1972

Salvador Allendes zeitlose Anklage

Als der Sozialist und chilenische Präsident Salvador Allende 1972 die folgende, vielbeachtete Rede vor der UNO hielt, ahnte womöglich noch nicht einmal er, wie weitreichend und aktuell sie auch knapp 37 Jahre später sein sollte. Sie war und ist ein Pamphlet gegen die internationale Macht der Konzerne, eine Kampfansage gegen das, was mit dem Aufkommen des Neoliberalismus noch verschärft werden sollte:

-Der Verlust weitreichender nationaler und politischer Gestaltungsmöglichkeiten
-Das Wachstum der Armut
-Die Deutungshoheit der einseitigen Logik des reinen Gewinnstrebens bzw. des ökonomischen Paradigmas
-Das Aufzwingen einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin auf Entwicklungs- und Schwellenländer seitens IWF und Weltbank
-Die Missachtung völkerrechtlicher Souveränität

In der Zeit der Finanzkrise und ihrer Folgen wirkt die pathetische Rede wie eine frühe Mahnung. Der spätere Putsch Augusto Pinochets mit Unterstützung der CIA am 11. September 1973 macht sie tragisch. Hier ein Auszug:

Ich komme aus Chile, einem kleinen Land, wo jedoch jeder Bürger die Freiheit hat, seine Meinung so zu äußern, wie er es für richtig hält, wo uneingeschränkte Toleranz auf kulturellem, religiösem und ideologischem Gebiet besteht und wo Rassendiskriminierung keinen Platz hat; ich komme aus einem Land, dessen Arbeiterklasse in einem einzigen Gewerkschaftsbund vereinigt ist, aus einem Land, wo das allgemeine Wahlrecht und die geheime Wahl die Grundpfeiler eines Vielparteiensystems sind, einem Land, dessen Parlament seit seiner Gründung vor 160 Jahren ohne Unterbrechung tätig gewesen ist, dessen Judikative unabhängig von der Exekutive ist und dessen Verfassung, die praktisch immer in Kraft war, seit 1833 nur einmal abgeändert wurde. (…)

Chile ist jedoch auch ein Land, dessen rückständige Wirtschaft unter die Kontrolle ausländischer kapitalistischer Unternehmen geraten und sogar von ihnen übernommen worden ist, dessen Auslandsschulden auf über vier Milliarden Dollar angeschwollen sind und das für diese jährlich Zins- und Tilgungszahlungen leisten muß, die mehr als 30 Prozent seiner Exporterlöse ausmachen; ein Land mit einer auf auswärtige Ereignisse außerordentlich empfindlich reagierenden, chronisch stagnierenden und inflationären Wirtschaft, wo Millionen Menschen gezwungen worden sind, unter den Bedingungen von Ausbeutung, Elend und offener oder versteckter Arbeitslosigkeit zu leben. Ich komme heute hierher, weil mein Land mit Problemen konfrontiert wird, die aufgrund ihrer weltweiten Bedeutung in dieser Versammlung von den Nationen ständig behandelt werden: nämlich der Kampf um gesellschaftliche Befreiung, das Bemühen um Wohlstand und geistigen Fortschritt und die Verteidigung der nationalen Identität und Würde.

Die Aussicht, der mein Land sich gegenübersah, war, wie in so vielen anderen Ländern der Dritten Welt, das vertraute Muster: Übernahme eines fremden Modernisierungsmodells. Technische Untersuchungen und die tragische Realität haben gezeigt, daß ein solches Modell die unausweichliche Wirkung hat, mehr und mehr Millionen Menschen von jeder Möglichkeit des Fortschritts, des Wohlstands und der sozialen Befreiung auszuschließen und sie zu einem subhumanen Dasein zu verurteilen – ein Modell, das zu noch größerer Wohnungsnot führen und eine ständig wachsende Zahl von Bürgern zu Arbeitslosigkeit, Analphabetentum, Unwissenheit und physischer Not verdammen muß. Mit einem Wort, die Aussichten waren dieselben, die man uns immer schon in den Zeiten der Kolonialisierung und Abhängigkeit aufgezwungen hatte, dieselben, die sich uns boten, als wir noch in den Zeiten des Kalten Kriegs, der offenen Auseinandersetzung oder des Friedens ausgebeutet wurden. (…)

Es ist meine Pflicht, diese Versammlung davon zu unterrichten, daß die Repressionen und die Wirtschaftsblockade (seitens der USA, Anm. der Red.), die in dem Versuch angewandt wurden, eine Kettenreaktion von Schwierigkeiten und wirtschaftlichen Störungen zu verursachen, eine Bedrohung des inneren Friedens und der Koexistenz darstellen.
Sie werden ihre schlechten Absichten jedoch nicht ausführen können. Die große Mehrheit des chilenischen Volkes kann dieser Bedrohung mit Würde und Patriotismus widerstehen. Was ich zu Anfang sagte, wird immer wahr bleiben: Die Geschichte, das Land und das Volk von Chile haben gemeinsam ein tiefes Bewußtsein der nationalen Identität geschaffen.
Unser Problem ist kein isoliertes oder einmaliges Problem: Es ist einfach die lokale Äußerung einer Realität, die über unsere Grenzen hinausgeht und den lateinamerikanischen Kontinent und die ganze Dritte Welt erfaßt. Unterschiedlich stark und mit Abweichungen von Fall zu Fall sind alle Länder an der Peripherie etwas derartigem ausgesetzt. (…)”

Hier ein Videoausschnitt einer seiner Reden:

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Ein Kommentar zu "1972"

  1. rage sagt:

    und ein Jahr später ist der Mann und seine Regierung erschossen.

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