmöglich, auf den ersten Blick ein “vorher” und ein “nachher” zu entdecken: weder in der Uniform der Carabineros, noch im Blick der Passanten, noch in der Benennung der öffentlichen Gebäude, noch im Ansturm der Automobile zum Strand am Sonnabend – nichts, woraus man entnehmen könnte, daß hier eine neue Welt entstünde. Und dennoch hat, von vorher festgelegten, schwer handzuhabenden, aber unmöglich zu umgehenden Bedingungen aus, eine Schwangerschaft begonnen, von der zu diesem Augenblick keiner sagen kann, ob sie mit der Geburt einer wirklich neuen, von fremder Ausbeutung und Beherrschung befreiten, Gesellschaft enden wird.

Wie schwierig der Weg auch war, Chile scheint in eine unumkehrbare geschichtliche Erfahrung verwickelt: selbst wenn es nicht ans Ziel gelangen sollte, kann man doch nicht sehen, wie es auf seinen Augangspunkt zurückkehren könnte. Dieses Land ist nicht mehr weit davon entfernt, die Gefahrenzone zu betreten, in der das Volk dazu verdammt ist, alles zu gewinnen oder alles zu verlieren (jedenfalls für eine gewisse Zeit), in der es keine halbe Maßnahme, kein so-tun-als-ob vor der historischen Alternative: Revolution oder Gegenrevolution, retten kann.

Der wirkliche Einsatz: vor allem, ohne Frage, die Zukunft der chilenischen Nation und des chilenischen Volkes, die Emanzipation seiner Arbeiter, ihr Zugang zu menschenwürdigen Lebensformen. Daß das chilenische Volk zum Protagonisten seiner eigenen Geschichte wird – das ist das Ziel und das ist außerdem die Bedingung, um ans Ziel zu kommen: ein offenbarer circulus vitiosus, von dem alles abhängt. Das chilenische Volk muß hier und heute beginnen, seine Zukunft in die eigene Hand zu nehmen, wenn es nicht will, daß seine Feinde es morgen, durch brutale Gewalt, um sie bringen, oder sie ihm wie üblich ablisten – zum Beispiel in ein paar Jahren durch den Taschenspielertrick einer Wahl.

Der Tag der Entscheidung scheint in weiter Ferne zu liegen – die Volksregierung ist gerade erst gewählt, und zwar verfassungsmäßig für sechs Jahre – in Wahrheit aber beweist alles, daß die Zeit drängt.

Quelle: Régis Debray: Salvador Allende. Der chilenische Weg, Berlin 1972.

Artikelbild: Richard Espinoza, “Lentes Salvador Allende” (CC BY-SA 3.0)

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