Kunst und Politik – Unvereinbarer Gegensatz

Von der Suche nach Authentizität in der Kunst und dem Zwang zur Oberflächlichkeit im politischen Medienbetrieb.

Bundesarchiv, Bild 183-1982-1002-014 / Franke, Klaus / CC-BY-SA

Von Florian Sander

Zumindest in den Teilen der Welt, in denen sich soziale Exklusion in Grenzen hält, bekleidet jeder Mensch in jedem Funktionssystem der Gesellschaft entweder eine Leistungs- oder eine Publikumsrolle. Unternehmer haben eine Leistungsrolle in der Wirtschaft inne, jeder ist aber irgendwann einmal Konsument und damit in der Publikumsrolle des Wirtschaftssystems. Politiker haben eine Leistungsrolle im politischen System, aber jeder hat alle paar Jahre die Gelegenheit zu wählen. Musiker haben Leistungsrollen im Kunstsystem, aber jeder rezipiert irgendwann einmal Musik, Gemälde oder Bücher. Jeder ist überall Publikum und in einigen wenigen Bereichen auch in Leistungsrollen, die dann seine Profession, seinen Beruf bilden.

Manche haben gar zeitgleich mehrere Professionen inne und bekleiden somit mehrere Leistungsrollen nebeneinander. Manche Abgeordnete etwa führen nebenher eine Kanzlei oder ein mittelständisches Unternehmen. Es soll gar Politiker geben, die zeitgleich im universitären Bereich arbeiten. Es sind verschiedene Kombinationen denkbar. Es existieren jedoch auch Unvereinbarkeiten. Und damit sind nicht nur jene gemeint, die sich aus rechtlichen Normen ergeben, etwa betreffend den verminderten beruflichen Spielraum von Beamten. Nein, die Unvereinbarkeiten berühren auch Dimensionen, die nicht formaljuristischer Natur sind – doppelte Leistungsrollen, die formal rechtens wären und sind, aber in der Konsequenz in ihrer Dopplung nicht mehr ausreichend erfüllbar sind.

Das (unmögliche?) Zusammenspiel von Politik und Kunst ist so ein Bereich. Politische Leistungsrollenträger sind im heutigen, medial überfrachteten Zeitalter einer dauerhaften Beobachtung ausgesetzt, die sehr hohe und sehr spezifische Erwartungen mit sich bringt. Ein Politiker muss nicht einfach nur ein guter Politiker sein. Ein Politiker, der etwas werden, der etwas sein will, muss auch eine gute Privatperson sein. Er darf seine Frau nicht betrügen, er darf keine Charakterfehler haben, er muss rational und doch emotional genug sein, um Sympathien zu erringen, er darf keine Schulden haben, er darf keine Schwächen zeigen und er muss im richtigen Moment aus dem Stand heraus lächeln, lachen, Hände schütteln, Schultern klopfen und Witze reißen können.

Sicher: Jeder weiß eigentlich, dass diejenigen Politiker, die all dies schaffen, dabei kaum authentisch sein können, da sie sonst kaum echte Menschen wären. Andererseits nimmt man diese offenkundige Heuchelei in Kauf – denn trotz der allgemeinen Sehnsucht nach dem „authentischen“ Politiker mit den vielgerühmten „Ecken und Kanten“ wird dieser, sofern er denn mal auftaucht und tatsächlich die seltene Gelegenheit des politischen Aufstiegs erhält, in den seltensten Fällen in die echten Spitzenpositionen gewählt. Letzten Endes will man dann doch lieber den Heuchler, den mit dem Corega-Tabs-Lächeln, den Menschen ohne Fehler.

