In dem Film “American Reflexxx” machen zwei Künstlerinnen Ressentiments auf der Strasse sichtbar. Doch das Werk ist unentrinnbar gefangen in einem Kulturkampf, die Rezeption determiniert.
“The cyborg is a creature in a post-gender world […] In a sense, the cyborg has no origin story in the Western sense – a ‘final’ irony since the cyborg is also the awful apocalyptic telos of the ‘West’s’ escalating dominations of abstract individuation.” – The Cyborg Manifesto
Ein Cyborg wandelt auf Erden
Vor einigen Monaten lag ich morgens im Bett und scrollte durch Facebook, auf der Suche nach etwas, das mir die Zeit vertreiben könnte, bis ich die Energie gefunden hätte, aufzustehen. Ich fand viel mehr als das. Ich fand American Reflexxx.
Die ersten Bilder des Videos zeigen die Protagonistin: eine schlanke, blonde Frau in enganliegendem, blauen Kleid und neon-gelben Platform-High-Heels. Sie trägt eine silberne Maske. Wo das Gesicht sein sollte, ist nur eine glitzernde Fläche, in der sich das bunte Licht der Umgebung reflektiert. Zu lässiger Musik posiert sie lasziv vor einer Palme, strahlt Würde und Selbstbewusstsein aus.
Dann bricht die Realität ein, die Musik bricht ab und wir befinden uns in der Soundkulisse vom nächtlichen Myrtle Beach, South Carolina. Neben ihr befindet sich plötzlich ein Redneck wie er im Buche steht – oder zumindest, wie wir ihn uns vorstellen: oberkörperfrei, umgedrehte Käppi, Tattoos. Er fragt: “Will you do me in that later?” (Wirst du in der Aufmachung später mit mir Sex haben?). Das Wesen mit der Maske reagiert enstpannt, lässt sich umarmen und ein Foto machen, schiebt ihn dann weg und geht weiter. Dann der Moment in dem der Mann endlich den warnenden Ruf eines Mädchens hört: “She is a He!” Er stöhnt entsetzt, doch das Wesen ist schon auf ihrem Weg und reagiert nicht.
Das etwa 15-Minütige Video zeigt das Wesen, wie es sich von der Kamera verfolgt durch die überfüllten Straßen bewegt. Es gibt keine Schnitte, aber der Film ist stark bearbeitet: einige Passagen sind extrem beschleunigt, andere verlangsamt oder abgehackt und verzerrt. Das Wesen bleibt die ganze Zeit stumm und ins eigentliche Zentrum der Wahrnehmung rücken dann die Menschen und wie sie auf das Wesen reagieren. Myrtle Beach ist ein beliebter Urlaubsort an der Küste von South Carolina, und das Video spielt sich in einer Art von Vergnügungsviertel ab. Dementsprechend viele Menschen sind auf der Straße, die meisten von ihnen Teenager, viele Schwarze, aber vor allem solche, die zu dem Label passen, mit dem Myrtle Beach gerne belegt wird: “Redneck Riviera.”
Überall wohin es geht, ist das Wesen eine Sensation. Alle drehen sich um und immer wieder bilden sich Gruppen aufgekratzter Teenager, die ihm eine Weile folgen und mit dem Handy filmen. Immer wird lauthals gerätselt, was das ganze soll – und vor allem: ist es ein Mann?
“What is she doing, or is that a Dude, what’s up with that?”
“That’s a dude, right?”
“Allright, that’s a Fuccboi!”
“It’s a SHIM!”
(Einer gibt aber auch den abgeklärten Kommentar: “Pretentious High Art!”)
Das Wesen bleibt stumm. Es reagiert nicht, sondern schreitet würdevoll und anmutig durch die Menge. Es will nichts und erwartet nichts – es ist mit sich zufrieden und beschränkt sich darauf, die Menge mit seiner Anwesenheit zu segnen.