Künstlerischen Ansprüchen, die über die eher durch Wirtschafts- als durch Kunstlogik definierte Casting-Band-Musikfabrikation für Unterhaltungsmedien hinausgehen, steht diese Anforderung geradezu im Kern entgegen. Zwar ist auch das Kunstsystem nicht durch die Unterscheidung von authentisch / un-authentisch codiert, sondern durch die Unterscheidung von ästhetisch / unästhetisch. Jedoch ist es gerade ein Merkmal von Ästhetik, dass diese ohne die Zurechnung von Authentizität kaum auskommen kann. Plastischer ausgedrückt: Ein Lied, ein Gedicht, ein Bild, ein Theaterstück, ein Film – alle müssen sie, wenn sie als Kunst und nicht bloß als schnödes, von wirtschaftlichen Erwägungen gesteuertes DSDS-mäßiges Entertainment anerkannt worden wollen, so gemeint sein. „Wenn du die Worte nicht meinst, dann bedeuten sie nichts“, heißt es in dem Kurzfilm „MissBerlin – The audition“, der den (inneren) Vorgang des Schauspiels für den Schauspieler selbst reflektiert.

In der Musik ist es nicht anders: Jene Musik gilt als Kunst, die „von Herzen kommt“, die Gefühl vermittelt und nicht pure Technik, die kantig und „roh“ ist und nicht „überproduziert“ und glattgeschliffen-fließbandartig. Große Schriftsteller sind stets die mit Tiefgang, nicht die Fließbandfabrikanten von Trivialliteratur und kitschigen Arztromanen. Diese nämlich bieten in ihren Heile-Welt-Szenarien keine Authentizität – und somit keine künstlerische Ästhetik.

Die Unvereinbarkeiten von Politik und Kunst werden langsam deutlich. Der politische Leistungsrollenträger ist in der Konsequenz auf die Verwischung von Authentizität zwecks Herstellung des Anscheins von Perfektion angewiesen. Der künstlerische Leistungsrollenträger hingegen braucht gerade die Zurechnung von Authentizität, denn ansonsten gilt er als seelenloser Trivial-Fabrikant, der die wahrhaftige Kunst wirtschaftlichen Profitinteressen opfert und damit andere, ernstzunehmende Künstler entwertet und beleidigt.

Je weiter die technische Entwicklung voranschreitet, je größer die Bedeutung von Neuen Medien und besonders sozialen Netzwerken im Internet wird, desto ausgeprägter ist die Beobachtung gerade von politischen, aber auch künstlerischen Leistungsrollenträgern. Und desto deutlicher treten die oben dargestellten Unterschiede somit zu Tage.

Mit Politikern vergleichbare Verhaltensweisen legen insbesondere solche Schauspieler und Musiker an den Tag, welche ohnehin bereits den Ruf der Oberflächlichkeit genießen: Die „Pop-Sternchen“, die Meister des Hollywood-Doppelbussis, des strahlenden Kamera-Lächelns und des Markus-Lanz-tauglichen Smalltalks. Kanten hingegen erlauben sich dagegen diejenigen, die gemeinhin als echte Künstler rezipiert werden – sie lassen Launen, Sympathien, aber eben auch Antipathien frei heraus, sagen, was sie gut und was sie doof finden, lächeln, wenn ihnen danach ist, und lächeln nicht, wenn nicht. Manchmal trifft die Doppelbussi-Welt der Unterhalter auf die Authentizitäts-Welt der Künstler – wie das ausgeht und in welch teilweise grotesk-loriotesken Interaktionssystemen dies endet, konnte man jüngst beim TV-Auftritt Katja Riemanns beobachten. Der Clash zweier Kommunikationssysteme, live und in Farbe.

Und nun stelle man sich dies einmal mit einem Politiker vor! Man stelle sich vor, ein Politiker würde sich erlauben, nicht nur, wie es mit Wolfgang Kubicki immerhin ein prominenter Politiker tut, seine Sympathien und Antipathien klar zu benennen, sondern auch noch, wie Riemann es in einem Akt medialer Emanzipation tat, seinen Stimmungen und somit seinen Gefühlen einfach freien Lauf zu lassen! Einfach mal nicht auf jede noch so dumme Frage antworten. Manche Menschen, Dinge, Sätze, Frisuren, Orte einfach mal doof finden und dies auch offen sagen. Unsympathische Menschen spüren lassen, dass man sie unsympathisch findet. Die politische Karriere wäre von heute auf morgen an ihr Ende gelangt.