Die souveräne Würde des Wesens steht im starken Kontrast zu all den Menschen, die nicht anders können, als ihm zu folgen. Es ist ein Freak, ohne Frage, allein die Maske reicht dafür aus. Und die Kamera, die es verfolgt, macht es zu einem Spektakel, etwas Besonderem mit irgendeiner Absicht. Klar also, dass aufgeregte Teenager, vielleicht betrunken, sich damit beschäftigen werden. Doch die Reaktionen der Menschen gehen über dieses zu erwartende Maß hinaus. Es ist, als wäre ein Wesen einer anderen Ordnung auf Myrtle Beach hinabgestiegen, das eine geheimnisvolle Wirkung ausübt, der man sich nicht entziehen kann.
Einen ersten Höhepunkt erreicht das Video etwa zu der Hälfte, als ein Straßenprediger das Wesen bemerkt, auf es zuläuft und dabei lauthals predigt:
“And he says that you know that he came to take the weight of our sins
he who sins is of the devilllll
it is time to turn away from your ungodliness
he says to flee from this youthful lust
but the bible says
they mock against god”
Seine Worte werden durch die Untertitel hervorgehoben und in besonders dramatischen Momenten verstärkt und verlangsamt, während das Wesen zu sehen ist, wie es sich lustvoll unter der Verdammung windet.
“and the bible says
god will laugh at your calamity
hes gonna laugh and mock at your destruction
and he will send down fire
from heaven
to BURN SINNERS UP”
Die Predigt hat einen Effekt auf das Wesen, aber es ist schwer zu sagen welchen. Es scheint sie zu genießen und als Anlass zu nehmen, in seiner Sünde zu schwelgen. Oder aber es genießt die Predigt für das was sie ist – und nimmt ihre Bedeutung an.
Ein religiöser Mensch aus früheren Zeiten – sagen wir dem Mittelalter, wo die Vorstellung von konzeptueller Performance-Kunst noch nicht so verbreitet war – würde das Wesen zweifellos als eine höhere Existenzform wahrnehmen, einen Engel vielleicht. Einen Boten aus einer anderen Welt, der zu den Menschen hinabgestiegen ist, um sie am Glanz seines Lichts teilhaben zu lassen. Das Wesen schwebt über dem Ressentiment und der provinziellen Sensationsgier der Massen. Es zeigt ihnen, allein durch seine Präsenz, die Möglichkeiten einer freischwebenden Existenz, in der die bei der Geburt gegebenen Identität aufgelöst wird und durch ein souveränes, selbstbestimmtes Spiel ersetzt wird. Das Wesen zeigt den Sündigern die Schönheit der Freiheit (Wie das Wesen zum strafendem Gott steht, wissen wir nicht).
Bis zu einem gewissen Punkt ist, von dem Prediger abgesehen, der Einzige, der wirklich feindselig auf das Wesen reagiert, einer dieser kostümierten Darsteller, wie es sie überall gibt, wo Touristen zu finden sind. Wie viele andere denkt auch er, das Wesen sei lediglich ein neuer Performer und regt sich darüber auf, dass es sich in seinem Gebiet herumtreibt und die Aufmerksamkeit der Kunden abgreift.
Die meisten bleiben entspannt, wollen Fotos machen oder wollen einfach wissen, was das ganze soll. Doch irgendwann kippt die Stimmung, jemand aus der Menge bespritzt das Wesen mit Wasser, eine Plastikflasche fliegt. Ein kleines, dickes Mädchen tut sich besonders hervor, rennt immer wieder an dem Wesen vorbei und versucht es zu berühren. Es lacht, will beweisen, dass es keine Angst hat.
Zum Ende hin wächst die Menge, es wird so voll, dass das Wesen teilweise im Gewirr verschwindet. Dann irgendwann in einem ruhigeren Moment ist das kleine, dicke Mädchen wieder da. Es läuft langsam neben dem Wesen und versucht ihm dann, ein Bein zu stellen. Das funktioniert nicht ganz, doch das Wesen reagiert. Es dreht sich um und läuft ruhig dem lachenden Mädchen hinterher, das sich erschreckt und wegrennt. Die Wirkung auf die umgebenden Jugendlichen ist bemerkenswert: einige kreischen, alle weichen zurück. Sie scheinen sich tatsächlich zu fürchten. Natürlich haben sie nicht wirklich Angst, es ist eher ein Gruseln und instinktives Erschrecken. Die Mutter des kleinen, dicken Mädchens läuft hinter dem Wesen her, versucht ihre flüchtende Tochter einzufangen. Sie sieht wirklich bemerkenswert genauso aus wie eine größere Version ihrer Tochter: klein, dick, blond, rot von der Sonne.
Nach dieser kurzen Demonstration seiner Macht wendet sich das Wesen wieder ab und geht weiter seinen Weg. Dann passiert es: die Mutter kommt von hinten angerannt, schubst das Wesen und läuft weg. Das Wesen fällt und liegt am Boden. Das Video spult zurück und die Szene wird in Zeitlupe wiederholt. Das Wesen liegt am Boden und bewegt sich nicht, als wäre es tot. Die Menschen stehen herum, schauen es an und filmen mit ihren Handys, bis ihr endlich jemand hoch helfen möchte. Doch das Wesen steht von alleine auf, es geht ihm gut. Es geht.
Die Meute hat Blut geleckt und eine große Traube Teenager folgt dem Wesen weiter, lachend und kreischend, die Grenzüberschreitung genießend. Doch das Wesen ist nicht von seinem Thron gestoßen, wie es den Anschein hat. Es dreht sich noch einmal um und schlägt seine High-Heels aneinander um die Menschen zu vertreiben. Und sie rennen tatsächlich weg.
Am Ende steht das Wesen triumphal und bewegungslos vor uns. Es hat seine Schuhe wieder an. Die Musik vom Anfang läuft wieder und langsam gleitet die Kamera von oben nach unten über seinen Körper. Ein Rinnsal Blut ist an seinem Knie.
Eindringen eines Fremdkörpers
Ich habe mir das Video direkt noch einmal angesehen. Die Farben, der Rhythmus, die Manipulation von Ton und Video: es ist wunderschön, keine Frage. Doch ebenso ist es die besondere amerikanische Szenerie und vor allem die Statisten des Videos, die Ureinwohner der Redneck Riviera, die zu dieser Schönheit beitragen. Das wirklich Besondere an American Reflexxx ist nicht zuletzt die explosive Reaktion, die das Eindringen eines Fremdkörpers in diese spezielle Umgebung hervorruft.
Die Menschen sind wie durch eine unsichtbare Kraft dazu gezwungen, sich zu dem Wesen zu verhalten (abgesehen natürlich von den unzähligen Passanten, die ihm keine Beachtung schenken). Einige nehmen seine frohe Botschaft an und bewundern es mit dem Respekt, der ihm zusteht. Aber schließlich siegen Wut und Ressentiment. Die Menschen attackieren das Vehikel ihrer Erlösung, das ihnen so schmerzhaft einen Spiegel vorhält. Doch ich bin mir sicher, das Wesen nimmt es ihnen nicht übel. Groll ist etwas für Sterbliche.
American Reflexxx war zuerst bei der Miami Art Basel gezeigt worden, schlug aber in der Kunstwelt keine besonders großen Wellen. Erst als sich die Macher nach zwei Jahren entschlossen, das Video auf Youtube zugänglich zu machen und eine eigene Website dafür zu schaffen, hat es größere Aufmerksamkeit bekommen. Doch es waren nicht unbedingt seine ästhetischen Qualitäten, die es zu einer Art Internetsensation machten. Viele begeisterte Blogposts warnten zum Beispiel vor der einzigen Schwäche des Videos, dem merkwürdigen Editing, dass es so anstrengend machte, es sich anzuschauen.
Der Grund dafür, dass viele Internetseiten darüber schrieben und das Video heute 1,5 Millionen Klicks auf You-Tube hat, war seine politische Bedeutung. Es zeigte nämlich jemanden, der aufgrund sexueller oder sonstiger Differenz zum Opfer von Belästigung und Gewalt geworden war. Oder, wie VICE es im Titel zu ihrem Artikel ausdrückt: “Watch Transphobia Fuel an Angry, Violent Mob in Myrtle Beach.” Ein Kommentator auf der eigens eingerichteten American Reflexxx Website schreibt: “I see humans but no humanity.” Der Tenor ist: im Video ist die wahre, rohe Seele Amerikas zu sehen, in Form eines entmenschlichten Mobs, der aus tiefstem Instinkt das Andere hasst und es zerstören möchte.