Dies sind freilich nur Begleiterscheinungen eines authentischen Künstlerdaseins. Dennoch macht ihr beschriebener Kern auch die Kunst selbst aus: Songtexte, Gedichte, Bücher, Bilder, sie alle drücken Emotionen aus, zeigen also das, was der Politiker nicht offen legen darf, da dies die Nicht-Perfektion seiner Person entblößen würde. Ein Politiker, der in die ernstzunehmende Kunst einsteigt, muss sich dadurch so tief in sein Innerstes blicken lassen, dass dies unweigerlich in seiner medialen Selbstdemontage enden würde: Ein Gedicht über Liebeskummer? Unmöglich. Es würde sogleich Zeitungsartikel regnen, in denen über Eheprobleme des betreffenden Politikers spekuliert wird. Die Inhalte träten noch mehr in den Hintergrund als ohnehin schon. Ein gemaltes Bild zu den Themen Tod, Gott oder Jenseits? Boulevardzeitungen würden öffentlich eine schwere Krankheit diagnostizieren, die die Fortführung der politischen Arbeit natürlich sogleich in Frage stellt. Ein Lied über Sex, Drugs & Rock n Roll? Man würde mindestens Alkoholismus, Fremdgehen und gewalttätige Neigungen unterstellen, was spätestens den nächsten Staatsbesuch zum Spießrutenlauf machen würde.

Je mehr hypothetische Situationen man durchspielt, desto mehr zeigt sich: Es existieren soziale Unvereinbarkeiten ganz abseits von gesetzlichen Verboten. Was die Moral von der Geschichte ist, mag der Leser sich nun fragen. Zwar vertrete ich nicht die Auffassung, dass jede Geschichte so etwas braucht, dennoch soll dieser Aspekt hier nicht vernachlässigt werden. Ich meine: Es täte uns gut, von der Erwartung des perfekten Politikers mit dem Corega-Tabs-Lächeln endlich (wieder) Abstand zu nehmen und ihm Kanten zu erlauben. Denn genau diese Erlaubnis wäre es, die dem Politiker die nötige Freiheit und Unabhängigkeit sichert. Erst dadurch hat er die wirkliche Freiheit, seinem Gewissen zu folgen, sprich: sich unbeliebt zu machen – bei Partei, Fraktion, Journalisten, Lobbyisten. Nur wer auch mal Fehler zeigen darf, handelt am Ende frei.

Ganz abgesehen davon: Es macht auch in psychisch-emotionaler Hinsicht den Kopf frei, sich künstlerisch-kreativ zu betätigen. Den Politikern und dem politischen Betrieb kann dies nur gut tun. Übrigens nicht nur auf EU-, Bundes- oder Landesebene.

Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-1982-1002-014 / Franke, Klaus / CC-BY-SA

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2 Kommentare zu "Kunst und Politik – Unvereinbarer Gegensatz"

  1. Frau Lehmann sagt:

    Natürlich stimmt es, dass es diesen eklatanten Widerspruch zwischen Politik und ernst zu nehmender Kunst gibt, und je autoritärer und ideologisierter Poltik agiert desto größer der Widerspruch. Da heute wirklich alles der Wirtschaft unterworfen ist, nicht zuletzt auch durch politische Entscheidungen befördert, wird es aber auch immer schwieriger als authentischer Künstler bestehen zu können. Ein Merkmal von Kunst sollte ja sein, dass sie subjektiv ist und unabhängig. Nicht selten bedeutet das eben auch, dass Kunst eine menschliche Seite des Lebens, der Gesellschaft aufzeigt, die sich heutzutage nahezu konträr zu macht- und wirtschaftspolitischen Interessen verhält.
    Nicht nur Politikern traue ich daher keine künstlerischen Ambitionen zu, auch Wirtschaftsmagnaten nicht, die sich dann doch wohl eher als selbst ernannte “Kunstkenner” und “Förderer” Kunstsammlungen zulegen.