Wie die Macher in einem Interview beteuern, war es ursprünglich nicht ihre Absicht gewesen, ein Werk über “dehumanization, mob mentality, or violence” zu machen, doch genau das sei dabei herausgekommen.
Alchemie des kulturellen Kapitals
Die Macher heißen Alli Coates, die gefilmt hat, und Signe Pierce, die Performance-Künstlerin, die das Wesen spielt (und – nebenbei – eine Frau ist). Sie sind außerdem ein Paar. Alli Coates wird wahlweise als Designerin, Media-Artist oder “creative Ninja” bezeichnet und arbeitet als Kreative für alles, wo sich auf hohem Niveau Werbung und Mode, Marketing und Grafikdesign trifft. Auf ihrer Website bewirbt sie unter anderem folgende Dienstleistungen: Brand Identity, Market Strategy, Style Guides, Digital Advertising, Creative Direction, Photography.
Schaut man sich den Internetauftritt der beiden an, entsteht für den Leihen zuerst der Eindruck einer grenzenlos coolen Zeitgenössigkeit, wie es sich für aufstrebende Kreative gehört. Viel Internetkultur und grell pinke Selbststilisierung, inklusive durchgestylter Fotos der Künstlerinnen. Letzteres gipfelt in einer Homestory in Papermag, die ihnen der Erfolg von American Reflexxx eingebracht hat. Dort wird auch das surrealle Haus portratiert wird, das dieses “power-couple” in L.A. bewohnt. Die Foto-Reihe ist eher ein Mode-Shoot und zeigt einen pinken, bis ins letzte Detail durchdachten Life-Style Kosmos. Am auffälligsten waren die demonstrativ hässlichen Klamotten, die merkwürdigen Motorradhosen und pinken Tussi-Kappen. Das ist die erstaunliche Alchemie des kulturellen Kapitals, in der sich noch die trashigste white-girl-culture – in den richtigen Händen – in die Zeichen höchster Kultiviertheit verwandelt.
Kontrastiert man die betont barbyhafte Selbstdarstellung mit der selbst gewählten Bezeichnung “Cyberfeministen”, wird deutlich, dass diese Menschen tatsächlich leben, was Kulturwissenschaftler und Artist-Statements uns laufend predigen. In der Aneignung eines endlosen Strudels kultureller Zeichen erreichen sie den heiligen Gral einer performativen Identität. Das Material für dieses Spiel stammt aus den trashigsten Gefilden der Pop- und Internetkultur, wird aber durch fortschrittlichste Theorie diszipliniert, um den richtigen Zwecken zu dienen: Souveränität, Selbstbestimming, empowerment. Niederen kulturellen Formationen wie der Barby-Feminität wird in diesem Prozess das gewisse obszöne Etwas genommen und in dem souveränen Spiel kundiger Geister entschärft. Cyberfeminismus + Pamela Anderson. Dieses ästhetische-theoretische Programm wird in einer der wenigen Kommentare formuliert, den die Künstlerinnen zu ihrer Homestory geben:
“In our home we have artwork by a few artists that work with cyberfeminist themes, such as graphic design duo Sarah Faith & Nicole Killian and photographer Elizabeth Renstrom. Pam Anderson is the centerpiece of our shrine. The female form is beautiful and should be celebrated rather than shamed, and Pam is a great representation of unapologetic, unabashed femininity.”
In diesem Licht macht es Sinn, dass sich die Künstlerinnen ausgerechnet Myrtle Beach für ihr Video ausgesucht haben, ist dort doch genau jene charmante White-Trash Kultur zuhause, die die Bausteine für ihr Spiel liefert. Eigentlich wollten sie nur “film something ‘pretty’ with the cyborg. We expected to create a video portrait of this character walking about in this spectacle of lights, excess, and Americana vacation aesthetics” (Artnews Interview).
Doch die Künstlerinnen sind sich bewusst, dass die hübsche Ästhetik des trashes nicht ohne seinen obszönen Überschuss zu haben ist, einem ausgesprochenen Mangel an Progressivität nämlich: “SC is one of the most radically conservative states in the country, and Myrtle Beach in particular really interests me because there is a church on every corner and a strip club on every other corner.” Dies ist aber nur ein weiterer Grund, dort zu drehen: “Since it’s a vacation town, it attracts all walks of life, but the traditional heteronormative patriarchy has a real stronghold on day-to-day life. It seemed ripe for art making.”
Das Werk wird also zu einem Vehikel des sozialen Fortschritts, in dem die verkrusteten, ideologischen Strukturen von Myrtle Beach aufgebrochen werden. Dieser Linie folgend wird in Kommentaren gelegentlich darauf hingewiesen, mit welcher Art Menschen man es hier zu tun hat, die die erzieherische Wirkung des Kunstwerkes so dringend nötig haben. Myrtle Beach ist “bro-clogged” (Papermag) und “[is] showing a definitive reluctance to adapt to more progressive ideologies.” (Rhizome.com) VICE schreibt, das Werk ist “a mirror of society. Well, at least a certain part of society.”
Das Verhältnis des Künstlers zu diesem beklagenswerten “gewissen Teil der Gesellschaft” also ist ein paternalistisch-aufklärerisches. Zu den Absichten des Filmes heißt es: “It starts and ends with education and tolerance. I know I’m preaching to the choir here, but it’s true, and it’s the biggest message we wanted people to take away from this film.” Diese Art aktivistischer Kunst ist vielleicht nichts Außergewöhnliches. Doch selten befinden sich Künstler und die Objekte ihrer transformatorischen Bemühungen in einem so direkten Verhältnis wie bei American Reflexxx.
Zwei Pole des sozialen Feldes
In American Reflexxx stehen sich zwei Pole des amerikanischen sozialen Feldes gegenüber. Hinter der Kamera und hinter der Maske befinden sich Vertreter einer quasi-meritokratischen Elite, deren Position durch laufende Optimierung des eigenen Humankapitals gewährleistet werden muss. Auf der anderen Seite steht der “Mob”, der Trash von Myrtle Beach, die Verkörperung der Durchschnittlichkeit. Es gibt soziale Hierarchien, die von materiellen Privilegien und Zugang zu Ressourcen bestimmt werden.
Und dann gibt es vielfältige imaginierte oder kulturelle Hierarchien. Man muss nicht so weit gehen und vom Fetisch des jungen kreativen Menschen zu sprechen, um zu erkennen, dass die Künstlerinnen in jeder Hinsicht oben sind. Ein unglaublich erfolgreicher Kreativmensch, der außerdem als Model in seinen eigenen Fotos erscheinen kann: Dies sind die unheimlichen Höhen der Perfektion, die Alli Coates erklommen hat. Wertvolles Humankapital also.
Neben dem exorbitanten Wert der eigenen Arbeitskraft und den Skills, diese bestmöglichst an den Mann zu bringen, braucht es eine Reihe von Haltungen und Verhaltensweisen, die man als das kulturelle Kapital der modernen kosmopolitischen Elite bezeichnen könnte. Dieses besteht zum einen aus einer Reihe progressiver gesellschaftspolitischer Ansichten, die sich vor allem um den Begriff der Toleranz gruppieren. Das ist die Mindestvorraussetzung.
Darüber hinaus geht es um ein Verhältnis zur eigenen Identität, in dem sich die frei selbstgeleitete Disziplin spiegelt, die die Vorraussetzung der Karriere geworden ist. Das Ideal, wie es zumeist nur von besonders fortschrittlichen Spezialisten in der kulturellen Sphäre gelebt wird, ist eine fluide Identität, die die geerdeten Parameter der gegebenen sozialen Existenz (Geschlecht, Nationalität, soziale Schicht) hinter sich lässt und durch ein eklektisches Spiel mit kulturellen Zeichen ersetzt.