    Einen Punkt in dem Text wünschte ich mir darum auch etwas tiefgründiger behandelt:

    “Ich meine: Es täte uns gut, von der Erwartung des perfekten Politikers mit dem Corega-Tabs-Lächeln endlich (wieder) Abstand zu nehmen und ihm Kanten zu erlauben. Denn genau diese Erlaubnis wäre es, die dem Politiker die nötige Freiheit und Unabhängigkeit sichert. Erst dadurch hat er die wirkliche Freiheit, seinem Gewissen zu folgen,”

    Wer erwartet denn vom Politiker, dass er nicht authentisch sein darf? Welche Entwicklung hat dazu geführt, dass sich Politiker wohl mehrheitlich nicht mehr an die Klausel, sich in ihren Entscheidungen einzig ihrem eigenen Gewissen verpflichtet zu fühlen, halten? Sind das die Bürger/die Wähler, von denen der Druck auf die Politiker ausgeht? Sind es die “Spender”? Sind es die Politiker selbst? Hat z.B. ein Gerhard Schröder seine Ecken und Kanten etwa nicht gezeigt? Warum hat er dann ganz offensichtlich die Ideale einer sozial(!)demokratischen Partei verraten? Welche Rolle spielen die Medien?
    Ich habe den Eindruck, dass es nicht nur die Politiker sind, die nur noch Eigen-Werbung betreiben (müssen?), sondern dass das mitlerweile fast jeder tun muss, der noch einen einigermaßen sicheren Arbeitsplatz hat. Die (errechenbaren) Modelle, die dem Menschen übergestülpt werden, verunmöglichen meiner Meinung nach regelrecht Kreativität, zumindest die, die nicht selbstverständlich für eine Gewinnsteigerung (für wen auch immer) sorgen kann.
    Mit einer Anspruchshaltung auf Perfektion der Wähler an die Politiker hat das Problem des uns umgebenden “Theaters” meiner Meinung nach eher weniger zu tun, vielleicht aber auch damit, dass sich Entscheidungsträger durch ihre “Shows” jeglicher Verantwortung entziehen können? Diejenigen, die dann öffentlich sozusagen “hingerichtet” werden, sind doch auch nicht die authentischen (die kommen nämlich gar nicht so weit nach oben), sondern allenfalls welche, die stellvertretend für andere als Bauernopfer herhalten müssen, nicht selten mit Hilfe einer Medienkampagne.
    Mir jedenfalls wäre es lieber, ich wüsste, was ich von einem Politiker zu halten habe als mir ständig deren Lügen anzuhören, die manchmal sogar so dreist sind, dass ich mich des Eindruckes nicht erwehren kann, ich würde gar nicht ernst genommen.

    Zum Verhältnis Kunst und Politik hat Reiner Kunze ein schönes Gedicht geschrieben:

    Das Ende der Kunst

    Du darfst nicht, sagte die eule zum auerhahn,
    du darfst nicht die sonne besingen
    Die sonne ist nicht wichtig.

    Der auerhahn nahm
    die sonne aus seinem gedicht

    Du bist ein künstler,
    sagte die eule zum auerhahn

    Und es war schön finster

    • als mir ständig deren Lügen anzuhören, die manchmal sogar so dreist sind, dass ich mich des Eindruckes nicht erwehren kann, ich würde gar nicht ernst genommen.

      Dies ist kein Eindruck, sondern eine Tatsache. Wenn man heute den Politsoziopathen so zuschaut, kann man klar erkennen, dass diese nur für sich und ein kleines Klientel Politik betreiben. Wir das Volk, sind dabei lästig und völlig nebensächlich –bis gar nicht vorhanden.

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