Post-Gender oder das Verleugnen der eigenen Identität
Das Wesen, das in American Reflexxx zu sehen ist, ist in all seiner freischwebenden Ambiguität und Glätte, die jeden „wirklichen Kern“ der eigenen Identität verleugnen, ein perfektes Bild für dieses Ideal. Ebenso passend ist die Metaphor des Cyborgs, wie sie im berühmten „Cyborg Manifesto“ entworfen wird, auf dass sich die Künstlerinnen explizit als Inspiration berufen: „The cyborg is a creature in a post-gender world […] an ultimate self untied at last from all dependency, a man in space.“
In einem Interview wird deutlich, wie Coates und Pierce die Überwindung der altmodischen, binären Identitäten als teleologischer Fortschritt verstehen, als eine begrüßenswerte, aber vor allem notwendige Anpassung an die sich wandelnden Zeichen der Zeit.
„I’m always inspired by reading about burgeoning concepts of identity in posthumanism before technology and the internet really hit. I love science fiction for this reason. Cyborg Manifesto was prophetic in its ability to succinctly describe an ideology that I and many of my friends relate to 30 years after it was written. […] I’m curious as to what’s next in terms of how we talk about and address gender. We immediately assign and assume people as male & female and, in a transgender world, the concept feels increasingly dated, binary, and exclusive.“
Abgesehen von den physischen Attacken auf das Wesen, war die entscheidende Grenzüberschreitung des „Mobs“, die von Kommentatoren und den Künstlerinnen bemängelt worden ist, die Tatsache, dass sie die Ambiguität der sexuellen Identität des Cyborgs nicht akzeptieren konnten. Eindeutig fehlte ihnen die Lässigkeit und Souveränität, die in diesen Fragen in guter Gesellschaft vorausgesetzt werden. Vielmehr waren sie sichtlich irritiert und wütend und verlangten immer wieder die entscheidende Frage beantwortet zu bekommen: Mann oder Frau? Es ist ihre Rückständigkeit, die schockiert.
Im Fall des kleinen, dicken Mädchens und ihrer kleinen, dicken Mutter ist es schon ihr Äußeres, dass sie eindeutig in eine bestimmte soziale Kategorie platziert, in jenen „gewissen Teil der Gesellschaft,“ den unteren nämlich. Im Kontext von American Reflexxx erscheinen sie in jeder Hinsicht als das Gegenbild der schwebenden, progressiven Elite: schwer und voll Ressentiment.
Die “schweigende Mehrheit”
Die unüberbrückbare Distanz, die in American Reflexxx dramatisiert wird, spiegelt eine echte soziale Kluft in der Amerikanischen Gesellschaft wider, die seit Jahrzehnten die Politik bestimmt. Sie hat ihren Ursprung in den späten 60ern, als Richard Nixon sich an die „schweigende Mehrheit“ wandte, an all die einfachen Menschen und “echten” Amerikaner, die mit Horror zusahen, wie eine arrogante, liberale Elite vor verrückten Hippies, radikalen Studenten und militanten Schwarzen kapitulierte.
Die bis heute unermüdlich vorgetragene Litanei der Konservativen, eine liberale Kultur- und Medienelite habe sich vom konservativen gesellschaftlichen Mainstream entfernt, hatte in dieser Zeit noch einen gewissen Bezug zur Realität. Die Konservativen waren eine marginalisierte Randgruppe geworden. Der gesellschaftliche Konsens war, dass sich die amerikanische Gesellschaft auf den Wellen der Bürgerrechtsbewegung auf eine moderat-progressive Zukunft zu bewege. Als das Debakel in Vietnam immer erschreckender und der Zorn der schwarzen Ghettos heftiger wurde, stimmte das liberale Establishment zwar nicht direkt ein in den Chor der wütenden Stimmen, verordnete Amerika und allem wofür es stand aber zumindest mitfühlende Demut.
Wenige ahnten damals, wie erfolgreich Richard Nixons neu geschaffene konservative Koalition sein würde. Nixon moblisierte das Ressentiment all jener, die das Gefühl hatten die kulturellen Eliten, die mit der counter-culture flirteten, hätten nichts als Verachtung übrig für die einfachen, traditionellen Leben, die sie führten, während sie gleichzeitig ihre Sorgen vor der zu schnellen Rassenintegration und der wachsenden Unordnung und Kriminalität im Land als reaktionär oder rassistisch beiseite wischten. (Was es natürlich war…)
Bis heute pflegen Konservative einen rhetorischen Populismus und sprechen von „liberal elites“ oder „coastal elites“ als Gegensatz zum „heartland“, wo die Menschen noch an die traditionellen amerikanischen Werte der Schulgebete und niedrigen Spitzensteuersätze glauben. Doch die Abneigung ist nicht nur einseitig. Vor allem unter gebildeten liberals gehört die offene Verachtung für die Dummheit und die engen, religiös geprägten Weltbilder des konservativen Fußvolkes zum Standardreportoire der gesellschaftspolitischen Emotionen. Zwar sind Amerikaner sehr sensibel, was verletzende oder unkorrekte Äußerungen über gesellschaftliche Gruppen angeht. Diese höflichen Hemmungen werden aber über Bord geworfen, wenn es um den Fox-News guckenden, fetten, ignoranten White Trash geht.
Der Redneck als Protagonist des Horror-Genres
Der Hippie-Klassiker Easy Rider ist eine frühe Darstellung dieses Horrors, den die höflichen Schichten empfinden, wenn sie von den Küsten landeinwärts schauen. Damals begann sich dieser kulturelle Graben zu öffnen und politische Bedeutung zu entfalten. Heute ist er aus der amerikanischen Politik nicht mehr wegzudenken und wird vor allem von den Konservativen aggressiv kultiviert. In Easy Rider geht es um Biker, die von Kalifornien nach New Orleans durch das amerikanische Hinterland unterwegs sind und ihre Freak-Flagge fliegen lassen. Am Ende des Films werden die beiden Biker plötzlich von ein Paar Rednecks in einem Pick-Up Truck verfolgt, die wild und unartikuliert grölen und dann mit der Schrotflinte einen der Protagonisten vom Motorrad schiessen.
Diese Szene mag auf dem ersten Blick seltsam anmuten – ein bischen aus heiterem Himmel. Schaut man sich die Zeit aber genauer an, versteht man was dort gezeigt wird: es ist das Entsetzen – und die Furcht – mit dem die hippen und progressiven Teile der Gesellschaft damals auf ihre mörderischen, rassistischen, Nixon-wählenden und den Vietnamkrieg feiernden Landsleute blickten.
Ohne den ganzen counter-culture Firlefanz wird das selbe Motiv einige Jahre später in Texas Chainsaw Massacre wiederholt, einem der Gründungsfilme des Horror-Genres. Tatsächlich wurde in diesem Film ein narratives Muster etabliert, das die meisten späteren amerikanischen Horrofilme nur variierten: eine Gruppe junger, gesunder Mittelschichtsmenschen verirrt sich in das Territorium der degenerierten Hinterwäldler und wird geschlachtet.
Wie es in der amerikanischen Kultur oft der Fall ist, lässt sich von den Körpern der Menschen direkt auf den Zustand ihrer Seele schließen. Die dünnen, hübschen Protagonisten verkörpern naive Gutmütigkeit und die vernünftige Höflichkeit der Mittelschicht. Ihre grotesk degenerierten Schlächter verkörpern – das Gegenteil. In Texas Chainsaw Massacre ist es allein die etwas traurige Figur des im Rollstuhl sitzenden fünftem Rads am Wagen, die eine gewisse Faszination für die abstoßenden Rednecks zeigt. Ein sicheres Zeichen, meiner Meinung nach, dass dem Film zufolge das Ressentiment der zu kurz gekommenen viel mit ihrer Barbarei zu tun hat.
Verengter politischer Horizont
Doch die Wahrnehmung dieser kulturellen Distanz wird von einem verengten politischen Horizont geprägt, der den Gegensatz zwischen Elite und „einfachen Menschen“ unausweichlich heraufzubeschwören scheint. Man muss sich die Frage stellen, was für ein gesellschaftspolitisches Programm hinter der Annahme steht, Sexismus und Intoleranz sei eine Funktion der Rückständigkeit der niederen Stände.
Ich habe zu Beginn davon gesprochen, dass der Cyborg von American Reflexxx wie ein Wesen einer höheren Ordnung erscheint. Es wandelt unter Menschen, die sich so grundsätzlich von ihm unterscheiden, als würden sie einen völlig anderen sozialen Raum entstammen. American Reflexxx ist vor allem die Ästhetisierung dieser Distanz. Das Verhältnis des Wesens zu diesen Menschen ist zum einen befremdete Faszination, aber vor allem ein paternalistisches: es hegt die Hoffnung, der Mob würde durch die Macht seines Vorbildes irgendwann selbst die Höhen der Zivilisation erklimmen, in denen der Cyborg zuhause ist.
Dieses Bild errinert an eine ältere Zeit des Liberalismus, in dem eine aufgeklärte liberale Elite mit ähnlich guten Absichten und ähnlicher Bestürzung auf eine unkultivierte Unterschicht blickte, von der sie ein scheinbar unüberbrückbarer Abgrund trennte.
Der schwerelose Cyborg, der über den in ihren traditionellen Identitäten verwurzelten Menschen schwebt, ist eine Metapher für eine moderne, globale Elite, die sich von ihren lokalen kulturellen Kontexten gelöst hat und in einer kosmopolitischen Kultur der Fortschrittlichkeit aufgegangen ist[1]. Die Legitimation für die Privilegien und die Macht dieser Menschen ergibt sich entscheidend aus ihre Teilhabe an dem universellen Wissen und der offenen Kultur der Toleranz, mit der sie an den Elite-Universitäten dieser Welt ausgestatten werden und die sie über die Ignoranz und die partikulären Leidenschaften ihrer Landsleute erhebt. Der indische Intellektuelle Pankaj Mishra beschrieb diese Schicht folgendermaßen:
„Ich verbinde damit vor allem Technokratie: Eliten, die uns sagen, wie wir zu leben haben, Experten, die sich unsere Wirtschaftspolitik ausdenken, aber auch Intellektuelle und Medienschaffende, die eng mit diesen technokratischen Eliten zusammenarbeiten und von den gleichen Grundannahmen ausgehen. Diese Menschen wurden alle auf eine bestimmte Weise ausgebildet, in den gleichen Bildungseinrichtungen. Sie stammen nicht zwangsläufig aus westlichen Ländern, werden aber „westlich“ ausgebildet. Die Mehrheit der Vertreter der indonesischen Elite zum Beispiel hat in den USA studiert. Dasselbe gilt für Taiwan. Und die nächste Generation der chinesischen Elite wird zurzeit in Harvard und Cambridge ausgebildet. Vor hundert Jahren dominierte diese technokratische Elite nur einen kleinen Teil der Welt – vorrangig im Westen. Heute hat sie fast überall die Vorherrschaft errungen.“
Dies ist nur eine mögliche Interpretation eines vieldeutigen Kunstwerkes, das selbstverständlich nicht den Absichten der Künstlerinnen entspricht. Denn die sind – wie gesagt – gut. Aber American Reflexxx ist unentrinnbar gefangen in einem gesamtgesellschaftlichem Zusammenhang, der die Bedeutung des Werkes färbt und seine Rezeption determiniert. Dieser Kontext ist ein festgefahrener, gesellschaftspolitischer Diskurs, dessen progressiver Horizont nicht über von der kreativen Elite entworfenen, innovativen Erziehungsmassnahmen hinausgeht.
Das traurige Spiel der gegenwärtigen Politik, das sich immer nur um die beiden Pole des reaktionären Ressentiments und der wohlmeinenden Freiheit und Toleranz dreht, ist vor allem bestimmt von einer Abwesenheit, einem echten dritten Weg. Etwas fehlt.
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Ein Kommentar zu "American Reflexxx
“Die wahre, rohe Seele Amerikas”"